»Zu einem vollkommenen Menschen gehört die Kraft des Denkens, die Kraft des Willens, die Kraft des Herzens.«
Ludwig Feuerbach, PHILOSOPH UND ANTHROPOSOPH
Unser Herz – Sitz der Seele?
In der antiken Welt war der Mensch eingebettet in das Gefüge Religion, Götterwesen, dem Übersinnlichen, Jenseitigen mehr verbunden als dem Erdenleben. Das Leben und dessen Erscheinungen wurden viel träumerischer gesehen und gefühlt. Die Einheit des Daseins spiegelte sich eindrucksvoll in der Tatsache, dass Arzt, Lehrer und Priester in einer Person wirkten. Das ganze Wesen der Medizinmänner beruhte auf starker Suggestionskraft; durch bestimmte Riten konnte der Mensch gesunden, Krankheiten wurden als Strafe der Götter verstanden.
Im alten Ägypten
Das Herz galt den Ägyptern als das wichtigste Organ. Mit ihm war der Mensch in der Lage, das eigene Sein zu erleben. Die Ägypter hatten auch klare Vorstellungen von der Aufgabe des Herzens. Ähnlich dem Hauptfluss Nil, der mit seinen Wasserwegen das Land versorgte, sollten vom Herzen Gefäße in die Peripherie reichen, um Nährstoffe zu- und anfallende Giftstoffe auszuleiten. Eine erstaunlich moderne Erkenntnis in einer Zeit, in der die Sektionskunde und Anatomie noch in den Kinderschuhen stecken.
Nach dem Tod wurden im alten Ägypten die Verstorbenen einbalsamiert, das Herz entnommen und präpariert. Im Gegenzug erhielt der Leichnam als Grabbeilage einen Edelstein in Form eines Skarabäus. Dieser Käfer hatte bei den Ägyptern eine große Bedeutung, galt er doch als Sinnbild der Metamorphose, also einer Um- oder Verwandlung. Die Ägypter waren überzeugt, dass der Verstorbene seine zu Lebzeiten ausgeübten Aufgaben nach dem Tode weiterführe – allerdings mit anderen Mitteln: Der Verstorbene konnte sich je nach Beurteilung eines »Gerichts«, das seine Lebensleistung bewertete, zum Weiterleben wandeln – oder dem endgültigen Tod anheimfallen.
Betrachtet man den Skarabäus genauer, fällt die Ähnlichkeit mit der Herzform auf. Man erkennt die rechte und linke Hälfte und die Abgrenzung von Herzvorhöfen und -kammern.
Symbol der Liebe
Hippokrates, den wir Ärzte als unseren Berufs-Ahnherrn sehen, war der Erste, der lehrte, dass der Mensch in erster Linie für sein Wohlbefinden selbst verantwortlich sei. Er wirkte auf der griechischen Insel Kos im Asklepion, eine Art prämodernem Rehazentrum. Hippokrates war für die Diätetik verantwortlich. Nicht vergleichbar mit Mayo-, Atkinson- oder Brigitte-Diät Nr. 120. Das ursprüngliche Wort Diaita beschreibt die gesamte Lebenshygiene: Rhythmus von Anspannung und Entspannung, Arbeitswelt, Ernährung (seinerzeit in der Vor-Fast-Food-Zeit ein großes Thema), Körperpflege sowie körperlicher Betätigung.
Hippokrates selbst sagte zu diesem Thema, geradezu modern:
»Lasst eure Nahrungsmittel eure Heilmittel sein.«
Den Organen, soweit sie den Gelehrten bekannt waren, wurden besondere Aufgaben zugeschrieben. Dem menschlichen Herzen wurde eine zentrale Bedeutung für das gesamte Leben beigemessen. Es galt als Ort und Symbol für Seelenqualitäten wie Empfindung, Gefühl und Liebe.
Unter anderem finden sich dazu Beispiele in der Bibel und bei Augustinus. Paulus schreibt in seinem Brief an die Römer:
»Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.« (Römer 5,5). Eine hoffnungsfrohe Botschaft, die ausdrückt, dass der Geist und die Herzensliebe eng zusammengehören.
Der große Kirchenvater Augustinus beschreibt – vor seiner Bekehrung zum christlichen Gott – den Zustand seines Herzens folgendermaßen:
»Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.«
Er ließ sich Ostern 387 taufen, wandte sich damit endgültig von seinem bisherigen »lebendigen« Lebensstil ab.
Denken mit dem Herzen
Das Herz wurde viele Jahrhunderte lang als Sitz der Vernunft, des Denkens und des Reflektierens verstanden. Des Denkens? Das ist für unser heutiges Verständnis unbestritten die Domäne des Gehirns.
Natürlich kannte man in der Antike die Gehirnfunktionen noch nicht im Detail. Gedanken und Ideen entstünden nach Meinung der Gelehrten im Herzen, die Zunge wiederhole anschließend das, was das Herz erdachte.
Klingt das wirklich fremd für unsere Ohren? Erinnern Sie sich an den Satz aus dem Volksmund: »Das Herz auf der Zunge tragen«? Damit meinen wir das spontane, also nicht abwägende und durchdachte Aussprechen eines mehr oder weniger liebevollen Gedankens. Shakespeare, der so Herrliches über das Herz geschrieben hat, nahm diese Vorstellung auf: »Er hat ein Herz, so gesund und ganz wie eine Glocke, und seine Zunge ist der Klöpfel, denn was sein Herz denkt, spricht seine Zunge aus.« (Don Pedro, Much Ado about nothing – Viel Lärm um nichts, Übersetzung Baudissin und Reimer, 1830)
Auch die chinesischen Ärzte hatten die Vorstellung des denkenden Herzens. Sie betteten alle Organe in die kosmischen Gesetzmäßigkeiten ein. So gehörte zu jeder Jahreszeit ein Organ; das Herz war dem Sommer zugeordnet. In der sogenannten Organuhr fanden sie für jedes Organ eine Tages- oder Nachtzeit, in denen eine maximale oder minimale Energiedurchflutung stattfindet. Das Herz hat in ihrer Philosophie um die Mittagszeit (11.00 bis 13.00 Uhr) seine Hoch-zeit. Da »denkt« das Herz besonders gern.
Herzermutigung
Nehmen Sie sich ein Alltagsthema heraus. Wie und was denken Sie aktuell darüber? Welche Gedanken kommen Ihnen ganz spontan? Vielleicht denken Sie an einen Menschen, mit dem Sie im Moment Probleme haben? Versuchen Sie nun, mit dem Herzen zu denken. Konzentrieren Sie sich auf Ihr Herz, versuchen Sie es zu fühlen. Wie denkt Ihr Herz darüber? Wenn es Ihnen nicht gelingen will, bleiben Sie geduldig; üben Sie jeden Tag ein wenig, nehmen Sie Probleme, Konflikte, berufliche oder private Themen und fühlen Sie, wie Ihr Herz darüber denkt. Wie fühlt es sich an? Bekommen Sie eine andere Haltung zu dem Thema?
Also ist die Vorstellung »Denken mit dem Herzen« gar nicht so weit hergeholt? Überliefert ist das großartige Zitat des fortschrittlichen Pharaos Echnaton. Der Gemahl der schönen Nofretete hatte das ägyptische Staatswesen durch Reformen der Religionslehre verändert und soll gesagt haben.
»Folge Deinem Herzen, solange du lebst. Wenn Besitz da ist, folge deinem Herzen, denn Besitz führt zu nichts, wenn das Herz vernachlässigt wird.«
Wo wohnt wohl die Seele?
»Seelenqual«, »mit Leib und Seele«, »seelische Krankheit«, »Balsam für die Seele«, »Seelenmassage«, »die Seele baumeln lassen«, »Ein Herz und eine Seele« (in Memoriam Alfred Tetzlaff) … der Begriff Seele ist uns allen geläufig, aber was ist die Seele überhaupt? Gibt es eine Seele? Und wenn ja, wo wohnt sie? Ist für Sie der Begriff Psyche griffiger? Ist Seele gleich Psyche?
Schreiben Sie auf ein Blatt mindestens fünf Eigenschaften (gerne mehr), mit denen Sie einem zehnjährigen Kind die Begriffe Seele und Psyche verständlich machen würden. Sie werden feststellen: Begriffe, die wir tagtäglich und so selbstverständlich benutzen, sind gar nicht so einfach und klar zu beschreiben.
Der berühmte Anatom Rudolf Virchow, der als einer der Väter der modernen Medizin gilt, würde sich bei unserer Diskussion die Haare raufen. Von ihm stammt das Zitat: »Ich habe Tausende von Leichen seziert, eine Seele habe ich nie gefunden.«
An der Existenz von Seele (Psyche) besteht kein Zweifel. Aber wo können wir die Seele verorten? In der Vier-Kammer-Wohnung namens Herz?
Seit Menschengedenken streiten die mehr oder minder Gelehrten und Weisen, wo die menschliche Seele beheimatet sei. Einer der bedeutendsten griechischen Philosophen, der auch als Begründer zahlreicher Wissenschaften gilt, war Aristoteles. Der Plato-Schüler lebte 384–322 v. Chr. überwiegend in Athen. Neben der empirischen Wissenschaft stand für Aristoteles das philosophische Erkennen des übergeordneten Zusammenwirkens über allen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Für Aristoteles besaßen Pflanzen, Tiere und Menschen eine individuelle Seelenqualität.
Der Lehrer von Alexander dem Großen und seine Anhänger waren überzeugt davon, dass die Seele im Herzen wohnt. Sie steuert alle Lebensvorgänge, ist die Bewegerin des gesamten Organismus, so die Ansicht. Vor allem die Wärme im Körper wird durch die Seele aktiviert. Tatsächlich ist in der anthroposophischen Medizin heute wieder von »Wärmeorganismus« die Rede.
Schauen wir uns um: Was sagt zum Beispiel der Volksmund zum Thema Herz und Seele?
»Mir rutscht das Herz in die Hose.«
»Mein Herz schlägt Purzelbäume.«
»Das Herz hüpft mir im Leibe.«
»Ich habe Herzklopfen.«
»Das Herz schlägt mir bis zum Hals.«
Der weltberühmte Herzchirurg Bruno Reichart, der vor allem für seine Herztransplantationen bekannt wurde, sagte in einem Interview: »Viele sehen das Herz als Sitz der Seele an. Ich glaube das nicht. Für mich sitzt die Seele im Gehirn.« (Lebert & Reichart, 2017).
Für den Erfolg einer Herztransplantation war ihm der Zustand der Seele sehr wichtig. Nur eine starke Seele sei Voraussetzung für eine erfolgreiche Operation, so seine feste Überzeugung.
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