Die praktische Seite
Abb. 9
Mit dem praktischen Tun gelingt es, die inneren Landschaften zu erschließen und die drei inneren Schätze zu harmonisieren. Diese Darstellung, das Neijingtuo, stammt aus dem Tempel der weißen Wolken in Beijing und zeigt die Landschaften der Inneren Alchemie.
Die Ausbildung
Sich in der Alchemie der Balance ausbilden zu lassen, gelingt mittlerweile in fast jeder Stadt. Entsprechende Kurse werden in Erwachsenenbildungsstätten wie VHS oder Familienbildungsstätten, an Schulen, Universitäten und in privaten Einrichtungen angeboten. Es kommt aber immer wieder vor, dass der anfangende Laie sich in Kursen wiederfindet, die der Prozentrechnung in der Mathematik entsprechen, ohne dass er das kleine oder große Einmaleins kennt oder beherrscht. In einem solchen Kurs und mit den Wirkungen der Übungen kann man sich auch wohlfühlen, aber Hand und Fuß hat ein solches „Lernen“ nicht und darüber hinaus kann es Probleme aufwerfen. Auch den Dozenten gelingt es nicht immer, einen fundierten, aber leicht verständlichen Überblick über die Thematik, deren Konzepte und Prinzipien zu geben und methodisch von grob nach fein die theoretischen Konzepte praktisch erfahrbar zu machen. Qigong lernen und lehren ist wie Tee trinken. Will ich Tee ausschenken, sollte meine Kanne immer voll sein. Wie soll ich Tee ausschenken, wenn ich selbst nur ein Tässchen voll habe? Das heißt, als unterrichtende Person täglich selbst zu üben, sich korrigieren zu lassen und weiter zu lernen. Andererseits, was nutzt es mir als lernende Person, wenn ich der vollen Teekanne eine Tasse mit Deckel darauf entgegen strecke? Zumindest den Deckel sollte ich abnehmen. Wie viel Tee meine Tasse dann aufnehmen kann, ist abhängig davon, wie voll oder leer meine Tasse ist. Kann ich den Tee pur aufnehmen oder vermischt er sich mit dem, was schon in meiner Tasse ist?
Nicht selten will die lernende Person rasch vorwärts schreiten und versäumt, sich ein solides Fundament zu erarbeiten. Viele sammeln immer mehr Formen und Übungen in der Hoffnung, so das „Nichtverstehen“ auszugleichen. Es gibt keine Abkürzung, nur über eine gute Basis mit einer klaren Zielsetzung kommt man zum Erfolg. Ohne regelmäßiges, tägliches Üben und die dabei gemachten Erfahrungen, lassen sich die grundlegenden Theorien nicht richtig verstehen. Durch die Praxis sind viele vertiefende Theorien erst entstanden. Und nicht jeder muss, um es wieder am Beispiel des Rechnens zu sagen, Algebra beherrschen. Für den Hausgebrauch reichen das kleine und das große Einmaleins. Damit sollte man anfangen, wer will und dafür auch die Zeit hat, kann sich ja weiterentwickeln.
Die der angewandten Alchemie zugrundeliegenden Ideen und Konzepte sind für uns „Westler“ zunächst einmal kulturfremd und werden mit fremdartigen Umschreibungen vermittelt. Das bietet Projektionsfläche für Fehlinterpretationen und Mystifizierungen. Reichlich mystisch-esoterischer Firlefanz muss herhalten, um eigenes „Nichtverstehen“ auszufüllen oder Eitelkeit und Profilierungssucht zu nähren. Die Alchemie ist einfach und pragmatisch erlern- und anwendbar, wenn man beim Lernen systematisch, Schritt für Schritt, unter kompetenter Führung, mit sinnvollen Zielsetzungen und Methoden vorgeht.
Warnung
Qigong ist eine der sichersten Methoden der Welt. Trotzdem birgt falsch angewandte Alchemie auch negative Reaktionen und Wirkungen. Folgen Sie daher korrekt den angegebenen Methoden. Erzwingen Sie nichts, halten Sie sich an das rechte Maß, auch was Konzentration, Vorstellung und Visualisierung betrifft. Negative Wirkungen und Phänomene, wie z.B. Beklemmung, Unwohlsein, Schmerzen oder das Ansteigen der Herzfrequenz, haben sehr oft ihre Ursache in einem Zuviel, einem gezwungenen und zu angestrengten Üben. Das resultiert in einer energetischen Disbalance, wie z.B. einer Fülle im Kopf- oder Brustbereich und dem Verlust der Mitte. Die chinesischen Lehrer sprechen von einer Fülle oben und einem Austrocknen unten. Zu starke Atemforcierung in den Unterbauch wird zu einer energetischen Blockade oder gar zu Verstopfung führen. Beachten Sie die auf den folgenden Seiten beschriebenen Aspekte wie Natürlichkeit, rechtes Maß und Lösen und Loslassen, werden Sie keine negativen Wirkungen provozieren. Anders ist das bei gesundheitlichen Problemen, bei denen Sie therapeutischen Rat einholen und sich mit einem Qigong-Lehrer beraten sollten. Bei bestehender Gelenkarthrose muss die Methode, Belastung und Übungsdauer entsprechend der Art und des Stadiums der Erkrankung gewählt werden. Frauen mit starker Monatsblutung oder der Neigung zu Uterusvorfällen sollten nicht zu stark im Unterbauch üben. Bei niedrigem Blutdruck und der Neigung zur Ohnmacht sollten wir die Yang-Aspekte in der Übung etwas mehr betonen, wie z.B. die Augen offen lassen, die Ausrichtung am Scheitel und darauf achten, nicht zu erschlaffen. Menschen mit psychischen, mentalen oder neurologischen Erkrankungen, wie z.B. Epilepsie, vor allem wenn sie Psychopharmaka oder Neuroleptika einnehmen, sollten nur in Absprache und Betreuung mit ihrem Therapeuten und Qigong-Lehrer Übungen erlernen und praktizieren.
Man braucht eine normale psychische Belastbarkeit und verantwortungsbewusstes Herangehen an das Üben, damit unsere Praxis nicht zum Auslöser oder Verstärker nervlicher oder psychischer Störungen wird! Steigern Sie sich nicht in ihr Üben hinein! Bleiben Sie auf dem Boden! Der Qigong-Lehrer Kenneth Cohen prägte schon Ende der 1970er Jahre die Begriffe „Qigong-Psychose“ und „psychotische Qigong-Reaktion“ als Übersetzung des chinesischen Ausdrucks „Zuo huo ru muo“ (Feuer wild, Teufel kommen herein). Die Chinesen bezeichneten so Wahnvorstellungen, welche durch falsches, extremes Üben entstehen können. Im Zweifelsfalle beraten Sie sich mit Ihrem Therapeuten und üben Sie unter persönlicher Anleitung eines geschulten Qigong-Lehrers.
Lassen Sie sich beraten bei:
fehlender psychischer Belastbarkeit,
psychischen, mentalen oder neurologischen Erkrankungen,
akuten, entzündlichen Erkrankungen des Halte-Stützapparates, vor allem der Gelenke,
Einnahme von starken Medikamenten, besonders Psychopharmaka,
Alkohol- oder Drogenmissbrauch,
nach Operationen,
in der Schwangerschaft.
Die meisten Qigong-Krisen entstehen fast ausschließlich durch falsche oder exzessive Praxis. Halten Sie sich an die Vorgaben und gehen Sie Schritt für Schritt vor! Lassen Sie Ihrem Körper und Energiesystem Zeit zu wachsen. Wer erstmalig in einem Fitnessstudio trainiert, wird auch nicht gleich zu viele Kilos aufpacken. Beginnen Sie nicht gleich mit Prozentrechnung, sondern lernen Sie erst mal das kleine Einmaleins! Nehmen Sie Ihre alchemistische Praxis ernst. Die Übungen tun ihre Wirkungen! Setzen Sie sich klare Ziele und lernen Sie die Grundbedingungen des richtigen Übens wie z.B. zur Ruhe kommen, im Unterbauch ankommen und gut ausgerichtet sein! Seien Sie sich gewiss, dass, wenn Sie korrekt und regelmäßig üben, es zu Veränderungen kommen wird, mit denen Sie oder die Menschen mit denen Sie leben so nicht gerechnet haben! Sprechen Sie mit Ihrer Familie, Ihrem Partner, was Sie mit Qigong erreichen wollen und dass sich etwas verändern kann.
Die hier vorgestellten Methoden und Übungen sind sorgfältig ausgewählt und zusammengestellt und es wird bei sachgerechtem Üben auch nichts passieren.
Qigong allein aus Büchern oder von DVDs zu lernen ist nicht ratsam. Es empfiehlt sich immer, mit einem erfahrenen Qigong-Lehrer zusammen zu arbeiten. Glauben Sie nicht, dass sich nach ein paar Wochen des Übens alles zum Positiven verändert hat. Bleiben Sie am Ball, übertreiben Sie nicht und schaffen Sie sich ein gutes Fundament für Ihr weiteres Üben. Die hier vorgestellten Methoden, Techniken und Übungen sowie deren Aspekte sind grundlegend und sollten Schritt für Schritt ausgearbeitet werden. Alle Einzelschritte und Aspekte fügen sich zu einem Ganzen und zielen auf ein solides Fundament, auf dem Sie Ihr persönliches Potenzial entwickeln können. Kreieren Sie keinen Übungsstress, weil Sie schnell voran kommen wollen. Erkenne Dich selbst: Wie ist meine Grundkonstitution? Wie meine Tageskondition? Mehr Yin oder mehr Yang? Neige ich zu Aktivität oder eher zu Passivität? Erkenne ich mich selbst, Schritt für Schritt, finde ich in den hier vorgestellten Übungen immer das passende Werkzeug, um die Balance herzustellen und zu halten. Neben dem Erkennen des Yin + Yang-Prinzips in unserer Grundkonstitution, lässt sich dieses Prinzip auch für das Erkennen unserer Tageskondition anwenden. Wir sollten mit dem Yin + Yang-Prinzip arbeiten und es von grob nach fein, von einfach bis komplex anzuwenden lernen.
Erkenne und kläre Dich selbst,
dann erkenne und kläre Deine Beziehungen,
dann erkenne Deine Aufgabe und wirke in der Gesellschaft.
Auch hier die Warnung, nicht zu kompliziert und aufgesetzt theoretisch an Qigong heranzugehen. Nur so viel Theorie, wie ich für korrektes Üben brauche. Nur auf der Grundlage ausreichender und regelmäßiger Praxis und den dabei gemachten Erfahrungen, kann ich fortgeschrittene Theorie richtig einschätzen und überhaupt verstehen.
Orientieren wir uns am Selber-Tun und Selbst-Erfahren sowie an den gesetzten Zielen und den erreichten Wirkungen, beherzigen wir die Warnungen und beachten folgende Regeln, werden wir risikolos Boot und Steuermann verbessern und aufeinander abstimmen können:
