Die intelligenten Kinder
Signe ist 7 Jahre alt – sie unterscheidet sich von den anderen. Ihre Mutter schreibt:
Wir hatten sehr früh sprachlichen und sozialen Kontakt zu ihr. Sie begann zu sprechen, als sie sechs Monate alt war. Mit drei Jahren konnte sie lesen, ihr sprachlicher IQ liegt bei 149. Sie ist über alle Maßen wissbegierig und brannte immer schon für abstrakte und komplexe Themen. Außerdem hat sie sich schon sehr früh mit existenziellen Fragen beschäftigt, ihr Wissen kategorisiert und in Systemen geordnet, die sie auf andere Zusammenhänge übertragen konnte.
ABER – sie ist in sozialer Hinsicht nicht begabt und hat sich nie für gleichaltrige Kinder interessiert. Einen guten Draht hatte sie dagegen immer zu Erwachsenen, deren Signale sie besser versteht; mit ihnen kann sie über Themen sprechen, die sie faszinieren. Sie spielt gerne und hat sich schon immer in Phantasiespiele vertiefen können, vor allem wenn sie alleine ist. Wenn sie mit anderen Kindern spielt, entwickelt sich das Spiel in ihrer Phantasie so schnell weiter, dass die anderen Kinder nicht mehr folgen können. Denn wenn ihr etwas einfällt, führt diese eine Idee blitzschnell zu einer nächsten usw. Und da sie mehr mit ihren eigenen Ideen beschäftigt ist als mit einem Ideenaustausch, verliert sie schnell den Kontakt zu ihren Spielgefährten.
Sie besucht eine Grundschule, an der sie sich einigermaßen wohlfühlt, aber es geht ihr nicht richtig gut. Sie hat dort einige wenige Freunde (die sie sehr gerne mag). Die Lehrkräfte sind ihr gegenüber im Allgemeinen sehr aufgeschlossen und fürsorglich. Aber fachlich bietet ihr der Unterricht nichts, was sie im Entferntesten interessiert. Ihr Wissensniveau liegt deutlich über dem, das man für ihr Alter voraussetzt, und so lebt sie zwei Leben parallel: ein Leben in der Schule, das primär darin besteht, Regeln sozialen Miteinanders zu erfüllen, die ihr selber wohl nie etwas bedeuten werden; und ein Leben zu Hause, wo sie ihren Wissensdurst stillen kann und sich gleichzeitig von dem sozialen Druck erholen kann.
Mich beschäftigt die Frage: Wohin gehört Signe?
Es ist ganz natürlich, wenn Eltern sich über Auffälligkeiten in der Entwicklung ihrer Kinder wundern. Es bereitet uns Sorge, wenn wir ein Verhalten beobachten, das wir nicht verstehen oder das wir nicht aus der konkreten Lebenssituation des Kindes heraus erklären können. Oft haben wir den Eindruck, dass sich das Kind anders als die Gleichaltrigen entwickelt. Wir beobachten das Verhalten aufmerksam und versuchen zu klären, ob es zu einer gesunden und guten Entwicklung gehört. Oder besteht Handlungsbedarf?
Vielleicht führen auch Reaktionen aus unserem Umfeld dazu, dass unsere Sorgen größer werden, und wir beginnen uns Gedanken zu machen, welches Problem wohl als nächstes kommen mag. Der Klärungsbedarf wird immer dringender, und wir suchen Rat. Aber nicht selten führt auch dies nicht weiter, und wir fühlen uns dann noch unsicherer als zuvor. Diese Unsicherheit überträgt sich leicht auf die ganze Familie. Zu den Ersten, die sie wahrnehmen, gehört das empfindsame, aufgeweckte Kind, das mit seiner nur begrenzten Lebenserfahrung darauf reagiert. Damit kann die gesamte Entwicklung einen ungünstigen Verlauf nehmen.
Wissen und Sachkenntnis können dabei helfen, vorschnelle Urteile oder auch belastende Traditionen abzustreifen. Beispiele für irrtümliche bzw. falsche Annahmen über diese Kinder sind:
»Sie werden schon zurechtkommen, die sind ja so intelligent.« »Die haben alles in die Wiege gelegt bekommen – jetzt müssen sie selber sehen, dass sie etwas daraus machen.« »Wenn sie Fehler machen, fehlt ihnen Disziplin und Erziehung. Gerade sie sollten es besser wissen.« »Sie müssen dauernd gefordert werden, sonst werden sie faul.« »Die Phasen ihrer physischen, sozialen und persönlichen Entwicklung verlaufen ungefähr im selben Takt wie die der anderen Kinder.« »Sie sollten vor allem wegen ihrer hohen Begabung wertgeschätzt werden.« »Sie brauchen sich nicht nach den üblichen Regeln und Standards des sozialen Miteinanders zu richten.«
»Ich wünsche mir überhaupt nicht, ein Genie zu sein, denn es ist für mich schon schwer genug, ein Mensch zu sein.«
Albert Camus
Auch heute noch hört man bisweilen, hochbegabte Menschen seien merkwürdig oder sonderbar – oder dass eine hohe Begabung mehr ein Problem als etwas Positives sei. Forscher haben sich seit Jahrhunderten für den Zusammenhang zwischen hoher Begabung und mentalen oder emotionalen Problemen interessiert. 1872 erschien das Buch Genio e follia (dt. Genie und Irrsinn, 1887) des italienischen Arztes Cesare Lombroso. Er meinte Parallelen sowie erbliche Übereinstimmungen zwischen Menschen feststellen zu können, die er als geisteskrank bezeichnete (beispielsweise Menschen, die versucht hatten, Selbstmord zu begehen), und solchen, die als Genies gesehen wurden.
Diesen Sichtweisen trat der amerikanische Intelligenzforscher Lewis Terman entgegen, allerdings in eine ganz andere Richtung zielend. In einer großangelegten Langzeitstudie sammelte er Daten, um u.a. zu belegen, dass hochbegabte Menschen psychisch stabiler seien als die übrige Bevölkerung (Genetic Studies of Genius, 1926–1959). Wenn Hochbegabte einen Mangel an psychischer Stabilität zeigten, sah er die Ursache dafür viel eher in äußeren Einflüssen als in ihrer hohen Begabung.
In jedem Fall sollten Untersuchungen dazu, ob kreative Menschen überdurchschnittlich oft an psychischen Störungen leiden, immer von den Lebensumständen dieser Menschen ausgehen. Die meisten kreativen Personen, die Stimmungsschwankungen erleben, zeigen keinerlei Anzeichen für psychische Krankheiten. Vielleicht hängen Schwierigkeiten dieser Menschen eher damit zusammen, dass die Gesellschaft ihre speziellen Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale nicht respektiert. Eine solche Perspektive vertritt etwa der Psychiater Peter Oswald in seinem Buch The Inner Voices of a Musical Genius (1985, Neuauflage 2010): Mit Blick auf die letzten Lebensjahre Robert Schumanns spricht er davon, dass die Probleme, denen sich kreative und talentierte Menschen mitunter gegenübergestellt sehen, in Zusammenhang mit ihren Frustrationen und Depressionen gesehen werden könnten.
Ein weiterer jener nicht belegbaren Mythen heißt: »Je früher reif, je früher faul.« Wer also einen Entwicklungsstand sehr früh erreiche, werde schon in jungen Jahren ausgebrannt sein. Doch schon Termans Forschungen haben dazu beigetragen, dieses Vorurteil zu entkräften.
Wie auch immer die Probleme Begabter traditionell gewertet worden sind, kann es für Eltern intelligenter Kinder gute Gründe dafür geben, sich über das Verhalten ihres Kindes zu wundern: wenn sie konstant mit Fragen gelöchert werden oder das Kind sich an Dinge erinnert, von denen man sich wünschte, es habe sie vergessen, oder wenn es einen größeren Wortschatz als Gleichaltrige hat und sich voller Begeisterung und großer Intensität neuen Ideen widmet. Zu den Fragen, die sich für Eltern hochbegabter Kinder ergeben, können folgende gehören:
• Warum sucht mein Kind ständig Antworten auf Fragen, die kaum zu beantworten sind – zumindest in seinem Alter?
• Warum zieht mein Kind die Gesellschaft Erwachsener gegenüber Gleichaltrigen vor?
• Warum hat mein Kind einen so speziellen Humor?
• Warum meint mein Kind, alles Mögliche unter Kontrolle haben zu müssen: Warum denkt es sich Aufgaben aus und erklärt mir und anderen, auf welche Weise sie gelöst werden sollen?
• Warum testet mein Kind ständig Grenzen aus, tut sich schwer damit, ein »Nein« zu akzeptieren, und hält stattdessen mit logischen Argumenten dagegen?
• Warum hat mein Kind so ausgefallene Interessen, die sich von denen anderer Kinder unterscheiden?
• Warum vertieft mein Kind sich so sehr in eine Beschäftigung, dass es die Welt um sich herum vergisst?
Begriffserklärung
In Dänemark wird von »Kindern mit besonderen Voraussetzungen« gesprochen, denn es ist schwierig, eine Entsprechung für die englischen Wörter »gifted« oder »highly able« zu finden, ohne dabei belastete Vorstellungen wie »elitär« zu berühren. Mit der etwas umständlichen Beschreibung, »besondere Voraussetzungen« (im Sinne von besonderem Potenzial) möchte ich zugleich das Bewusstsein auf die Konsequenzen lenken: Es ist natürlich und keineswegs widersprüchlich, dass ein Mensch solche »besonderen Voraussetzungen« mitbringt und daher einer besonderen Unterstützung bedarf. ...