2. Hochbegabung – was heißt das?
2.1. Definition und Erklärung von Hochbegabung
Was ist Hochbegabung?
Hochbegabung ist das intellektuelle Potenzial von jemandem, der in einem der gängigen und anerkannten Intelligenztests einen IQ-Wert von 130 Punkten und mehr erzielt. Das betrifft streng genommen 2,27 % der Bevölkerung.ii
Vor rund hundert Jahren erstellte Alfred Binet einen Test zur Messung der Intelligenz. Dieser Intelligenztest kommt noch heute zur Anwendung. Es gibt verschiedene Intelligenztests – und sie alle sind seit Jahren umstritten. Ein Kritikpunkt ist, dass es weit mehr Intelligenzen gebe, als diese Tests messen würden, es fehle unter anderem die emotionale und soziale Intelligenz sowie die sportliche, musikalische oder kreative. Auch über mathematische, sprachliche und visuell-räumliche Fähigkeiten werde nur begrenzt Auskunft gegeben. Hinzu kommt, dass, wie bei jeder Statistik, auch beim Intelligenztest Abweichungen in Kauf genommen werden müssen.
Denn jede psychologisch ausgebildete Fachkraft weiß, dass ein IQ von 130 beispielsweise bedeutet, dass der tatsächliche IQ mit einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit zwischen 123 und 134 liegen könnte.iii
Intelligenz kann unterschiedlich definiert werden, deshalb wurden verschiedenartige Intelligenztests entwickelt. Nur einige von ihnen bilden den bekannten Intelligenzquotienten ab. Dieser steht in den letzten Jahren immer häufiger in der Diskussion, da Intelligenz und Höchstleistungen nicht unbedingt zusammenwirken.iv Eine Studie der Intelligenzforschung (Deary 2006) fand heraus, dass der Intelligenzquotient weder mit dem Berufserfolg noch mit der Leistungsexzellenz zusammenhängt. In dieser Studie waren der Selbstwert und die Motivation von Bedeutung, nicht der Intelligenzquotient. Die Diskussion wird besser verständlich, wenn man beachtet, was Binet schon um 1900 äußerte: "Die Intelligenz ist kein einfaches Konstrukt, welches losgelöst von Erfahrung und der Erfahrungswelt des Individuums betrachtet werden kann."v
Leistungsexzellenz hat im Gegensatz zum Intelligenzquotienten eine größere Aussagekraft. Ziegler meint, dass es günstiger sei, eine auf Expertenurteilen beruhende Definition zu verwenden, die über den wahrscheinlichen weiteren Lern- und Leistungsverlauf einer Person Auskunft gibt.
Talent: eine Person, die möglicherweise einmal Leistungsexzellenz erreichen wird.
Hochbegabter: eine Person, die wahrscheinlich einmal Leistungsexzellenz erreichen wird.
Experte: eine Person, die schon sicher Leistungsexzellenz erreicht hat.vi
Ziegler versteht unter Leistungsexzellenz Leistungen, die erst Experten eines Faches erbringen können. Mehr dazu im Kapitel "Leistungsexzellenz".
In einem relativ weiten Begriffsverständnis lässt sich Begabung als das Insgesamt personaler (kognitiver, motivationaler) und soziokultureller Lern- und Leistungsvoraussetzungen definieren, wobei die Begabungsentwicklung als Interaktion (person-)interner Anlagefaktoren und externer Sozialisationsfaktoren zu verstehen ist. (Heller 1992)vii
Nach Heller ist Begabung eine Anlagepotenz, die entwickelt werden muss. Diese Entwicklung hängt von Anfang an von den Wechselbeziehungen des sozialen Lernumfeldes ab. Je nachdem, wie sich die Erziehungs- und Sozialisationseinflüsse auswirken, wird die Fortentwicklung gefördert oder gehemmt. Die Begabung führt von einer angeborenen Leistungsmöglichkeit zu einem dynamischen Konzept, welches in alle Richtungen ausgebaut werden sollte.
Hochbegabungsmodelle
Die Hochbegabungsforschung arbeitet mit Modellen, die die Hochbegabung mit Höchstleistungen verbinden oder die Leistungsexzellenz zu erklären versuchen.
Die Fünf-Ecken-Theorie von Robert Sternberg und Li-fang Zhang versucht, die Kriterien zusammenzufassen, anhand derer die Gesellschaft Menschen als hochbegabt identifiziert. Allerdings schränken die beiden ein, dass die Kriterien von der jeweiligen Kultur und Zeitepoche abhängig seien. Entsprechend liegt hier keine objektive Theorie von Begabung oder Hochbegabung vor.viii
Howard Gardner vertritt die Meinung, dass acht Intelligenzen (sprachlich, logisch-mathematisch, räumlich, musikalisch, körperlich-kinästhetisch, interpersonal [sozial], intrapersonal [emotional] und naturalistisch) existieren, die unabhängig voneinander seien. Seine Erkenntnisse zog Gardner aus zahlreichen wissenschaftlichen Forschungsprojekten.ix
Die Triarchische Intelligenztheorie von Robert Sternberg teilt die Intelligenz in drei Kernkomponenten – analytische, praktische, kreative – ein, wobei lediglich die analytische Intelligenz der gebräuchlichen Sichtweise von Intelligenz entspricht. Sternberg nennt sein Modell Erfolgsintelligenz (siehe auch Kapitel "Erfolgsintelligenz").x
Das Münchner Hochbegabungsmodell nach Heller und Perleth ist eines der bedeutendsten multifaktoriellen (von vielen Einflüssen bedingten) Begabungsmodelle. Es unterscheidet in Leistungsgebiete und nach Begabungsfaktoren und erinnert an die multiplen Intelligenzen nach Gardner, geht aber weit darüber hinaus. Der Fokus liegt hier auf den Wechselbeziehungen zwischen den Begabungsfaktoren, den Persönlichkeitseigenschaften, den Leistungsexzellenzen sowie den Umweltbedingungen.xi
Das Drei-Ringe-Modell von Joseph Renzulli ist ein einfaches Erklärungsmodell für Hochleistungen. Es wurde zur Erkennung von Hochbegabung benutzt, war aber dafür von Renzulli nicht gedacht, ursprünglich sollte es ein schulisches Fördermodell darstellen. Die Ringe (überdurchschnittliche Fähigkeiten, Engagement, Kreativität) stellen in ihrer gemeinsamen Schnittmenge die Hochleistung dar. Die Ringe können unterschiedlich groß sein, sodass auch jemandem mit weniger Fähigkeiten, aber einem größeren Anteil an Engagement und Kreativität Hochleistungen attestiert bzw. bescheinigt werden. Der Unterschied zwischen Renzullis und Hellers Modellen ist, dass Heller auf die Identifikation möglicher Hochleistender und Renzulli auf die schulischen Fördermaßnahmen zielt.xii
Umwelteinflüsse und Motivation sind bei allen Modellen von Bedeutung. Es bringt also nichts, einen Hochbegabten mit vielen Büchern in ein Zimmer einzusperren und abzuwarten, ob Höchstleistungen entstehen.
Gruppen von Hochbegabten
Nach Scheidt gibt es fünf Gruppen von Hochbegabten; drei von ihnen nehmen jeweils fast ein Drittel ein, und zwei weitere Gruppen haben einen sehr geringen Anteil. Zu den großen Gruppen zählt er die "erfolgreichen Hochbegabten", die "Latenten" und die "Underachiever" (Minderleister). Die kleineren Gruppen bilden die "gefährlich Entgleisten" und die "Extraordinären", auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Die Erfolgreichen nennt er "Talente" und meint damit die Hochbegabten, die Höchstleistungen erbringen. Sie gehören in der Schule und an den Universitäten zu den Besten. Als Latente bezeichnet Scheidt Hochbegabte, die ihre Aufgaben mit Leichtigkeit lösen und es sich in ihrer Umwelt gut eingerichtet haben, ohne jedoch ihre Denkgeschwindigkeit oder andere intellektuelle Vorteile auszuschöpfen. Das letzte Drittel, die Underachiever, sind begabt, nutzen aber ihre Möglichkeiten nicht. Manche wollen sie nicht nutzen und wehren sich gegen mögliche Erfolge.xiii
Spät erkannte Hochbegabte lassen sich in allen oben genannten Gruppen finden. Allerdings setzen sich Menschen, die Höchstleistungen erbringen, oft mit sich und ihrer Begabung auseinander. Latente und Underachiever werden vom Ergebnis eines IQ-Tests eher überrascht. Manche möchten danach nichts an sich und ihrem Leben ändern, sind zufrieden und informieren sich über die Hochbegabung. Andere wiederum wollen etwas verändern, ihre Begabung richtig nutzen und fragen sich, wie das geschehen könnte. Die Hochbegabungsmodelle verdeutlichen den Zusammenhang zwischen Erfolg/Leistung sowie Intelligenzquotienten, Persönlichkeits- und Umweltmerkmalen. Wie Ihr Umfeld mit Ihnen umging, konnten Sie nicht beeinflussen. Wurden Sie gefordert und gefördert? Wenn Sie sich als spät erkannter Hochbegabter dafür entscheiden, etwas zu ändern, sollten Sie die Förderung und das Fordern selbst in die Hand nehmen.
Merkmale von Hochbegabung
Es gibt nicht die Hochbegabung und auch nicht den Hochbegabten. Trotzdem ist...