Vorwort
Schon in meiner Kindheit und Jugend kamen Freunde und Bekannte zu mir, die mir ihre Sorgen und Nöte erzählten und mir ihr Herz ausschütteten. Ich war die gute Freundin, die aufmerksam und interessiert zuhörte und, wenn nötig und gewünscht, gemeinsam mit ihnen nach Lösungen suchte. Während meiner Ausbildung zur Arzthelferin begann ich mich für den menschlichen Körper zu interessieren und saugte alles Wissen, was dank der etwas ungewöhnlichen Ausbildung verhältnismäßig viel war, in mich auf. Unter anderem gab es das Fach „Medizingeschichte“. Der Lehrer hatte kein Interesse daran, uns Zahlen, Daten und Fakten auswendig lernen zu lassen, und las uns stattdessen oft sehr alte überlieferte Geschichten von Heilungsmethoden, unter anderem Operationen, vor. Dabei lernte ich die Begriffe „Selbstheilungskräfte“ und „Selbsthypnose“ kennen und war sofort fasziniert. Beides, Medizin und (im weitesten Sinn) Psychologie, ließ mich bis heute nicht mehr los.
Lange Zeit beschäftigte ich mich mit positivem Denken, (Selbst-)Hypnose, NLP und ähnlichen Methoden und Techniken. Dadurch wurden mir viele Fragen beantwortet, und diese Antworten konnte ich bei meinen unterschiedlichen Tätigkeiten immer auf irgendeine Weise weitergeben. Genau genommen war ich mein Leben lang als Beraterin tätig: Lebensberaterin, Existenzgründungsberaterin, Unternehmensberaterin, Beraterin für Persönlichkeitsentwicklung, Kommunikationstrainerin und vieles mehr. Das alles war anregend, sehr spannend, und ich habe sehr viel gelernt. Irgendwo auf diesem Weg wurde mir deutlich bewusst, dass ich anders war als viele andere. Natürlich kannte ich dieses Gefühl bereits seit meiner frühen Kindheit. Es tauchte situationsbedingt immer mal wieder auf. Doch dass es sich so glasklar, so tief und so dauerhaft darstellte, das kannte ich noch nicht. Mir fehlte etwas. Und dieses Etwas musste etwas Grundlegendes sein. Mir wurde klar, dass ich nicht für andere, sondern für mich selbst nach Antworten, nach dieser einen Antwort suchte. Fortan ging ich zwar bewusster durchs Leben, aber in gewisser Weise auch unsicherer, weil ich nicht wusste, wonach ich konkret auf der Suche war. Ich las, recherchierte, tauschte mich mit jeweils sach- und fachkundigen Menschen über die unterschiedlichsten Themen aus. Aber so viel ich auch lernte, so sehr ich mein Wissen erweiterte, etwas fehlte immer. So verständlich, nachvollziehbar und hilfreich die Dinge auch waren, eines war immer ganz klar: Ich fühlte es nicht in meinem tiefsten Inneren und konnte nur kurzfristig das so oft versprochene Lebensgefühl entwickeln.
Ich sah mich zwischen zwei Welten: Zum einen waren da die Menschen, die einen Teil meiner Interessen teilten, aber teilweise eine Dauereuphorie an den Tag legten, die ich als unglaubwürdig empfand. Zum anderen gab es die, die das alles überhaupt nicht interessierte und deren Leben dennoch in gleichförmiger Regelmäßigkeit zu verlaufen schien. Ich war nicht unzufrieden oder gar leidend, doch mir wurde immer deutlicher, dass ich mich weder den einen noch den anderen zugehörig fühlte. Herauszufinden, warum ich mich so anders fühlte und zum großen Teil auch von anderen so gesehen wurde, wurde für mich immer dringlicher. Warum waren mir manche Dinge so außerordentlich wichtig und anderen offenbar nicht? Warum musste ich immer alles hinterfragen und andere nicht? Warum konnte ich nicht wie die meisten anderen etwas lernen und dann einfach nur über Jahrzehnte hinweg einen entsprechenden Job machen? Warum erschien mir so oft so schnell etwas sinnlos? Und warum hatte ich so oft das Gefühl, nicht (richtig) verstanden zu werden? Ich hatte eine tiefe Sehnsucht in mir, dort anzukommen, wo ich hingehörte. Denn dass es diesen Ort, diese Menschen, dieses Lebensgefühl geben musste, davon war ich überzeugt. Doch wo sollte das sein?
Aufgrund eines äußeren Anlasses begann ich, mich mit psychologischen Störungsbildern auseinanderzusetzen. Erschrocken stellte ich fest, dass viele der Symptome, denen ich dort begegnete, auch auf mich zutrafen. Zwar passte alles nicht wirklich und es fühlte sich auch nicht richtig an, aber ich wurde zunehmend unsicherer. Ich konsultierte einen Psychologen, um mit ihm darüber zu sprechen und mich entsprechend testen zu lassen. Nein, ich hatte keine Störung. Ganz im Gegenteil: Ich war völlig normal. Dass ich psychisch gesund war, spürte ich tief in mir. Aber normal …? Und so suchte ich weiter.
In einem Frühjahr fand mich das Buch Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel? von Andrea Brackmann. Nein, ich habe mich nicht verschrieben. Es fand mich! Nach dieser Lektüre, die meinen tiefsten inneren Kern nicht nur berührte, sondern mich dort auch nachhaltig erschütterte, wusste ich, was bisher nicht stimmte, und es ist wahrlich nicht übertrieben, wenn ich sage, dass dieses Buch mich „nach Hause“ brachte.
Da stand ich nun mit meinem ganzen Gepäck in der Eingangstür und sah nur Chaos. Dieses Haus war bis zum Dach voll mit allen möglichen Dingen, die kreuz und quer verstreut lagen. Aber ich war mir sicher, dass ich hier richtig war. Was tun? Wo anfangen? Zuerst nahm ich eine Grobsortierung vor und begann mit dem Thema „Hochsensibilität“. Ich las, was ich finden konnte: Bücher, Internetseiten, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, meldete mich in unterschiedlichen Internetforen an und initiierte reale Treffen für Hochsensible. Und dabei brachte ich die einzelnen Dinge an die richtigen Stellen in meinem neuen Heim. Als danach immer noch viel herumlag, begab ich mich unsicher und zögerlich an das Thema „Hochbegabung“. Aber noch bevor ich richtig damit begonnen hatte, fiel mir auf, dass es da noch eine dritte Sache zu beleuchten gab: meine Synästhesie. Sie lag versteckt unter all den anderen Dingen und ich konnte anfangs nur ein Zipfelchen davon erkennen. Ich machte mich daran, auch für diese Dinge einen geeigneten Platz in meinem Haus zu finden, und es dauerte eine Weile, bis alles in den entsprechenden Schränken und Regalen verstaut war. Mittlerweile war der Sommer ins Land gegangen. Die Hochbegabung lag immer noch in Einzelteilen auf dem Boden verstreut und ich wagte mich nicht so recht daran. Ich ahnte, dass diese Dinge teilweise für mich allein zu schwer waren. Also suchte ich mir jemanden, der mir beim Tragen und Sortieren helfen sollte, und fand eine Mentorin. Mit ihrer Hilfe kamen die Dinge recht schnell an den richtigen Platz, und auch die anderen Themen konnte ich nochmals genau betrachten, teilweise umsortieren und an ihren endgültigen Platz bringen. Nebenbei lernte ich eine Menge mehr von ihr und entwickelte allmählich ein tiefes Verständnis nicht nur für meine individuellen Angelegenheiten, sondern auch für die anderer Hochsensibler. Immer wenn meine Mentorin abends nach getaner Arbeit ging, ließ sie mir eine Denkaufgabe da – und ich dachte nach, las, recherchierte und sortierte die ganze Nacht. Es war anstrengend. Es hat mich an jedem einzelnen Tag viel Kraft gekostet, es war mit Freude und Euphorie verbunden, aber auch mit Trauer, Frustration und vielen Tränen. Und immer wieder neuen Fragezeichen. So manches Mal war ich nahe daran aufzugeben, aber was wäre dann gewesen? Heute ist mein Haus meine Heimat. Immer mal wieder stelle ich kleine Dinge um, doch im Großen und Ganzen hat alles seine feste Ordnung. Viele Sachen, die ich damals mitbrachte, habe ich in dieser Zeit entsorgt, auf den Müll geworfen. Neue Dinge sind hinzugekommen und ergeben zusammen mit den noch vorhandenen alten ein stimmiges Gesamtbild. Es ist gemütlich geworden in meinem neuen Heim. Eine wohltuende Ruhe umgibt mich. Und im Kamin brennt ein Feuer, das mich im Winter wärmt und im Sommer belebt. Manchmal lodert es und manchmal glimmt es, aber es erlischt nicht. Es bleibt. Endlich.
Nach meinen Ausbildungen im Trappmann-Institut arbeite ich seit 2013 als Beraterin und Coach für hochsensible und hochbegabte Erwachsene und bin Counselor für Unternehmen. (Mehr dazu finden Sie auf meiner Website: www.eliane-reichardt.de) Ich initiierte einige monatliche Stammtische für hochsensible und hochbegabte Erwachsene, und im März 2014 gründete ich auf Facebook eine Gruppe mit dem Namen „Hochsensitivität-Hochbegabung-Synästhesie“, deren Mitgliederzahl innerhalb nur eines Jahres auf etwa 3.000 gestiegen war und stetig weiterwächst. Ich moderiere diese Gruppe nach wie vor aktiv.
Dabei stelle ich immer wieder fest, dass viele sich regelmäßig wiederholende Fragen offen sind. Es handelt sich zum größten Teil um Fragen nach Identifizierungsmöglichkeiten von Hochsensibilität (der Begriff „Diagnose“ ist hier nicht angemessen), nach der Ursache, nach Intensität, Umfang und Ausmaß und nicht zuletzt um Fragen des Umgangs damit. Sehr oft höre und lese ich auch die Frage „Woher kommen denn plötzlich die vielen hochsensiblen Menschen?“.
Auch in meiner Praxis erfahre ich, dass aufgrund fehlenden oder bruchstückhaften Wissens eine teilweise große Unsicherheit besteht. Diese Unsicherheit ist oft die Ursache dafür, dass sich Hochsensible nur schwer oder gar nicht in ihrem Sosein annehmen können, was wiederum verhindert, dass entsprechende Tipps oder Übungen in die Tiefe, an den Kern der Person gehen können. Die Erfolge solcher Kurse – im Sinn eines positiven Lebensgefühls – sind meist nur von kurzer Dauer, weswegen diese Menschen auch einen Kurs nach dem anderen besuchen. Aus diesem Grund bin ich recht schnell dazu übergegangen, Grundlagen- und Hintergrundwissen über Hochsensibilität zu vermitteln, um damit ein tieferes Verständnis für das Thema an sich und für die individuelle Intensität und Ausprägung zu fördern. Das ist ähnlich der Psychoedukation in der Medizin und...