VORWORT ZUR NEUEN AUFLAGE 2015
Willkommen zu Hochsensibilität in der Liebe. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist das Buch bereits im Jahr 2000 erschienen. Dennoch gibt es nur sehr wenig, was ich daran ändern würde, und die Aspekte, die ich hinzufügen möchte, finden Sie gleich in diesem Vorwort. Am wichtigsten sind die Erkenntnisse der jüngsten Forschung über Hochsensibilität im Allgemeinen sowie einige interessante Forschungsergebnisse speziell zum Thema enge Beziehungen. Zum Schluss möchte ich noch einige Erkenntnisse im Bereich Liebe und hochsensible Menschen aufzeigen, die ich in der Zwischenzeit sammeln konnte.
Wie wichtig ist es für HSP in Liebesbeziehungen, die Forschung über Hochsensibilität zu begreifen?
Warum spielt die jüngste Forschung eine so große Rolle? Damit hochsensible Personen (HSP) erfolgreiche Beziehungen führen können – sei es mit einem Freund, mit einem bestimmten Verwandten oder einem Lebenspartner –, müssen sie die ererbte Charaktereigenschaft Hochsensibilität ernst nehmen. Sie muss sich einfach real anfühlen. Der Wesenszug kann über Glück und Unglück entscheiden, abhängig davon, wie gut die hochsensible und die andere beteiligte Person diesen verstehen. Auch für jeden, der ein Paar mit einer HSP unterstützen möchte – wie zum Beispiel ein Eheberater –, ist es wichtig, Hochsensibilität zu begreifen. Die neue Forschung macht es leicht, Hochsensibilität zu verstehen und sie als real einzuschätzen. Selbstverständlich können Sie, wenn Sie diesen Wesenszug bereits als real erleben und ernst nehmen und, zumindest im Augenblick, nichts zur wissenschaftlichen Forschung darüber lesen möchten, dieses Vorwort überspringen.
Warum wird Hochsensibilität oft nicht ernst genommen? Zum einen liegt es daran, dass der Wesenszug erst erkennbar wird, wenn man lange genug mit einer HSP zusammen ist, um deren bestimmte Bedürfnisse und Vorlieben zu bemerken. Das kann sich zum Beispiel auf das Verlangen nach mehr Pausen oder die Abscheu vor lauten Geräuschen beziehen. Hochsensibilität ist keine Eigenschaft wie die Haarfarbe, die Größe oder das Geschlecht. Trotzdem hat dieser Wesenszug meiner Meinung nach eine ebenso große Bedeutung wie das Geschlecht, denn er beeinflusst alle Aspekte des Lebens – die Art, wie Sie die Welt wahrnehmen und darüber denken, die Art von Arbeit, die zu Ihnen passt, und wie Sie mit anderen und diese mit Ihnen zurechtkommen. Manche Menschen beantworten jede Frage des Selbsttests Sind Sie hochsensibel? in diesem Buch mit Ja, und manche kreuzen bei jeder Frage „Nein“ an. Wir leben alle in den gleichen Gemeinschaften, aber wir haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse und wir können nicht sofort erkennen, wer sensibel ist und wer nicht. Solange man den Wesenszug nicht erkennt oder ihn nicht einmal benennen kann, werden die gewaltigen Unterschiede im Verhalten von Menschen allem Möglichen, nur nicht dem wahren Grund zugeschrieben. HSP neigen dazu, andere als grob oder dickfellig einzuschätzen; Nicht-HSP (nicht hochsensible Personen) halten HSP oft für eigen oder komplett neurotisch.
Ein weiterer Grund, warum Hochsensibilität von einigen Menschen nicht ernst genommen wird, ist die Tatsache, dass die Mehrheit der Menschen, nämlich 80 %, nicht hochsensibel ist. Da der Unterschied nicht sichtbar ist, glauben Nicht-HSP, dass alle anderen so sind wie sie, und selbst HSP denken manchmal, sie müssten so sein wie Nicht-HSP. Das kann in Beziehungen zu großen Problemen führen, denn wir neigen zu der Annahme, dass ein Mensch, der uns wirklich liebt, bereit sein müsste, bestimmte Verhaltensweisen zu ändern. Zum Bespiel sind Nicht-HSP oft davon überzeugt, dass doch jeder laute Restaurants oder Small Talk mag, und wenn nicht, dann ist er eben verschroben, schwierig oder zu anspruchsvoll. Dabei ist es genau dieser Unterschied, der geräuschvolle Lokale und triviale Unterhaltungen für die einen Menschen angenehm und für hochsensible Personen beinahe unerträglich macht. Noch einmal: Diese Charaktereigenschaft gibt es!
Die Grundlagenforschung
In Hochsensibilität in der Liebe geht es weniger um die Grundlagenforschung und mehr um die Recherchen, die ich für dieses Buch betrieben habe. Dabei habe ich mich mit Beziehungen befasst, in denen ein oder beide Partner hochsensibel sind. Zu der Forschung, die seit der Veröffentlichung dieses Buchs betrieben wurde, möchte ich jedoch anmerken und bekräftigen, dass das Konzept der Hochsensibilität zu jener Zeit bereits von anderen gründlich erforscht war – teilweise unter anderen Begriffen, die weniger genau waren. Auch ich und mein Mann haben uns mit unseren Forschungskollegen ausgiebig dem Thema gewidmet.
Unsere erste Forschungsarbeit wurde 1997 im Journal of Personality and Social Psychology, der am meisten geschätzten Fachzeitschrift in diesem Bereich, veröffentlicht. (Die Literaturhinweise zu allen anderen Forschungsergebnissen, die ich hier erwähne, finden Sie auf meiner Website www.hsperson.com unter dem Register „Forschung“.) Diese Abhandlung zeigte sieben Studien über das, was ich im wissenschaftlichen Kontext als „sensory processing sensitivity“, also ausgeprägte Sinnesverarbeitung, bezeichne. Der Selbsttest in diesem Buch wurde anhand dieser Studien entwickelt und statistisch belegt. Dafür wurden mehrere Hundert Personen, unter anderem mittels einer nach dem Zufallsprinzip durchgeführten Telefonumfrage, befragt. Dabei konnten wir nachweisen, dass sich Sensibilität sowohl von Introvertiertheit als auch vom sogenannten Neurotizismus, also der Tendenz, ängstlich oder depressiv oder beides zu sein, grundlegend unterscheidet. In dieser Veröffentlichung von 1997 begann ich auch, die evolutionären Gründe dafür zu erläutern, dass dieser Wesenszug (manchmal auch Plastizität, Flexibilität, Empfänglichkeit oder Kontextsensibilität genannt) prozentual etwa gleich oft, nämlich zu 20 %, bei vielen unterschiedlichen Spezies zu finden ist. Der Grund hierfür liegt darin, dass es je nach Situation zwei optimale Überlebensstrategien in den jeweiligen Lebensumständen geben kann. Die Strategie sensibler Menschen ist, alles gründlich zu beobachten und alle Faktoren auszuwerten, bevor sie handeln. Da sensible Menschen zögerlich handeln und manchmal einer Situation entfliehen, wurde dieser Wesenszug früher mit den Begriffen schüchtern, ängstlich oder furchtsam in Verbindung gebracht. Die andere Strategie besteht darin, rasch und „mutig“ zu handeln, ohne sich große Gedanken über die Situation zu machen.
Über Neurotizismus und HSP
In der Abhandlung von 1997 haben wir festgestellt, dass Hochsensibilität mit Neurotizismus in Verbindung gebracht werden kann, allerdings nur bei Personen mit einer unglücklichen Kindheit. In dem Bestreben, diese Tatsache mittels noch stärker fokussierten Methoden zu belegen, haben wir eine weitere Studie durchgeführt, die 2005 im Personality and Social Psychology Bulletin veröffentlicht wurde. Anhand von vier Umfragen und einem Experiment konnten wir darlegen, dass erwachsene HSP, die eine schwierige Kindheit hatten – besonders hinsichtlich der Beziehung zu ihren Eltern –, eher als Nicht-HSP dazu neigen, depressiv, ängstlich oder schüchtern zu sein. HSP mit einer normalen, im Großen und Ganzen guten Kindheit wiederum hatten als Erwachsene nicht stärker mit diesen Problemen zu tun als Nicht-HSP. Bei unserem Experiment fanden wir heraus, dass HSP im Allgemeinen emotionaler auf positive wie negative Kritik reagierten, während Nicht-HSP kaum Reaktionen zeigten. Das erklärt möglicherweise, wodurch HSP in ihrer Kindheit stärker beeinflusst wurden.
Seit 1997 traten bei einer Reihe von Forschungsprojekten die gleichen Resultate zutage: HSP (und andere Menschen mit einem außergewöhnlichen Temperament), die in einer liebevollen Umgebung aufgewachsen sind, hatten als Erwachsene sogar noch weniger Probleme als Nicht-HSP und reagierten außerdem positiver auf Hilfsangebote. Diese Ergebnisse sind so eindeutig, dass Michael Pluess und Jay Belsky 2012 im Psychological Bulletin den Artikel „Vantage Sensitivity“ veröffentlichten. Sie trugen darin die Erkenntnisse aus vielen verschiedenen wissenschaftlichen Studien zusammen, die belegten, dass sensible Personen ein gutes Umfeld besser nutzen können als andere. Es ist natürlich richtig, dass viele sensible Menschen eine schwierige Vorgeschichte haben, welche ihre Beziehungen beeinflusst – ängstliches oder depressives Verhalten ist einer der häufigsten Gründe für das Scheitern einer Beziehung. Aber die gute Nachricht ist, dass HSP nicht zwangsläufig solche Probleme haben, und wenn doch, lassen sich diese sehr gut lösen, sofern sie die Unterstützung ihrer Partner oder, falls nötig, von Fachleuten bekommen.
Möglicherweise habe ich in diesem Buch nicht deutlich genug darauf hingewiesen, dass hochsensible Menschen manchmal...