1. Was genau ist eigentlich Hochsensibilität?
Schon zu allen Zeiten hat es diese Minderheit in der Bevölkerung gegeben, die deutlich sensibler ist als die Mehrheit, nur gab es dafür bis zum Ende des letzten Jahrtausends keinen Fachausdruck und kein Erklärungsmodell. Wahrscheinlich war eine gesteigerte Sensibilität auch zu keiner anderen Zeit ein so brisantes Thema wie in unserer modernen, leistungsbezogenen, konkurrenzorientierten, schnelllebigen, eng getakteten, multimedialen und reizerfüllten Welt.
Heute haben wir den Terminus Hochsensibilität und eine neurowissenschaftliche Erklärung. Beides erweist sich als sehr hilfreich – für die Hochsensiblen selbst sowie für die Menschen in ihrem privaten und beruflichen Umfeld, die mit ihnen in engerem Kontakt sind. Über das Phänomen Hochsensibilität gut Bescheid zu wissen ist meines Erachtens eine wesentliche Voraussetzung dafür, hochsensible Mitmenschen in ihrem Wesen und in ihrem Verhalten besser zu verstehen.
1.1 Sensibilität und Hochsensibilität
Sind wir nicht alle ein bisschen sensibel? Diesen Satz formuliere ich gern mit einem Schmunzeln in Anlehnung an den Werbeslogan „Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna?“ aus dem Jahr 1995. Im Ernst: Bevor ich auf Hoch-Sensibilität eingehe, will ich zunächst mit Ihnen auf die Sensibilität schauen, also bei einer Gemeinsamkeit zwischen allen Menschen beginnen.
Sensibilität bezeichnet sowohl die physische als auch die psychische Sensibilität; und ziemlich sicher hängt das eine mit dem anderen zusammen. In der psychologischen Bedeutung meint Sensibilität sowohl die emotionale Verletzlichkeit, die Kränkbarkeit, als auch die soziale Fähigkeit, anderen empathisch und feinfühlig zu begegnen. In der physiologischen Bedeutung ist Sensibilität die Fähigkeit des Körpers, mithilfe von Sinneszellen unterschiedliche Reize (Informationen über die Umwelt und den eigenen Organismus) aufzunehmen, zu verarbeiten und auszuwerten und daraufhin entsprechende lebensdienliche Reflexe und Reaktionen auszulösen.
Damit Informationen überhaupt empfangen werden können, bedarf es der Sensibilität, der Reizbarkeit, der Irritabilität des Nervensystems. Sensibilität ermöglicht es jedem mit einem Nervensystem ausgestatteten Lebewesen, sich auf Gegebenheiten und Geschehnisse in der Umwelt einzustellen, sich von Gefahren fernzuhalten bzw. sie abzuwehren und Nützlichem entgegenzustreben. Im Lauf der Evolution scheint es sich für den Erhalt einer Art bewährt zu haben, dass ein kleiner Teil (circa ein Fünftel) der Gesamtpopulation eine überdurchschnittlich hohe Sensibilität aufweist. Das ist bei Menschen so, und Forscher haben das auch bei zahlreichen Tierarten festgestellt.
Natürlich sind im einen wie im anderen Wortsinn alle Menschen sensibel, nur sind es die einen mehr, die anderen weniger. Eine Minderheit ist deutlich sensibler als die Mehrheit: die hochsensiblen Personen (HSP). Bei ihnen liegt genetisch bedingt eine außergewöhnlich hohe generelle Sensibilität vor (was nicht bedeutet, dass alle HSP in ihrer Kommunikation durchweg sensibel im Sinne von rücksichtsvoll, taktvoll und unaufdringlich sind).
Aufgrund seiner besonderen Eigenschaften ist das Nervensystem von HSP sehr leicht erregbar, das heißt, bei derselben Reizzufuhr ist bei ihnen das nervliche Erregungsniveau deutlich höher. Sie sprechen einerseits schon auf schwache Reize an, die für Nicht-HSP noch unter der Wahrnehmungsschwelle bzw. unter der Grenze für ein Störgefühl liegen, und erreichen andererseits bei anhaltenden und/oder starken Reizen deutlich eher als andere den Punkt, an dem sie überreizt sind – und oft auch sichtlich ‚gereizt‘ reagieren. Entsprechend länger dauert es bei ihnen dann, bis nach dem Wegfall des auslösenden Ereignisses die nervliche Erregung wieder abgeklungen ist und sie sich wieder beruhigt haben.
Den HSP eine überdurchschnittliche Sensibilität zuzuschreiben darf keinesfalls heißen, den Nicht-HSP Sensibilität überhaupt abzusprechen – was seitens der HSP gelegentlich geschieht, weil ihnen aus ihrem Blickwinkel eine geringere Sensibilität als ‚unsensibel‘ vorkommt. In meinen Coachings und Workshops für HSP betone ich deshalb immer, dass HSP die Eigenschaft Sensibilität nicht für sich ‚gepachtet‘ haben und sich auch nicht dazu verleiten lassen sollten, sich diesbezüglich in überheblicher Weise überlegen zu fühlen. Umgekehrt ist es natürlich unangebracht, jemandem sein hochsensibles Naturell zum Vorwurf zu machen. Viel passender ist es, wenn beide Seiten die Unterschiede wertneutral betrachten und sich um einen vernünftigen Umgang mit den Auswirkungen bemühen.
1.2 Das Konzept ‚High Sensitivity‘
Das Konzept der Hochsensibilität, auf das sich alle Experten und Autoren heute beziehen, geht zurück auf Dr. Elaine N. Aron, eine US-amerikanische klinische Psychologin, Psychologieprofessorin und Psychotherapeutin in eigener Praxis (heute im Ruhestand, aber noch aktiv als Botschafterin für HSP). Ursprünglich gehörte sie zusammen mit ihrem Mann Dr. Arthur Aron (ebenfalls Psychologieprofessor) zu den führenden Wissenschaftlern, die sich mit der Psychologie der Liebe und enger Beziehungen beschäftigten. Anfang der 1990er-Jahre begann sie dann, sich eingehend mit dem angeborenen Wesenszug hoher Sensibilität auseinanderzusetzen.
In ihrem ersten Buch schreibt sie, wie bedeutsam es sei, dass sie aus eigener Anschauung die besondere Eigenschaft einschließlich der Vorzüge und Herausforderungen kenne. Sie erzählt von sich, sie habe über Jahre hinweg diverse Probleme ihrer Kindheit aufgearbeitet, wobei sich ihre Sensibilität zum zentralen Thema entwickelte: „Da war mein Gefühl, mit einem Makel behaftet zu sein. […] Und dann war da noch die Isolation, in die ich mich aufgrund meiner Empfindsamkeit zurückzog. Aber als ich Einsicht in alles gewann, war ich in der Lage, ins Leben zurückzukehren.“ (Aus Sind Sie hochsensibel?)
Aron führte selbst umfangreiche wissenschaftliche Studien durch und wertete zudem zahlreiche Forschungsarbeiten anderer Wissenschaftler aus, die sich ihrer Auffassung nach auf das Persönlichkeitsmerkmal ‚hohe Sensibilität‘ bezogen, wenn auch mit einem anderen Verständnis der Zusammenhänge und anderen Bezeichnungen (wie zum Beispiel ‚Hochreaktivität‘ bei Jerome Kagan).
Dabei kristallisierte sich durchgängig eine Minderheitsgruppe von 15 bis 20 Prozent der Menschen heraus – zu der gleichermaßen Jungen/Männer und Mädchen/Frauen gehören –, die eine deutlich höhere Sensibilität aufweist als die Mehrheit. Für den ‚Trait‘ (angeborenen, unveränderlichen Wesenszug) der hohen Sensibilität prägte Elaine Aron den allgemeinsprachlichen Begriff ‚High Sensitivity‘ (Hochsensibilität) bzw. den präziseren wissenschaftlichen Terminus ‚Sensory Processing Sensitivity‘ (SPS, Reizverarbeitungssensibilität), der von Aron und anderen Forschern auf diesem Gebiet bis heute verwendet wird. Die Abkürzung HSP steht im Englischen für Highly Sensitive Person, im Deutschen für Hochsensible Person(en). Im deutschen Sprachraum findet man gelegentlich auch die Abkürzung HSM für Hochsensibler Mensch.
Aron war es sehr wichtig, eine neutrale Bezeichnung für das Phänomen zu finden, die zum Ausdruck bringt, dass hier eine Normvariante in der Ausprägung des Nervensystems vorliegt (die einhergeht mit einer größeren Empfänglichkeit gegenüber Reizen aller Art), nicht aber eine Anomalie oder eine krankhafte Störung. Ihr Anliegen war und ist es, dass Hochsensibilität nicht länger falsch verstanden und verwechselt wird mit Gehemmtheit, Schüchternheit, Ängstlichkeit oder gar einer Sozialphobie, auch nicht mit Introvertiertheit und Neurotizismus. Aron wollte aufräumen mit der negativen Voreingenommenheit gegenüber HSP und diesen Aspekt der Persönlichkeit in einem positiveren Licht erscheinen lassen. Aron: „Am besten betrachtet man diesen Wesenszug als neutral. Er wird erst dann zum Vor- oder Nachteil, wenn man in ganz bestimmte Situationen gerät.“ (Aus Sind Sie hochsensibel?)
Bis heute gibt es keine einheitliche, klar gefasste und allgemein anerkannte Definition des Phänomens Hochsensibilität. In deutschsprachigen medizinischen und psychologischen Lexika sucht man den Begriff Hochsensibilität bislang vergeblich. Nach Arons Kurzdefinition hat eine HSP ein empfindliches Nervensystem, bemerkt Feinheiten in ihrem Umfeld und ist leichter überflutet von einer stark stimulierenden Umgebung.
Elaine Arons Wirken ist es zu verdanken, dass die Erkenntnisse über Hochsensibilität Beachtung in Wissenschaftskreisen gefunden haben. Der erste wissenschaftliche Artikel, den sie gemeinsam mit ihrem Mann Arthur Aron schrieb, erschien 1997 im renommierten Journal of Personality and Social Psychology. Weitere folgten. (Bei Interesse finden Sie eine Liste wissenschaftlicher Arbeiten von Aron und anderen unter http://hsperson.com/research.)
Neben wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlichte Elaine Aron eine ganze Reihe populärer Bücher. Das erste und bekannteste The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You kam in den USA 1996 heraus, ist mittlerweile über 100.000-mal gedruckt und in 18 Sprachen übersetzt worden. In deutscher Sprache erschien es im Jahr 2005 unter dem Titel Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen (bei nachfolgenden Nennungen nur noch mit dem Haupttitel benannt).
Elaine Aron hat einen Test mit 27 Fragen ausgearbeitet, der von Forschern und Psychologen zur Erfassung der Hochsensibilität genutzt wird (die sogenannte HSP-Skala). Eine...