Nicht denken, nur tun
Macht Denken unglücklich?
Überwinde Denken und Verstrickung, dann liegt alles offen vor dir.
Gut, und was heißt das für mich, für den normalen Menschen?
Aus meiner Sicht macht zu viel Denken unglücklich. Ja, ich kann sagen, du wirst glücklich, zufrieden und mit Freude erfüllt sein, wenn du gelernt hast, das Gedankenkarussell in deinem Kopf anzuhalten.
Warum kannst du das mit solch einer Sicherheit sagen? Ist das nicht etwas anmaßend? Schließlich hat das Denken unsere Zivilisation weit vorangebracht; viele nützliche Dinge sind durch Denken entstanden.
Ist das so?
Nicht …?
Vernunft ja, aber Denken oder gar Grübeln? Hat je ein Gedanke dich glücklich gemacht? Dabei meine ich wirklich nur den reinen Gedanken, nicht das Gefühl, das durch ihn ausgelöst wird. Viele Menschen denken zum Beispiel über die Liebe nach, und noch mehr über die Frage, warum sie die Liebe in ihrem Leben nicht finden können. Und warum finden sie die Liebe nicht? Weil sie über Liebe nachdenken, statt Liebe zu leben, die Liebe in sich selbst zu spüren.
Nun ja, für die Liebe mag das so zutreffen, aber der normale Alltag ist doch eher geprägt vom Denken.
Wann entstehen denn die tiefen, echten, großen, heilsamen Erfahrungen, Gefühle in uns? Sicherlich nicht bei einer wirtschaftspolitischen Diskussion über die Anhebung oder Senkung irgendwelcher Steuern. Sondern dann, wenn ein Künstler eins wird mit seinen Arbeitswerkzeugen, wenn ein Maler verschmilzt mit Pinsel und Leinwand. Auch ein Musiker wird manchmal eins mit seinem Instrument und dem Ton. Dann entsteht ein Welthit, weil er die Menschen auf einer anderen, besonderen Ebene – dem Herzen – berührt. Oder der Spieler auf dem Fußballplatz bildet plötzlich eine Einheit mit dem Ball; sein Fuß und das Leder sind verbunden, und dann schießt er das entscheidende Traumtor. In solchen Momenten passiert das Wunderbare, genau dann entstehen Liebe, Freude, Hingabe – und das ist das Leben, das ist Glück.
Aber nicht jeder ist ein Superspieler wie Mario Gomez! Das normale Leben ist doch etwas nüchterner, wenn nicht sogar sehr viel härter. Es hat wenige Augenblicke des Beseeltseins.
Diesen Zustand, den ich beschreibe, kennen die meisten Menschen auch aus ihrem Alltag: die Arbeit an einem Frühlingstag im eigenen Garten oder das Spielen mit den Kindern am Badesee, die Geburt eines Kindes, der Moment des ersten oder des neuen Verliebtseins, das Wiedersehen mit einem langjährigen Freund – da zählt immer nur der Moment. Wenn wir uns einmal in Ruhe hinsetzen und nachfühlen, dann fällt jedem garantiert auch so ein Moment, ach, bestimmt sogar viele solcher Momente ein.
Ich behaupte: Es gibt kaum einen Menschen auf dieser Erde, der nicht schon solche Momente erlebt hat.
Was passiert in diesen, ich nenne sie mal »Momenten der Liebe«?
Da ist ein Mann, da ist eine Frau, da ist ein Kind. Er, sie, es haben »sich« völlig vergessen und leben, erleben allein den Augenblick. Das ist der Zauber, der aufscheint, wenn der Mensch seinem »wahren Wesen«, seinem Herzen, seinem Selbst – oder wie auch immer der Mensch sein Innerstes bezeichnet – begegnet. In solchen Momenten ist nur noch Sein.
Ja, solche Momente kenne ich auch, das stimmt. Aber so ganz ohne Denken geht’s trotzdem nicht, oder?
Ich sage nicht, dass Denken unsinnig oder gar überflüssig ist. Deine Frage war: Macht Denken unglücklich? Denken an sich ist ein sehr nützliches Werkzeug – so wie ein Hammer gut ist, um einen Nagel in die Wand zu schlagen.
In dem Moment aber, in dem ich denke, ich bin der Hammer – im Sinne des englischen Spruchs »If I have a hammer in my hand, everything looks like a nail« –, in diesem Moment fällt ein großer Teil von dem, was mich ausmacht, was mein Wesen ausmacht, ab. Und dann ist Denken nicht mehr nützlich. Das ist genau der Unterschied zu den Situationen, die ich vorher beschrieben habe. Der Spieler denkt nicht, er ist der Ball. Er verschmilzt mit dem Ball, er ist tatsächlich eins mit ihm. Das nenne ich auch »von etwas erfüllt sein«.
Und das ist es dann auch, was mich glücklich sein lässt?
Ja, das, was hinter dem Denken ist. Was hinter den Wolken des Denkens in mir selber ist.
»Was hinter den Wolken des Denkens in mir selber ist« – das hört sich großartig an, und was ist das?
Das ist die Sonne des Herzens. Das ist das reine Wesen.
Super, noch zwei tolle Begriffe – und wer soll das verstehen? »Sonne des Herzens«, »das reine Wesen«, uff.
By the way: Wie spreche ich einen Zen-Meister eigentlich richtig an?
Sensei, das ist der japanische Begriff für »Lehrer« ganz allgemein. Mit meinen Schülern und auch den meisten Seminarteilnehmern duze ich mich, Hinnerk ist dann mein Name. Syobu Sensei geht auch. Syobu ist der buddhistische Name, den mir mein Lehrer gegeben hat, ein alter Samurai-Name, er bedeutet so viel wie »Respektabler Zen-Krieger«. Auf »Herr Polenski« reagiere ich auch – aber das sind alles nur Namen, das bin nicht ich.
Gut, ich nehme Sensei.
Nun Sensei, was ist die »Sonne des Herzens«, »das reine Wesen«?
Das ist Zen-Sprache.
Was ist »Zen-Sprache«?
Zen-Sprache ist eine Kommunikation ohne die Logik des Verstandes. »Die Sonne des Herzens« ist also nicht die bekannte Sonne, die am Himmel steht, sondern umschreibt die Fähigkeit, mitten in einem Geräusch in eine Stille zu gehen, wo alle Gedanken zur Ruhe kommen. Wenn alle unheilsamen Gefühle und alle unruhigen Energien und Körperempfindungen durch die Übung oder durch einen besonderen Moment zur Ruhe kommen – dieser Zustand umschreibt »das reine Wesen«.
Kann ich auch einfach sagen, dann bin ich glücklich und zufrieden, erfüllt von innerem Frieden und Freude?
So ungefähr, ja.
Prima, wer will das nicht – raus aus dem Hamsterrad, glücklich und in Frieden sein. Aber wie geht das?
Seit vielen tausend Jahren gibt es diese Wege auf dieser Welt. Ein Weg ist das Zen. Ein anderer Weg ist der tibetische Buddhismus unter der Leitung des Dalai Lama. Aber auch christliche Mystiker haben bis etwa ins 14. Jahrhundert einen Weg verfolgt. Genauso finden wir in Indien, in der indischen Religion, dem Hinduismus, verschiedene Wege.
Was genau ist Zen? Ein Parfüm? Ein Zen-Garten, den ich bei Tchibo kaufen kann? Bilder an der Wand und Buddhas auf dem Bücherregal?
Wenn der Geist still wird, wird die Welt wahr.
Zen ist weder eine Lehre noch ein Konzept. Es ist auch keine Religion, kein Dogma und keine Lebensphilosophie. Zen ist lebendig. Zen ist ein Weg – nicht mehr und nicht weniger.
Und wohin führt dieser Weg?
Dieser Weg führt zu unserem wahren Kern, dem wahren Wesen eines jeden Menschen, zu unserem Selbst. Dieses Selbst zu erkennen, das ist das vermeintliche Ziel. Vermeintlich deshalb – und das ist das Paradoxe oder Verwirrende für viele Menschen –, weil es im Zen eigentlich nichts zu erreichen gibt, denn unser Selbst ist ja schon da. Das war es immer und wird es immer sein.
Dieses Selbst also muss nicht gesucht und kann folglich auch nicht gefunden werden. Wie gesagt, es ist ja immer da – jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, in jedem Atemzug. Doch wir sehen es nicht, wir fühlen es nicht, wir erkennen es nicht. Das ist die Schwierigkeit. Und das Beste, was uns in diesem Leben passieren kann, ist, unser Selbst, unseren wahren Kern zu entdecken, zu erfahren. Eben diese Erfahrung lässt uns dann wirklich glückselig werden. Diese Entdeckung ist der wirkliche Beginn unseres Lebens.
Und wie hilft mir Zen dabei?
Die Praxis des Zen löst die Hindernisse auf, die es uns jetzt noch nicht ermöglichen, unser »wahres Selbst« zu sehen. Geht man diesen Weg, dann führt er zu einem tiefen Glück, unabhängig von allen Bedingtheiten, frei, offen und unbegrenzt. Mit Bedingtheit meine ich die Beziehung, die es normalerweise zwischen den Dingen, den Objekten gibt: Das eine ist gut, darum ist das andere böse usw.
Aber für mich ist wichtig zu betonen, dass es seit vielen tausend Jahren verschiedene Wege gibt, die zu unserem »wahren Selbst«, zu unserem »Wesen« führen. Zen ist einer dieser Wege. Letztlich ist es auch egal, auf welchem Weg der Mensch »sich selber« begegnet, wichtig ist nur, dass er es irgendwann tut. Mein Weg ist Zen.
Einige Schüler fragten ihren alten Meister:
»Du scheinst immer glücklich und zufrieden zu sein,
wie machst du das, was ist dein Geheimnis?«
Der Meister antwortete:
»Wenn ich schlafe, dann schlafe ich.
Und wenn ich esse, dann esse ich.
Und wenn ich rede, dann rede ich.«
Die Fragenden waren irritiert:
»Was soll das? Das tun wir auch.
Wir essen, schlafen und reden.
Aber wir sind nicht glücklich so wie du.
Was machst du anders als wir?«
Es kam wieder...