Einführung
Heiliger Boden
Unsere Seele wird manchmal an Orten geprägt und geformt, die wir uns nie hätten träumen können, und auf eine Art und Weise, wie wir es niemals erwartet hätten. Für mich geschah das im kalifornischen Box Canyon.
Der felsige Box Canyon3 liegt zwischen dem Simi und dem San Fernando Valley westlich von Los Angeles. Früher wurden an diesem Ort B-Movies, Cowboyfilme und Fernsehwestern wie Lone Ranger gedreht. Man findet hier einen bunten Mischmasch von Behausungen – zum Beispiel ein Schloss, das ein Postangestellter in den 1940er-Jahren errichtete, ein umgebauter Wasserturm oder auch ein zweigeschossiges Sperrholzgebäude, das über einem Schuppen errichtet wurde. Die Bewohner stehen in dem Ruf, Bebauungspläne nicht sonderlich ernst zu nehmen, und man hört immer wieder davon, dass hier auf städtische Mitarbeiter geschossen wird und man ihnen zuweilen die Autoreifen aufschlitzt. Unbefestigte Straßen führen zu Behausungen, vor denen ein Schild mit der Aufschrift „Betreten für Unbefugte verboten“ prangt oder auch die vor Ort gebräuchlichere Variante: „Dieses Grundstück wird durch das Waffengesetz geschützt.“ Luxusvillen mit eintausend Quadratmetern Wohnfläche stehen neben einfachen Hütten, in deren Vorgärten Rostlauben und landwirtschaftliche Maschinen stehen. Hier wohnen Hippies, konservative Hinterwäldler und Aussteiger, und hin und wieder stößt man auch auf einen Drogendealer. 1948 gründete ein frisch geschiedener Mann aus San Francisco, der sich Krishna Venta nannte, eine Kommune namens WKFL, was die Kurzfassung von Wisdom, Knowledge, Faith, and Love ist („Weisheit, Erkenntnis, Glaube und Liebe“). Besucher wurden mit dem Schild begrüßt: „Ihr, die ihr hier eintretet, geht auf heiligem Boden.“ Er behauptete, 244000 Jahre alt und Jesus Christus in Person zu sein. Dann kam er gemeinsam mit neun anderen Mitgliedern der Gruppe ums Leben, als zwei eifersüchtige Ehemänner im WKFL eine Bombe hochgehen ließen. Er hatte ihren Frauen wohl etwas zu viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Der Box Canyon hatte noch zwei andere mehr oder weniger berühmte Bewohner: Der eine war ein Sektenführer und Massenmörder namens Charles Manson, der andere hieß Dallas Willard und war ein Schriftsteller und Intellektueller. So viele unterschiedliche Möglichkeiten stehen der menschlichen Seele offen. Dallas war ein emeritierter Philosophieprofessor von der University of Southern California (USC). Vor über zwei Jahrzehnten besuchte ich ihn an einem brütend heißen Augusttag zum ersten Mal. Ich hatte gerade ein Buch von ihm gelesen, das mich so tief berührt hatte wie noch nie ein Buch zuvor. Damals war ich Pastor einer kleinen Gemeinde im kalifornischen Simi Valley, und ich war überrascht, als ich erfuhr, dass Dallas nur einige Meilen von mir entfernt lebte. Ich schrieb ihm einen Brief und erzählte ihm, wie viel mir sein Buch bedeutete, und zu meiner Überraschung schrieb er zurück und lud mich ein, ihn zu besuchen.
Dass ich ihn aufsuchte, lag vermutlich zum großen Teil daran, dass er (in meiner kleinen Welt) eine Berühmtheit war, und ich glaubte, dass ein wenig von diesem Ruhm auf mich abfärben würde, wenn ich mich nur lange genug in seiner Gegenwart aufhielt. Und vielleicht konnte er mir ja auch helfen, meinen Job besser zu machen.
Damals wusste ich noch nicht, was ich im Lauf vieler Jahre noch lernen sollte: dass er Seelen heilen konnte. Ich wusste nicht, dass sein Haus eine Art geistliches Krankenhaus war. In der katholischen und der anglikanischen Kirche gibt es Geistliche, die als Kurate bezeichnet werden und in der Seelsorge tätig sind. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „Fürsorger“ oder „Pfleger“. Dallas war in diesem Sinn der erste Kurat, den ich kennenlernte, auch wenn das kein Titel ist, der von seiner Universität verliehen wird. Von Dallas würde ich etwas über die Seele erfahren, das wusste ich, obwohl ich zu dieser Zeit noch keine Ahnung hatte, wie hungrig und durstig meine eigene Seele war. Ich wusste nur eines: Wenn Dallas in die Ferne blickte, als könnte er dort etwas sehen, das ich nicht sehen konnte, und wenn er dann darüber sprach, wie gut Gott ist, fing ich an zu weinen.
Vor jenem ersten Besuch wusste ich nur, dass Dallas an der University of Southern California Philosophie lehrte und über Themen wie Jüngerschaft und Nachfolge schrieb. Vor meinem inneren Auge sah ich immer einen Anglikaner von der Ostküste, der Sherry trank, Pfeife rauchte und ein Tweedjackett mit Ellenbogenflicken trug.
Falsch gedacht.
Als ich die richtige Hausnummer gefunden hatte, sah ich es: ein kleines Haus hinter einem weißen Palisadenzaun.
Als er es fünfzig Jahre zuvor gekauft hatte, hatte man von dort einen herrlichen Ausblick auf einen See, der mittlerweile ausgetrocknet ist. Heute breitet sich vor dem Betrachter das von Smog erfüllte San Fernando Valley aus.
Das Haus war spärlich möbliert, die Einrichtung alt und billig. Vor allem Bücher füllten die Räume – und Dallas’ Kopf. Vierzig Jahre zuvor hatte man im Wohnzimmer eine Klimaanlage eingebaut, die so laut war wie ein Düsentriebwerk, sodass man brüllen musste, um sich zu verständigen, wenn sie in Betrieb war, was jedoch nicht allzu häufig vorkam. Dass Dallas und seine Frau Jane nicht materialistisch eingestellt waren, war ebenso offensichtlich wie dass der Papst höchst selten mit Frauen ausgeht. Dallas erzählte mir von einem Bauarbeiter, mit dem er sich manchmal traf, um ihn seelsorgerlich zu beraten. (Die Vorstellung, dass ein verdreckter Betonbauer mit einem gelehrten Philosophen lange Gespräche über Gott und die Seele führt, ist ergreifend.) Nachdem der zum ersten Mal Dallas’ Haus gesehen hatte, erzählte er seiner Frau: „Schatz, heute bin ich endlich einem Menschen begegnet, der noch schlechter eingerichtet ist als wir.“ Ich glaube, Dallas verstand das als Kompliment.
Ich war nervös, als ich an seine Tür klopfte, doch in seiner Gegenwart musste man die eigene Nervosität einfach ablegen. „Hallo, Bruder John“, begrüßte er mich, und sofort fühlte ich mich angenommen. Er bat mich herein und bot mir ein Glas Eistee an. Dann setzte er sich in seinen Lieblingssessel, der gegenüber von einem alten Sofa stand.
Dallas war größer, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Mir war nicht bekannt gewesen, dass er während seiner Collegezeit Basketball gespielt hatte. Er hatte graue Locken, trug eine Brille, und seine Kleidung wies darauf hin, dass er sich schon vor langer Zeit den Ausspruch Jesu zu eigen gemacht hatte: „Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: … Womit werden wir uns kleiden?“ Als Dallas seiner zukünftigen Frau in einer kleinen Bibelschule, dem Tennessee Temple, zum ersten Mal begegnet war, war ihr aufgefallen, dass er keine Socken trug. Sie hatte angenommen, dass Dallas eben ein Rebell war, denn sie hatte nicht gewusst, dass er sich in Wirklichkeit keine leisten konnte.
Seine äußere Erscheinung war unauffällig, mit zwei Ausnahmen. In seiner Stimme war einerseits ein Anflug von britischer Präzision zu vernehmen, den sich offenbar nahezu alle Philosophen aneignen, doch man hörte andererseits auch noch die sprachlichen Gepflogenheiten der Menschen heraus, die in den Bergen Missouris leben. Was die Skala des Denkens und Fühlens angeht, so war Dallas praktisch ein reiner Kopfmensch. Doch manchmal, wenn er betete oder redete, lag in seiner Stimme ein Tremolo, das darauf hindeutete, dass sein Herz fast überfloss, weil er über wunderbare und doch unsichtbare Dinge staunte.
Seine zweite bemerkenswerte Eigenschaft war, dass er niemals in Eile war. Jemand sagte einmal über ihn: „In seiner Zeitzone würde ich gerne leben.“ Wenn sein Haus in Flammen stünde, so vermutete ich, hätte er sich durchaus hastig bewegt, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch darüber hinaus vermittelten seine Mimik und seine Körpersprache, dass es keinen Ort gab, an dem er in diesem Augenblick lieber gewesen wäre, und dass es nichts gab, das ihm irgendwelche Sorgen bereitet hätte.
Viele Jahre später zog ich nach Chicago. In meiner neuen Gemeinde gab es unglaublich viel zu tun, und deshalb rief ich Dallas an, um ihn zu fragen, was ich tun müsste, um geistlich gesehen gesund zu bleiben. Während wir miteinander sprachen, stellte ich ihn mir vor, wie er in seinem Wohnzimmer saß. Er machte eine lange Pause – Dallas machte immer eine lange Pause – und dann sagte er langsam: „Du musst die Hetze erbarmungslos aus deinem Leben entfernen.“ Das schrieb ich mir schnell auf. Die meisten Menschen machen sich Notizen, wenn sie mit Dallas reden; ich habe sogar gesehen, dass seine Frau hin und wieder mitschrieb. Also, meine tut das nicht, wenn wir uns unterhalten.
„Na gut, Dallas“, erwiderte ich, „das habe ich verstanden. Welche anderen geistlichen Kleinode hältst du noch für mich bereit? Ich habe nicht viel Zeit, und ich will so viele geistliche Weisheiten mitnehmen, wie nur irgend geht.“
„Nein, einen anderen Rat habe ich nicht für dich“, meinte er und sah großzügig über meine Ungeduld hinweg. „Du musst erbarmungslos die Hetze aus deinem Leben entfernen. Die Hektik ist der größte Feind deines geistlichen Lebens.“
Du musst erbarmungslos die Hetze aus deinem Leben entfernen. Die Hektik ist der größte Feind deines geistlichen Lebens.
Dallas Willard
Als ich bei unserer ersten Begegnung an meinem Eistee nippte, erkundigte sich Dallas nach meiner Familie und meiner Arbeit. Als das Telefon klingelte – damals gab es weder Handys noch Anrufbeantworter –,...