Kapitel zwei
Ich wurde in einer Winternacht als Hannah Kirsten Friedrich geboren. Es war eine Nacht, in der das öffentliche Leben für kurze Zeit stillstand und unter Schneemassen zu ersticken drohte, die in dicken Flocken vom Himmel fielen. Als watteweich bezeichneten meine Eltern diese Nacht, in der sie das Glück des ersten Kindes kaum begreifen konnten. Erdrückend und überladen nannte ich den Tag meiner Geburt. Nachträglich, denn an meine Entbindung konnte ich mich freilich nicht mehr erinnern. Doch schon damals konnte ich meinem Leben wenig Positives entlocken.
Meinen Eltern verdanke ich auch meine Schwester Magdalena, die sieben Jahre nach mir das Licht der Welt erblickte, was nicht zwingend dazu beitrug, ein gutes Schwesternverhältnis zu entwickeln, da unsere Interessen zu unterschiedlich waren und bis heute geblieben sind.
Mein Vater verstarb, als ich gerade damit begann, der Kindheit zu entwachsen und neue Fähigkeiten an mir zu entdecken. Gewaltsam entriss mir sein Tod einen Lebensabschnitt. Der Prozess des Erwachsenwerdens wurde binnen weniger Stunden zur festen Zeiteinheit, die keinen Spielraum für Improvisationen ließ. Mein Leben war von einem Tag zum anderen in zwei Abschnitte geteilt worden. Nämlich in die Zeit vor und nach dem Tod meines Vaters. Ohne Vorbereitung entließ man mich in eine Welt, die ich weder kannte noch wollte. Über Nacht wurde ich erwachsen.
Vielleicht ist dies die Erklärung, weshalb mein Leben bis heute einer Kette von Frustrationen gleicht, unterbrochen nur von kleinen Stückchen der Zufriedenheit. Erfüllung, die ich zu Beginn meiner Ehe mit Ben empfand. Befriedigung, mit dem begehrten Ziel, eine glückliche Ehe zu führen. Doch was von der Ehe mit Ben übrig blieb, bemaß sich derzeit auf wenige Einrichtungsgegenstände, die man mir mit der Scheidung zugesprochen hatte, und der Erfahrung, von gesetzlichen Verbindungen in Zukunft die Finger zu lassen.
Nach zehn Schuljahren und noch während der Trauerzeit um meinen Vater begann meine Ausbildung zur Bürokauffrau. Viele Jahre versuchte ich vergebens, diesen Beruf als Berufung anzusehen. Doch ich verspürte wenig Drang nach einer Lebensaufgabe hinter dem Schreibtisch. Im Gegenteil. Zunehmend empfand ich meinen Beruf als ermüdend, und die daraus resultierende Unlust gefiel mir ganz und gar nicht. Als mein Arbeitgeber wegen mangelnder Aufträge Konkurs anmeldete und ich somit, quasi über Nacht, auf der Straße stand, sah ich den Augenblick als gekommen, mich endlich zu verwirklichen. Doch die Realität hielt auch weiterhin kein wünschenswertes Ergebnis bereit.
Die Beschäftigung als Tierpflegerin eines Streichelzoos scheiterte kläglich, zumal ich die beträchtliche Angst vor den zahmen Kleintieren nicht überwinden konnte.
Meine Laufbahn in einer Lotto-Annahmestelle wurde beendet, als ich mich weigerte, einem überheblich auftretenden Kunden die fünftausend Euro auszubezahlen, die dieser sich mit einem Los errubbelt hatte. Für mich war das Glück anderer Menschen nur mit Mühe zu ertragen.
Auch die Zeit als Mittagsbetreuung für Schulkinder war begrenzt. Zwar war ich bei den Kindern durchaus beliebt, doch bemerkte ich rasch, dass ich den Kindern fremder Menschen nur wenig abgewinnen konnte. Was nützte es da, dass die Kinder mich, aber ich die Kinder nicht leiden konnte?
Zuletzt verkaufte ich Bioprodukte in einem Reformhaus. Mir fiel es schwer, Waren anzupreisen, die ich nur gering wertschätzte. Zudem schrie am Ende eines Arbeitstages alles in mir nach einer Revolte. Immer öfter fand ich diese in einer ausgewogenen und fettreichen Fast-Food-Ration. Mit angeschlagenem Selbstbewusstsein, der stetigen Gewichtszunahme und der nur mittelmäßig ausgeprägten Ausdauer zum Scheitern verurteilt, gönnte ich mir zuletzt eine berufliche Auszeit. Und in dieser Auszeit beendete ich gestern als Erstes meine Ehe mit Ben. Erfolgreiche Wege sahen anders aus, doch tröstete mich der Gedanke, dass ein Neuanfang durchaus mit einer Scheidung beginnen konnte.
Auf gleiche Weise kritisch beäugte ich mein Äußeres. Während manches Individuum von meinen Rundungen begeistert wäre, betrachtete ich meine ausgeprägten Kurven als lästiges Übel. Die Zuteilung meiner Bauteile gestaltete sich quasi asymmetrisch. Während meine Schuhgröße nicht über den Besuch einer Kinderabteilung hinausragte, fand ich, dank der viel zu groß geratenen Brüste, Shirts und Blusen nur im XXL-Format. Ich konnte mich als X-Size-Model bezeichnen, was Großartiges versprach, letzten Endes aber dem gleichkam, was ich selbst für mich empfand: einen Moppelkörper auf zu klein geratenen Füßen!
Mein erster Morgen als unabhängige Frau begann mit höllischen Kopfschmerzen. Auf dem Nachttisch befand sich ein Glas Wasser. Ein Päckchen Aspirin lag demonstrativ daneben.
»Guten Morgen, zukunftsorientierte zügellose Frau Bergmann. Wenn du heute in hiesige Atmosphäre einschwenkst, melde dich bitte! Wollen wir heute Abend feiern gehen? Küsschen (oder besser nicht, für den Fall, dass du dich bereits übergeben hast) Claudi.«
Müde zerknüllte ich den Zettel und zielte auf den blauen Eimer, den meine fürsorglichen Freundinnen gestern Abend in der Nähe des Bettes bereitgestellt hatten. Dankbar griff ich zum Aspirin und ließ mich zurück in das Kissen fallen. Noch war ich nicht bereit, irgendjemandem gegenüberzutreten. Auch nicht »gegenüberzuhören«, den feindlichen Blick auf das klingelnde Telefon gerichtet.
»Ich bin nicht da«, maulte ich ins Telefon. Darin bestätigt, meinen Zustand damit ausreichend erklärt zu haben, erteilte ich mir das Recht aufzulegen. Unter meinem Haaransatz dröhnte es wie am Frankfurter Großflughafen. Als das Telefon erneut läutete, versuchte ich mit monotoner Computerstimme, den Anrufer zur Aufgabe zu zwingen.
»Hier spricht die Enterprise.« Dabei hielt ich den Hörer falsch in den Händen und drehte ihn beschämt in die richtige Richtung.
»Leg nicht auf, Hannah!«
»Doro?«
»Ja«, flüsterte diese.
»Warum sprichst du so leise?«, wisperte ich, verängstigt, es könnte sich in der Tat um einen internationalen Lauschangriff auf die Enterprise handeln.
»Weil ich mir vorstellen kann, wie es in deinem Kopf hämmert.«
»Stell es dir besser nicht vor.«
»So schlimm?« Doros Mitleid hielt sich in Grenzen, was ich ihrer Stimmlage deutlich entnehmen konnte.
»Schlimmer!«, gab ich ehrlich zu. Claudia wäre begeistert von meinem präzisen Einwortsatz, und ich versprach mir, in Zukunft öfter auf diese Form der Kommunikation zurückzugreifen, bei der man nicht lange um den heißen Brei herumreden musste, sondern eine Gegebenheit mit Präzision auf den Punkt bringen konnte.
»Hannah, ich habe nachgedacht.«
»Ehrlich?«, entgegnete ich mit der Einwortpräsenz meiner Freundin, nicht ohne auf einen ironischen Tonfall zu verzichten.
Für diese Erkenntnis musste mich Doro nun wirklich nicht behelligen.
»Über das, was du gestern gesagt hast«, fuhr diese unaufgefordert fort.
»Was habe ich denn gesagt, Doro?«
»Dass du dich verändern möchtest. Dass du selbstbewusster werden möchtest und dass du…«
Mit einem Ruck saß ich aufrecht im Bett.
»Aua«, stöhnte ich ins Telefon, denn die Schmerzen in der rechten Gehirnhälfte ließen sich nicht verleugnen. Oder saß der Schmerz links?
»Was ist passiert? Hast du dir weh getan?«
»Könntest du bitte … langsam . . . wiederholen, was . . . genau
. . . ich gesagt habe?«
»A … u …a?«
»Doro«, reagierte ich gereizt, »davor!«
»Ach so, dass du ein anderer Mensch werden willst.«
Jeder kennt diesen einen Moment, in dem es klüger wäre zu schweigen. Dies war der Augenblick, an dem ich es besser getan hätte.
»Hannah? Sag bitte etwas«, flehte Doro in meine rechte, dem Telefon zugewandte Gehirnhälfte. Hoffnungsvoll wechselte ich den Hörer an die linke Seite, in dem Vertrauen, dort andere, erfreulichere Botschaften zu empfangen.
»Doro, ich habe es nicht so gemeint, wie du es vielleicht verstanden hast. Zudem habe ich getrunken. Aussagen unter Alkoholeinfluss entsprechen nicht immer der Wahrheit«, versuchte ich weiter die Situation zu retten, wissend, damit bei Doro nicht das Geringste zu erreichen.
»Natürlich.« Es entstand eine Gesprächspause, die durchaus ausreichte, um eine Doktorarbeit zu verfassen. »Aber diese Idee, Hannah, die du hattest, finde ich fantastisch. Das sage ich dir nicht nur als Freundin, sondern rate es dir, da aus therapeutischer Sichtweise feststeht, dass eine Veränderung dir guttun würde.«
Dies war eindeutig zu viel des Guten. Doro hatte mich – und das nicht zum ersten Mal – als Patientin analysiert. Soeben wurde mir laut und deutlich erklärt, dass ich mich erneut in einer tiefenpsychologischen Zwangslage befand. Ein Notfall, dem ohne sofortige Hilfeleistung – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht mehr zu helfen war.
»Können wir zuerst meinen augenblicklichen Zustand verändern?«, fragte ich niedergeschlagen, um etwas Zeit zu gewinnen.
»Natürlich.« Erneutes Stillschweigen, das mehr zu sagen vermochte als Worte. »Wie meinst du das, Hannah?«
»Kann … ich … bitte … schlafen?«, sprach ich in einer Sprechweise, die mir selbst für Legastheniker verständlich erschien, damit erst gar keine Missverständnisse entstanden.
»Natürlich kannst du schlafen, Hannah.« Doros Mitleid war beinahe schlimmer als ihr Stillschweigen.
»Und hinterher drehen wir die Uhr um einen Tag zurück?«, versuchte ich es noch einmal....