Zwei
Der Verletzte und der Heiler
It’s the moment when humanity
Is overcome by majesty,
When grace is ushered in for good,
And all our scars are understood.
(In dem Moment, wenn Erhabenheit
unser Menschsein überwältigt,
wenn die Gnade für immer Einzug hält
und all unsere Narben verstanden werden)
—MercyMe, »The Hurt & The Healer«,
von dem gleichnamigen Album (2012)3
Meine Mutter wohnte nun sechs Stunden von uns entfernt, aber für ein Kind, das selten über die Grenzen seiner Heimatstadt hinausgekommen war, erschien es mehr wie einmal um die halbe Welt. Und das hätte wirklich wahr sein können, denn ich sah Mum einige Jahre lang nur an bestimmten Feiertagen und bei gelegentlich angesetzten Besuchen. Sehr lange Zeit hielt ich an der Hoffnung fest, dass meine Eltern irgendwann wieder zusammenkommen würden, doch Stephen tat das nie. Unser Altersunterschied von fünf Jahren und seine Fähigkeit, nachvollziehen zu können, weshalb Mum uns verlassen hatte, führten bei meinem Bruder und mir zu sehr unterschiedlichen Sichtweisen auf die Zukunft der Familie.
Mit Dads bescheidenem Einkommen von der Autobahnmeisterei wohnten wir in einem typischen bürgerlichen Viertel in einem kleinen, unscheinbaren Haus. Direkt in der Nebenstraße zu einer großen Hauptverkehrsstraße in den frühen 1960er Jahren erbaut und mit den klassischen avocado-grünen Elektrogeräten und den gemaserten Holzverkleidungen ausgestattet, war es das einzige Zuhause, das ich je kannte. Damals hielt ich uns nie für arm, aber wir waren diesem Ende des wirtschaftlichen Spektrums sicherlich näher als die meisten anderen Leuten, die ich kannte.
Ich wuchs in der Generation vor den Videospielen auf, und Fernsehen fand ich nicht besonders spannend. Mit nur drei oder vier Kanälen, die man über die Zimmerantenne reinbekam, hatte das Fernsehen für Kinder nichts zu bieten, außer vielleicht eine Stunde nach der Schule und drei Stunden am Samstagmorgen mit Cartoons. Meine Fantasie schrieb ohnehin viel bessere Drehbücher, manchmal spielte ich mich an einem einzigen Nachmittag, nachdem ich von der Schule nach Hause gekommen war, durch mehrere komplette Episoden eines Abenteuers.
Im Fernsehserien-Hit Wunderbare Jahre, der vom Vorstadtleben in den späten 1960ern und frühen 1970ern handelte, spielten ein Vater, der ältere Bruder Wayne und der jüngere Bruder Kevin mit. Diese Figuren waren wie ein Abbild von Dad, Stephen und mir, als ich aufwuchs. Die Altersunterschiede, Persönlichkeiten, Einstellungen und Probleme in dieser Serie spiegelten die der drei Millard-Männer, die zusammen unter einem Dach lebten, ziemlich genau wider – obwohl ich meine Kindheitsjahre eher nicht als »wunderbar« bezeichnen würde.
Stephen und ich hatten das typische Großer-Bruder-kleiner-Bruder-Verhältnis zueinander: Er konnte mich drangsalieren und boxen so viel er wollte, um mir das Leben schwer zu machen – aber wenn irgendjemand anderes etwas Böses über mich sagte oder mit mir machte, sprang er mir sofort zur Seite. Einmal, zum Beispiel, nachdem ich von Mum in San Antonio zurückgekommen war, tauchte einer seiner Freunde auf und sagte etwas in der Richtung, dass sie mich nicht haben wollte. Ich dachte, Stephen würde den Typen umbringen. Er kannte meine Schwachstellen und ließ nicht zu, dass mich irgendjemand verletzte, und wenn es jemand versuchte, ließ er ihn dafür büßen. Nur wir beide wussten schließlich, was wir zu ertragen hatten.
Nachdem Mum nach San Antonio gezogen und es klar war, dass das Leben jetzt nur noch aus uns dreien bestand, konzentrierte sich Dads Zorn ganz auf mich. Ich bekam jetzt die volle Wucht seiner Wut zu spüren, und Abreibungen wurden zu Prügeltrachten. Es machte ihm immer weniger aus, Gewalt gegen mich auszuüben, und das ließ er mich auch immer häufiger spüren. Sogar Omama Millard, das Familienmitglied, das uns am nächsten stand und wusste, dass Dad jähzornig und ein harter Zuchtmeister war, ahnte zu keiner Zeit, wie weit er bei mir ging. Und Stephen und ich erzählten ganz gewiss niemandem davon, weil wir wussten, was uns dann drohte. Ohne Mum als anderer Elternteil musste er keine Rechenschaft mehr ablegen und niemand konnte ihm sagen, dass er die Dinge zu weit trieb oder dass es Zeit war, aufzuhören. Niemand außer mir natürlich, aber mich hörte er gar nicht mehr.
Das Familiengeheimnis der Misshandlungen setzte sich nicht nur fort, sondern nahm neue Ausmaße an.
Realitätsflucht
Die Fantasie eines Kindes ist oft das einzige Mittel, um sich aus einer feindseligen Umwelt zu befreien. Mit einer abwesenden Mutter, einem Bruder, der jetzt ein beschäftigter Teenager war, und einem emotional distanzierten Vater war ich Andy aus dem Film Toy Story – der Junge spielte stundenlang allein in seinem Zimmer und stellte alle möglichen Geschichten und Abenteuer dar. Ich baute in meinem Zimmer ausgeklügelte Sets auf und spielte jedes Szenario durch, das meine Kreativität hervorbringen konnte. Mit einfachen, günstigen, oft selbstgemachten und handgefertigten Spielzeugen schuf ich alle möglichen seltsamen Konstruktionen und versuchte dadurch, der Realität meines Zuhauses zu entfliehen.
Die weitläufige Landschaft in meinem Kopf war meine ständige und unmittelbare Fluchtmöglichkeit. Im Handumdrehen konnte ich zu einem anderen Planeten abheben oder zu einem bisher unentdeckten Inselrefugium segeln. Ich fing auch an zu zeichnen und konnte mein Skizzenbuch nicht mehr aus der Hand legen. Ich nutzte echt jede Form von Kreativität so gut ich konnte, um auszudrücken, was sich in meinem Herzen angestaut hatte und irgendwie nie den Weg nach draußen zu finden schien.
Ich war auch Max aus dem bekannten Kinderbuch Wo die wilden Kerle wohnen. Zwar besaß ich keinen Wolfsanzug wie das Kind in der Geschichte, aber Dad war für mich das schlimmste Monster, das in meiner Welt lebte. In meinem Skizzenblock zeichnete ich mich oft in verschiedenen Szenen mit einem großen, haarigen Oger mit zwei Hörnern.
In dieser Zeit meines Lebens packte mich auch immer mehr die Musik und bot mir vorübergehende, aber willkommene Atempausen von der Realität. Ich erinnere mich, dass wir einen 8-Spur-Kassettenrekorder hatten (ein Vorläuferformat der Kompaktkassette), in dem auch ein Radio integriert war. Man konnte einen Sender einstellen, auf dem Rekorder »Record« drücken und das Radioprogramm aufnehmen, das man gerade hörte. Ich liebte die Band Electric Light Orchestra, die damals einen Hit nach dem anderen hatte. Mein Lieblingssänger war Leo Sayer (und er steht immer noch ganz oben auf meiner Liste). Sein Album Endless Flight von 1976 ist immer noch großartig! Eines Abends nahm ich Casey Kasems Radiosendung American Top 40 auf, und dann gönnte ich dem Gerät keine Pause mehr, indem ich die Aufnahme rauf und runter hörte und mich in den Worten der Popsongs der frühen 1980er Jahre verlor. Ich habe immer noch Caseys Sendung im Ohr, die mit seinem berühmten Slogan endete: »Halte deine Füße auf dem Boden und greife weiter nach den Sternen.«
Die Musik wurde meine effektivste Fluchtmöglichkeit, und als solche habe ich ihr nie den Rücken gekehrt.
Spießrutenlauf
Dad hatte sowohl einen Lederriemen als auch ein Holzpaddel mit Löchern, die den Widerstand gegen den Luftstrom verringerten. Zumindest denke ich, dass die Löcher dazu da waren. Vermutlich machten sie die Prügel noch schmerzhafter. Wenn du so um die vierzig Jahre alt bist, hast du wahrscheinlich das Gerücht gehört, dass dein Schuldirektor eines dieser Foltergeräte in seinem Büro für die wirklich bösen Kinder versteckt hat. Was unseren Direktor anging, weiß ich es nicht genau, aber Dad hatte ganz sicher eins.
Ich konnte etwas so Harmloses tun, wie das Brot nach dem Essen auf dem Tisch liegen lassen oder es an die falsche Stelle zurücklegen, und er hat mich dann quer durchs Zimmer geprügelt. Ich bekam selten eine wirkliche Erklärung für die Strafe, daher wusste ich oft nicht genau, was ihn aufregte. Bald schien mich alles potenziell in Schwierigkeiten bringen zu können, sogar gute Dinge, denn ich konnte nie sicher sein, wie Dad auf etwas reagieren würde, was irgendwie mit mir zu tun hatte.
Einmal, während ich bei Mrs. Burns in die fünfte Klasse ging, gab mir die Schule einen Brief mit nach Hause, in dem stand, dass ich als Schüler eine Auszeichnung bekommen hatte. Man bat mich, ihn von Dad unterschreiben zu lassen und wieder zurück ins Schulbüro zu bringen. Weil ich meinte, nicht riskieren zu können, dass der Brief zum Zündholz für seine Zornesglut wird, fälschte ich seine Unterschrift und gab den Brief wieder ab. Sagen wir einfach, dass meine Version seines Namens nicht sehr überzeugend aussah.
Die Schulsekretärin erkannte die Fälschung sofort, rief meinen Vater an und sagte ihm lachend, dass das Büropersonal es süß fand, dass ich versucht hatte, seine Unterschrift auf etwas so Harmlosem wie einem Brief über die Aufnahme in die Ehrenliste zu fälschen. Sie dachte, dass es offensichtlich nur ein dummes Missverständnis war. Na ja, Dad fand es nicht sehr lustig. Es gab nicht nur kein Lob dafür, dass ich auf der Ehrenliste war, sondern die Strafe für die Fälschung fiel auch heftig aus. Was ihn ganz besonders auf die Palme brachte, war alles, was ihn vor den Leuten in der Stadt lächerlich dastehen ließ oder in Verlegenheit brachte.
Wenn Stephen ein grenzwertiges Zeugnis mit nach Hause brachte, sagte Dad ihm für gewöhnlich, dass er sich reinknien...