Kapitel 1
Bei der Geburt verstoßen
Es ist ein schöner Abend im Mai. Die Sonne geht gerade unter, die Luft ist lau, der Himmel in rotes Licht getaucht. Ich sitze auf einer Bank inmitten irgendeiner Piazza. Ich kenne meinen Namen kaum, ich weiß nichts über die Personen, die in dieser Stadt herumwuseln. Ich bin eine Außerirdische von einem anderen Planeten, abgegeben auf der Erde, an irgendeinem beliebigen Ort. Mein Planet ist der mit den Erziehungsheimen für Waisenkinder. Ich bin ein achtzehnjähriges Mädchen, achtzehn seit gestern. Heute haben mich die liebevollen Ordensschwestern vor die Tür gesetzt. Ohne Rücksicht. Ohne finanzielle Mittel. Ohne Anweisungen.
Auf der Piazza herrscht geschäftiges Treiben, es wimmelt nur so von hektischen Passanten und Menschen, die auf den Bus warten. Auf den Parkbänken sitzen ältere Leute, alles Männer, und meine Anwesenheit macht sie neugierig. Ich bin allein und wehrlos, merke, wie ihre Blicke meine Haut durchbohren: Ich habe schreckliche Angst.
Von meinen beiden älteren Schwestern, Vanessa und Clotilde, käme mir keine zu Hilfe. Vanessa ist ein ganzes Stück älter als ich, und ihr Mann kann mich nicht ausstehen. Clotilde und ich sind ungefähr gleich alt und waren lange Zeit in denselben Erziehungsheimen. Jetzt besuchen wir auch dieselbe Schule: Dort könnte ich zu ihr gehen. Aber sie war immer abweisend, gleichgültig. Oft habe ich gedacht, sie hasst mich. Ich weiß nicht, wo sie wohnt, und bin sicher, sie würde mich zurückweisen.
Also bleibe ich stundenlang auf einer Parkbank sitzen, regungslos und nicht fähig nachzudenken. Hin und wieder stehe ich auf, um aus dem Blickfeld der Alten zu verschwinden. Ich drehe eine Runde um die Piazza, dann setze ich mich wieder auf denselben Platz.
So vergeht die Zeit, gekennzeichnet vom Glockengeläut der alten Kirche auf der gegenüberliegenden Seite der Piazza. Ich hoffe, für eine Weile in eben dieser Kirche Unterschlupf zu finden, aber die Tür ist verriegelt. Es wird Nacht, und der Platz leert sich allmählich. Ich bin noch immer dort, wie versteinert: die gelegentlichen Passanten werfen mir seltsame Blicke zu.
Mir ist kalt und ich habe Angst. Die Glocken läuten jede Stunde, ich schaue unentwegt zur Kirchentür, in der Hoffnung, dass sie sich öffnen möge, aber vergebens.
Ich zerbreche mir den Kopf und denke immer wieder: »Warum hat mir niemand von dieser grauenvollen Sache erzählt? Warum hat mir niemand erklärt, was passiert, wenn man achtzehn wird?« Ich finde keine Antwort, noch heute ist mir der Grund für dieses Schweigen unbekannt. Ich werde nie erfahren, warum die Ordensschwestern und Clotilde nichts gesagt haben.
So verbringe ich meine erste Nacht als freie Frau: draußen, auf der harten Parkbank, ohne auch nur eine Sekunde Schlaf.
Am frühen Morgen bin ich immer noch dort, verzweifelt. Ich verspüre weder Hunger noch Durst. Seit gestern war ich nicht mehr auf der Toilette. Als die Kirche ihre Türen öffnet, gehe ich hinein und bemerke den Priester, der sich für die Messe bereitmacht. Ich bete von ganzem Herzen zu Gott, dass mir dieser Mann zu Hilfe kommen möge; als ich ihn genauer ansehe, erstarre ich. Er sieht aus wie Pfarrer Cantalamessa, mein alter Beichtvater: Sein Verhalten macht den Anschein, als hätte er es eilig, als wollte er die Arbeit so schnell wie möglich zu Ende bringen. Ich habe nicht die Kraft, zu ihm zu gehen, und hoffe, dass er mich bemerkt. Es ist ein Werktag, und die Kirche ist fast leer. Ich bete, dass es so geschehe, ich flehe die Seelen meiner toten Geschwister an, dass der Pfarrer in meine Richtung kommen möge. Er jedoch würdigt mich keines Blickes.
»Gehet hin in Frieden!«
»Amen!«
Ich höre mir die Messe mehrmals an. Mechanisch erwidere ich den Segen. Dann gehe ich entmutigt zurück, hinaus auf die Piazza.
Ich verspüre ein beißendes Hungergefühl. An einem Obst- und Gemüsewagen lege ich mich auf die Lauer, aber ich schaffe es nicht einmal, einen Apfel zu klauen.
Die Stadt ist voller Menschen. Ich kenne niemanden. Dann, am Nachmittag, sehe ich auf einmal Agata, eine meiner Klassenkameradinnen. Ganz aufgeregt laufe ich auf sie zu, als wäre sie mein Rettungsanker. Mir stockt der Atem, ich bringe kein Wort heraus. Aber da hat mich Agata schon bemerkt und sagt gelassen: »Hallo! Warum warst du denn heute gar nicht in der Schule?«
»Sie haben mich aus dem Internat weggeschickt«, erkläre ich ihr mit dünner Stimme, »ich weiß nicht wohin und habe keine Bleibe. Kannst du mir helfen?« Sie scheint nicht besonders betroffen von meiner Lage.
Sie zeigt sich verantwortungslos, wie es unter Jugendlichen oft der Fall ist, und sagt, sie wisse nicht, was sie für mich tun könne.
»Meine Familie ist arm, bei mir kannst du nicht wohnen.«
Dann verabschiedet sie sich mit derselben Gelassenheit und verschwindet. Und mit ihr schwindet auch meine Hoffnung.
Aber hierbleiben und die Bank in ein Zuhause verwandeln kann ich nicht. Mir kommen die Jungs in den Sinn, mit denen ich in der Erziehungsanstalt Musik gemacht habe … Filippo, Luca, Michele und Armando … ja, Armando, Armando Russo.
An seinen Nachnamen erinnere ich mich noch. Er war der Schlagzeuger. Ich muss ihn finden. Ich suche mir eine Telefonzelle, greife hektisch nach dem Telefonbuch. Und wie viele Russos ich dort entdecke! Egal, ich rufe sie alle an. Zum Glück weiß ich genau, wie. Einfach auf den Münzbehälter einschlagen. Wenn das nicht funktioniert, dann den Gabelumschalter je nach Anzahl der Ziffern, die man wählen muss, herunterdrücken.
Dieser Trick funktioniert nicht immer, dieses Mal nicht. Aber ich muss telefonieren. Ich muss. Ich gehe wieder hinaus und bitte die Leute um Hilfe, die dort auf den Bus warten. Ich fühle mich zutiefst gedemütigt. Manche tun so, als würden sie mich nicht hören, andere reagieren unfreundlich. Schließlich finde ich jemanden, der mir eine Münze gibt.
Ich rufe einen Haufen Leute an, und jedes Mal frage ich: »Ist Armando da? Der Schlagzeuger?« Sie antworten, ich hätte mich verwählt. Sie wüssten nicht, wer das sein soll. Nirgends gibt es einen Armando. Dann, endlich, wie durch ein Wunder, die Stimme einer älteren Person: »Warte, ich gebe ihn dir.« Ich merke, wie es mir eiskalt den Rücken
hinunterläuft. Dann erkenne ich den Klang, den Ton in der Stimme wieder: Es ist wirklich Armando.
»Wer ist da?«
»Emma La Spina.«
»Wer? Ich kenne keine Emma La Spina.«
Ich überwinde meine Verzweiflung und starte einen Erklärungsversuch.
»Na klar kennst du mich! Meine Schwester Clotilde und ich haben Gitarre gespielt, als du mit deinen Freunden ins Internat kamst. Weißt du noch?«
Stille. Dann endlich kann er sich erinnern: Er hat verstanden, wer ich bin.
»Ja und? Was willst du?«
Ich halte inne. Das ist eine schwierige Frage. Tränen steigen in mir auf, und es schnürt mir die Kehle zu. Mit gebrochener Stimme erkläre ich, dass ich Hilfe brauche.
Ich habe Angst, dass er wie Agata reagiert. Aber im Gegenteil.
»Sag mir, wo du bist, ich hole dich ab.«
Ich warte ungeduldig, zehn, zwanzig Minuten, eine Stunde, während der Abend erneut seine Schatten über die Piazza wirft; und schließlich kommt er, in einem kleinen grünen Fiat 126. Ich steige ein, wir fahren los.
»Wo willst du hin? Soll ich dich zu irgendwelchen Verwandten bringen?«
»Ich habe keine.«
Er wartet einen Moment. Überlegt. Schließlich gibt er sich einen Ruck.
»Dann nehme ich dich mit zu mir.«
So begebe ich mich in seine Hände. Ich weiß nichts über diesen Jungen. Ich habe ihn nur ein paar wenige Male gesehen, habe ihn nur angerufen, weil er der einzige war, dessen Nachnamen ich überhaupt noch wusste. Hätte ich jemand anderen angerufen, dann hätte mein Dasein eine ganz andere Wendung genommen. Das weiß ich jetzt. Aber an diesem Tag hatte ich niemanden sonst, den ich hätte kontaktieren können, ich hätte nicht anders handeln können. Mein Weg war vorherbestimmt.
Armando wohnt in einer beliebten Gegend der Stadt, in einem historischen Viertel mit engen Straßen und dicht nebeneinanderliegenden, renovierungsbedürftigen Häusern.
Wir steigen aus, ich gehe hinter ihm durch eine dunkle Eingangstür.
»Komm. Ich wohne mit meiner Familie im ersten Stock.«
Er geht ins Haus, ich folge ihm mucksmäuschenstill bis in ein Zimmer am Ende des Gangs. Dort gibt es einen Kleiderschrank, einen Schreibtisch und zwei Einzelbetten.
»Das ist mein Zimmer.«
»Kann ich aufs Klo?«, frage ich ihn sofort.
Vom Badezimmer aus höre ich eine autoritäre Stimme mit Armando sprechen. Ich mag die Stimme nicht und sehe gleich darauf, dass meine Angst nicht unbegründet ist.
Als ich wieder auf den Flur komme, steht ein älterer Mann vor mir. Er ist untersetzt, hat Geheimratsecken und eine Brille, durch die seine Augen riesig aussehen. Neben ihm steht eine Frau, die etwas ungepflegt wirkt: Auch sie ist schon älter. Mir wird klar, dass die beiden die Eltern von Armando sind, und ich unterziehe mich ihrer Prüfung. Der Mann stellt mir unzählige Fragen, herrisch und in einem Ton, der keine Antworten zulässt.
»Wer bist du? Warum bist du hier? Was willst du von uns?«
»Ich bin ganz allein und weiß nicht, wohin ich soll« ist alles, was ich herausbringe.
Dann setze ich mich auf einen Hocker, denn ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen und kann mich kaum noch auf den Beinen halten.
Doch das ist ein Fehler. Ich habe Platz genommen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, und...