Kapitel 2
Wir lernten uns im Frühling des Jahres 2005 kennen, ganz zufällig bei einem Treffen mit Freunden. Ich war 18 Jahre alt, hatte gerade ein Semester in Australien studiert und war im Ganzen noch ziemlich grün hinter den Ohren. Das prickelnde Nachtleben in Bars und Clubs war mir bisher fremd gewesen. Doch in Australien hatte ich Geschmack daran gefunden, und bald ging ich jedes Wochenende abends aus und mit Freunden etwas trinken. Die meisten meiner Erlebnisse aus jener Zeit spielten sich in Bars ab, oder auf den Bürgersteigen davor, wenn ich mich mal wieder übergeben musste.
Diese drei Monate hielt ich in meinem Tagebuch fest, und im Nachhinein gelesen zeigt sich ganz deutlich, dass sich in mir eine Veränderung vollzog: Ich ließ mich treiben. Dunkelheit und Leere hatten sich in mir ausgebreitet und wurden immer stärker, wenn sie Nahrung in Form von Schnaps und Wein aus dem Tetrapack bekamen. Die Nächte hatten mich in eine zornige junge Frau verwandelt und der Alkohol vernebelte mein Denken.
Das dicke, große Notizbuch, das meine Schwester mir geschenkt hatte, nahm geduldig meine spätabendlichen Ergüsse in sich auf, und jedes Wort, das ich zu Papier brachte, zeugte von meiner Traurigkeit und Verwirrung, die auf eine einzige Frage zurückzuführen waren. Diese Frage hatte meine neue Freundin Tracey mir gestellt, als wir im letzten Monat des Auslandssemesters im Bus durch die schneebedeckte Berglandschaft und grünen Felder Neuseelands fuhren.
„Wenn du stirbst, kommst du doch in den Himmel, richtig?“
Wir trugen uns gerade für die Unternehmungen ein, an denen wir in Christchurch teilnehmen wollten. Ich entschied mich für Fallschirmspringen, und wenige Stunden später würde ich tatsächlich mit einem Partner zusammen aus einem kleinen Sportflugzeug ins Leere springen. Genau der richtige Zeitpunkt für die Frage meiner Freundin, schätze ich.
Ich zögerte mit der Antwort. „Hmmm, sicher bin ich mir da nicht“, gestand ich mir zum ersten Mal in meinem Leben ein.
Traceys einfache Frage traf mitten ins Schwarze. Hinter mir lag eine Zeit, in der ich viele schlechte Entscheidungen getroffen und Schuld auf mich geladen hatte. Diese Frage war mir daher äußerst unangenehm. „Wenn du stirbst, kommst du doch in den Himmel, richtig?“ Mit Sicherheit wusste ich nur, dass ich Angst davor hatte, in die Hölle zu kommen.
Ian absolvierte in der Zwischenzeit auf der anderen Seite mehrerer Kontinente und Ozeane das dritte Semester am College, genau wie ich. Er wohnte noch bei seinen Eltern und studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften, zufälligerweise auch mein Hauptfach. Doch die Gründe, warum wir uns für dieses Studienfach entschieden hatten, waren nicht dieselben. Für mich war ausschlaggebend gewesen, dass ich für dieses Hauptfach keine Mathematik brauchte. Ian hatte vor, nach seinem Examen zusammen mit seinem besten Freund David Filme zu produzieren. Schon als Kinder hatten die beiden ständig zusammen herumgehangen und Filmchen gedreht, zum Beispiel das frühe Meisterwerk „Little Town“. In diesem Streifen sind die beiden Hauptdarsteller Max und Clubbert sehr gemein zu einem Jungen mit Namen Casey. Bei einem Autounfall kommt Casey ums Leben, und von da an werden Max und Clubbert von dessen Geist verfolgt. Sehr vielschichtig und kreativ.
Als Studenten der Kommunikationswissenschaften jobbten wir beide bei dem zum Campus gehörenden kleinen Fernsehsender. Dort war ich Ian nach meinem Australienaufenthalt schon über den Weg gelaufen. Ein paar Worte hatten wir hier und da gewechselt, einige berufliche Begegnungen, ein schnelles Hallo. Aber besonderes Interesse hatte ich nicht an ihm gehabt.
Doch eines Abends begegneten wir uns in einer WG, die von ihren Bewohnern den hochtrabenden Namen „Die Zukunft“ bekommen hatte. Zum ersten Mal führten wir ein Gespräch, das über Smalltalk hinausging. Die anderen spielten Videospiele; jemand legte Musik auf. Ich beobachtete, wie die anderen zum Rhythmus der Musik die abenteuerlichsten Verrenkungen machten. Sie kamen mir vor wie Stoffpuppen. Einer der Gäste hielt den Augenblick mit der Kamera fest. Auf einem der Fotos ist Ian zu sehen: kurzer Haarschnitt, blau gestreiftes Hemd. Mit der Hand greift er sich an den Kopf, und seine Lippen sind zu einem Lächeln verzogen. Ich habe dieses Foto noch. Ein Andenken an eine Zeit, als das Leben noch einfach war.
Das Gespräch mit Ian war prima, und auch danach unterhielten wir uns nun öfter und tiefgehender, aber er hatte sich noch keinen Platz in meinen Gedanken erobert. Gegen Ende des Semesters sahen wir uns dann häufiger. Ich hatte vor, in den Sommermonaten einen dreiwöchigen Ferienkurs zu belegen. Ian und seine Freunde Jimmy und Maelys, die ebenfalls in ihrer Heimatstadt studierten, blieben auch im Sommer dort. Ich wohnte damals ganz in Maelys` Nähe, und so kam es, dass wir viel gemeinsam unternahmen.
Es wurde ein Sommer, der nie zu Ende hätte gehen sollen. Am liebsten hätte ich ihn noch Jahre später genau so festgehalten. Dieser Sommer war in meiner Erinnerung viel sonniger als die heutigen Sommer, obwohl er in Wirklichkeit genauso verregnet war, wie das am Erie-See üblich ist.
Abends unternahmen wir vier immer neue Abenteuertouren. Manchmal legten wir uns mit Decken auf den Footballplatz unseres Colleges, an anderen Abenden bewunderten wir durch die Autoscheiben die Sterne am Nachthimmel. Wir Mädchen saßen auf der Rückbank und drückten unsere Gesichter an das kühle Glas, während Jimmy uns in seinem grünen Explorer an den Schornsteinen des Kraftwerks vorbeikutschierte.
„Der Himmel ist so unglaublich weit!“, quietschte Maelys. Durch das Autofenster folgte ihr Blick der dichten Rauchwolke des Kraftwerks, die in den Himmel stieg, während die warme Sommerluft über ihre Wange strich. Ihre kindliche Begeisterung amüsierte uns. Wir durften so ausgelassen sein, denn wir waren noch nicht erwachsen. Wir brauchten keine Zurückhaltung zu üben und konnten unseren Gefühlen freien Lauf lassen; wir waren jung und sahen unserer Zukunft voller Optimismus entgegen. In der Freundschaft zu diesen drei Leuten begegnete ich Gott, und ich genoss unsere spätabendlichen Ausflüge zu Dean’s Diner und unsere Gespräche über alles zwischen Himmel und Erde. Meine Zukunft erschien mir rosig und sicher. Der Gott, den ich gerade erst kennenlernte, war liebevoll und seine Geduld unerschöpflich.
„Wenn du jemanden mit einer Rakete ins Weltall schießen könntest, der nie wieder zur Erde zurückkehren könnte, wer wäre das?“, fragte Jimmy, der auf dem Fahrersitz saß.
„Rob Thomas“, antwortete Ian wie aus der Pistole geschossen, als müssten doch alle wissen, dass er sich immer für den Sänger von Matchbox 20 entscheiden würde.
„Wenn du frei wählen könntest, wo würdest du leben wollen?“, fragte Jimmy.
„In Virginia, irgendwo an einem See“, erwiderte Ian.
Ich saß auf dem Rücksitz, lächelte in mich hinein und wunderte mich über diesen Zufall. Schon seit frühester Kindheit war es mein Wunsch, in Virginia zu leben, natürlich an einem See. An diesem Abend wusste ich noch nicht, dass Ian mit seiner Familie jedes Jahr für zwei Wochen an genau so einem See in Virginia Urlaub macht.
„Ich weiß nicht, für welchen Ort ich mich entscheiden würde“, erklärte ich zurückhaltend. Keinesfalls sollte Ian den Eindruck bekommen, ich würde ihm nach dem Mund reden oder hätte es auf ihn abgesehen. Später erfuhr ich, dass Ian in der Highschool und auf dem College von mehreren glühenden Verehrerinnen richtiggehend bedrängt worden war. Ich war froh, dass ich meine Antwort vage gehalten hatte. Bestimmt wären sonst sofort seine Warnlämpchen angegangen.
Doch nicht nur unsere fröhlichen, sorgenfreien Unternehmungen machten diesen Sommer für mich so unvergesslich. In meinem Herzen spürte ich eine Veränderung, eine Bewegung zu Gott hin. Da war eine Sehnsucht, die ich seit vielen Jahren nicht mehr empfunden hatte. Dinge, die ich vom Verstand her wusste, verankerten sich in meinem Herzen.
Zum Beispiel lud Ian meine Mitbewohnerin und mich zu einem Kurs ein, in dem es um die Auseinandersetzung mit den großen Fragen des christlichen Glaubens ging, und um die Antworten, die in der Bibel zu finden waren. Dieser Kurs war kostenlos, und vor der Diskussionsrunde gab es etwas zu essen. Eine arme Studentin wie ich konnte es sich nicht leisten, nicht daran teilzunehmen. An den Abenden saß ich meistens neben Tonya, die nach und nach zu meiner „College-Mutter“ wurde. Und an einem dieser Abende konnte ich annehmen, was Jesus am Kreuz für mich getan hatte. Der Glaube wurde lebendig in mir, und meine Weltsicht veränderte sich von Grund auf.
Ich war ein sündiger Mensch. Und Gott liebte mich.
In diesem Augenblick änderte sich meine Marschroute. Nicht mehr die Sinnlosigkeit der Hölle wartete auf mich, sondern der Himmel.
Ian dagegen hatte sich schon vor einigen Jahren für ein Leben mit Gott entschieden. Während einer Jugendfreizeit war er zu seinem Vater gegangen und hatte ihm gesagt, er wolle Jesus in sein Leben einladen. Das tat er auch, und er erlebte seine eigenen Herausforderungen. Vom Verstand her war ihm klar, dass Jesus bereits alles für ihn getan hatte und er nichts mehr zu leisten brauchte, doch er wurde seinen eigenen Ansprüchen an sich nicht gerecht. Er wollte ein Leben führen, das Gott gefiel.
Ian und ich waren beide in Bezug auf den Glauben noch ziemlich unerfahren. Wir hatten mit Missverständnissen und Zweifeln zu kämpfen und marschierten auch mal in eine verkehrte Richtung. Aber Gott war da, und mit seiner...