KAPITEL 2:
SEXUELLE GEWALT
Kaum ein Bereich der Kriminalität beschäftigt uns in Gesellschaft und Medien so stark wie sexuelle Gewalt. Das liegt vermutlich unter anderem an den im Einzelfall schwerwiegenden psychischen Folgen für die Opfer. Insbesondere schwere sexuelle Gewaltdelikte wie Vergewaltigungen oder gravierender Kindesmissbrauch können zu tiefer Traumatisierung führen. Nicht zuletzt dürfte auch der Voyeurismus, der bei Sex and Crime immer gegeben ist, zur besonderen öffentlichen Wahrnehmung beitragen. Das Thema berührt deutlich mehr als andere Formen der Kriminalität unser persönliches Normen- und Wertesystem und unterliegt stärker dem gesellschaftlichen Wandel als beispielsweise die Haltung zu Eigentums- oder auch Tötungsdelikten.
Ist die junge Frau, die spätabends zu Fuß nach Hause geht, nicht doch leichtsinnig? Ist der Täter oder das Opfer schuld? Als es in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln am Hauptbahnhof und auf der Domplatte zu zahlreichen sexuellen Übergriffen kam, vor allem durch Männer aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum, wurde das Thema regelrecht zum gesellschaftspolitischen Sprengstoff. In der Diskussion kamen viele verschiedene Positionen zu Wort, leider kaum eine, die die verschiedenen Aspekte dieses eindeutig unduldbaren Phänomens zu integrieren versuchte. Auf die unterschiedlichen Aspekte werden wir noch zurückkommen.
Dass die Silvesterübergriffe so massiv die politische Diskussion über Wochen bestimmten, ist unter anderem als Zeichen eines gelungenen Wandels der allgemeinen Einstellung gegenüber sexueller Gewalt zu verstehen. Unser gewachsenes Unrechtsbewusstsein bei diesem Thema ist das Ergebnis eines viele Jahrzehnte umfassenden gesellschaftlichen Wandels. 1951 schrieb ein Herr Kreuzhage in der Fachzeitschrift Kriminalistik, bei »keinem anderen Delikt kann man so häufig feststellen wie gerade bei einem Sittlichkeitsdelikt, dass auch das Opfer ein gut Teil Schuld trifft. Hier bewahrheitet sich die alte kriminalistische Erfahrungstatsache, dass das Opfer einer Straftat in vielen Fällen die Causa für die Tat setzt.« Im weiteren Verlauf des Artikels lässt sich jener Herr Kreuzhage dann höchst blumig und ausführlich über junge Mädchen in kurzen Hosen und Röcken aus – beim Lesen gewann ich deutlich den Eindruck, dass der Verfasser sich seinerzeit ziemlich in Erregung schrieb … Heute dürfte man damit nicht mal mehr an so manchem Stammtisch punkten können.
Wir sollten uns aber klarmachen, dass die Grundhaltung zu sexueller Gewalt in unserer Gesellschaft erst seit knapp 20 Jahren eine sehr deutliche Veränderung erfahren hat. Als 1995 die Vierte Weltfrauenkonferenz stattfand, meldeten nach einer einstimmigen Verabschiedung des Schlussdokuments sowohl einige islamisch als auch einige katholisch geprägte Länder Vorbehalte gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht an. Für die sehr jungen Leserinnen und Leser unter Ihnen mögen diese 22 Jahre eine Ewigkeit her sein, aber Menschen, die heute 40 Jahre sind, waren damals gerade volljährig. Auch 1995 war nicht mehr Mittelalter. Erst am 9. Mai 1996 wurde bei uns mit der Neufassung des § 177 StGB der Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe eingeführt. Die Zustimmung zu diesem Schritt war sowohl bei Frauen als auch bei Männern enorm hoch.
Im Hellfeld, also bei den zur Anzeige gebrachten Straftaten, machen Sexualstraftaten nur 0,8 Prozent aus. Das Dunkelfeld, die nicht zur Anzeige gebrachten Taten, liegt deutlich höher. Man geht davon aus, dass insgesamt nur knapp acht Prozent aller Taten, die vom Strafgesetzbuch als Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung erfasst werden, überhaupt zur Anzeige gelangen. Ob eine Tat angezeigt wird, hängt insbesondere von deren Schwere ab und von der Beziehung zwischen Täter und Opfer, aber auch von der eigenen Scham und der Haltung der Umgebung, in der man lebt. Sexuelle Belästigungen oder Beleidigungen auf sexueller Grundlage kommen zum Beispiel nur sehr selten zur Anzeige, weil die Belästigten das Täterverhalten nicht als sonderlich gravierend einstufen. Die Bereitschaft, schwerwiegende Delikte anzuzeigen, hat jedoch deutlich zugenommen.
Die Scham und nicht zuletzt auch ein rigides Umfeld, das den Opfern lange Zeit überhaupt kein Gehör zu schenken bereit war, hatten unter anderem dazu geführt, dass die Missbrauchsskandale in Internaten und anderen Einrichtungen erst in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit gelangten. Kinder sind heute durch Aufklä-rungs- und Pädagogikkampagnen wie »Mein Körper gehört mir« sehr viel besser als früher vor lang anhaltenden Missbrauchshandlungen geschützt, weil ihnen sehr viel eher Glauben geschenkt wird, wenn sie ihren Eltern von unangenehmen Berührungen oder Zudringlichkeiten eines Erwachsenen berichten. Vor 40 Jahren gab es eine Ohrfeige – und zwar für das Kind. Damit war die Sache abgeschlossen.
In Paarbeziehungen spielen zudem persönliche, emotionale Abhängigkeiten und Loyalitäten eine bedeutende Rolle wenn nicht sogar reine Angst vor dem Partner den Gang zur Polizei versperrt. Vor allem aber dulden Beziehungspartner zum Teil erstaunlich lange schwere Gewalt, weil sie sich immer wieder einreden oder auch einreden lassen, dass sich der gewalttätige Freund schon noch ändern werde, dass er es nicht so gemeint habe oder dass der Alkohol schuld gewesen sei. Manchmal bleiben Frauen auch bei ihren Partnern, weil der Freundeskreis schon zu Beginn der Beziehung vor dem Mann gewarnt hat und sie diesem jetzt nicht die Genugtuung geben wollen, dass sie sich vor lauter blinder Liebe geirrt haben.
Insgesamt ist der Begriff »Sexualstraftat« nur ein Oberbegriff für ein sehr breites Spektrum von Übergriffen. Man unterscheidet die sogenannten Hands-off- von den Hands-on-Delikten, also jene, die auf Distanz ausgeübt werden wie beispielsweise Exhibitionismus, von jenen, die den direkten Kontakt mit dem Opfer bedingen. Diese reichen von Berührungen bis hin zu schweren körperlichen Misshandlungen.
Aus forensisch-psychiatrischer Sicht geht es bei vielen Sexualstraftaten gar nicht in erster Linie um Sexualität, sondern um eine sexualisierte Gewalt. Dies ist also gewissermaßen ein thematisches Feld, in dem sich Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit ausdrücken. Sexualstraftaten sind also Gewalttaten auf dem Gebiet des Sexuellen. Aber wenn nicht Sexualität das Zentrale ist, was dann? Im Einzelfall geht es um Macht, um Dominanz, um das Erleben der eigenen Durchsetzungsstärke. Es geht damit auch um ein fehlgeleitetes Bemühen, Kränkungen und Selbstwertdefizite als Mann zu kompensieren.
Eine kleinere Tätergruppe ist regelrecht erfüllt von Wut und Hass auf Frauen und projiziert die eigenen Probleme im Leben auf eine vermeintliche Bevorzugung von Frauen in der Gesellschaft. Diese Täter neigen zu Tatserien und haben immer wieder das Bedürfnis, die in ihnen aufsteigende und gärende Unzufriedenheit durch Vergewaltigungen an Frauen auszuagieren. Die Leidtragenden können dabei völlige Zufallsopfer sein, und die Taten sind oftmals gekennzeichnet durch ein besonderes Ausmaß an Gewalt, das weit über die Gewaltausübung hinausgeht, die zum reinen Erzwingen des Geschlechtsverkehrs notwendig wäre.
Manchmal handelt es sich auch schlichtweg um ein fragwürdiges Geschlechterverhältnis oder einfach um eine Gelegenheit, bei der der Täter sich gute Chancen auf einen sexuellen Übergriff ausrechnet, ohne sich vor einer Anzeige fürchten zu müssen.
Andere forensische Experten betonen explizit das Gegenteil dieser Einordnung von Sexualdelikten. Sie weisen auf den Umstand hin, dass es um das möglichst einfache Befriedigen von Begehren geht. Beides ist richtig, trifft aber auf unterschiedliche Tätertypen zu, somit sind beide Positionen kein Widerspruch. Beruflich habe ich weitaus häufiger mit den Tätern zu tun, bei denen Hass und Wut, Dominanz- und Machtbedürfnis oder auch eine antisoziale Grundhaltung vorherrschen. Hinzu kommen Täter mit sexuellen Präferenzen, die gewissermaßen ohne Verstoß gegen das Strafgesetzbuch nicht auslebbar sind.
Kurzum: Den einen Typus Sexualstraftäter gibt es nicht. Vielmehr handelt es sich um eine ausgesprochen unterschiedliche Tätergruppe.
Längst nicht jeder Sexualstraftäter ist aus psychiatrischer Sicht krank. Bei rund einem Drittel der Täter lässt sich keine Diagnose feststellen, und nur zehn Prozent aller zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Sexualstraftäter werden in die Forensische Psychiatrie eingewiesen. Die allermeisten sitzen also mit zeitlich befristeten Haftstrafen im Gefängnis. Viele von ihnen weisen eine sozial gestörte Biografie in Kindheit und Jugend auf. Von Vergewaltigern weiß man, dass sie häufiger auch mit anderen Gewalttaten auffällig wurden, während dies bei pädophilen Tätern deutlich seltener der Fall ist. Sexualstraftäter, die Gewaltdelikte gegen Erwachsene ausüben, sind deutlich häufiger dissozial.
Unter Dissozialität versteht man ein Denk- und Verhaltensmuster der Persönlichkeit, das sich ganz klar zum...