Einführung und Widmung
Zwei kurze Sätze haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich werde sie bis zum Lebensende nicht vergessen.
Es war Karfreitag, 30. März 1945. Das Dorf Dielheim bei Wiesloch, nahe Heidelberg, lag wie ausgestorben. Die Einwohner saßen in den Kellern oder in selbst gebauten Erdbunkern, um angesichts der immer näher rückenden Front Schutz vor Angriffen zu finden. Ich stand allein auf der Landfriedstraße vor der Metzgerei der Familie Rausch, bei der ich zu Besuch war, als sich ein Motorrad näherte. Darauf ein junger Wehrmachtsangehöriger im grauen Ledermantel, Stahlhelm auf dem Kopf. Offenbar ein Kradmelder. Er hielt an und sagte zu mir: »Ich bin hier der letzte deutsche Soldat. Jetzt kommen die Amerikaner!«
Damals war ich 13 Jahre, 8 Monate alt, »Jungmädel«, also Mitglied der weiblichen »Hitlerjugend«, und in gläubiger Erwartung des deutschen »Endsiegs« aufgewachsen. Der Kradmelder fuhr weiter, seiner kampflos abgezogenen Einheit nach. In einem Hohlweg entschwand er meiner Sicht. Für mich aber war gerade die Welt untergegangen.
Großdeutschland am Ende! So viel hatte ich begriffen. Doch die Zukunft konnte ich mir nicht vorstellen. Würde es überhaupt eine Zukunft geben für Deutschland und die Deutschen? Gewissheiten existierten nicht mehr. Ein Geschichtsbruch war eingetreten. Was auf uns zukam, hatte nichts mehr zu tun mit allem, was vorher gewesen war.
Zu diesem Zeitpunkt verharrte die US-Army noch am linksrheinischen, dem pfälzischen Ufer. Das rechtsrheinische Ufer in dieser Region war für zwei Tage Niemandsland geworden. Alle Regeln und Gesetze lösten sich zusehends auf. An manchen Obstbäumen entlang der Straßen in diesem fruchtbaren Landstrich hingen Leichen von Soldaten und Zivilisten, auf der Brust ein Schild mit Aufschriften wie »Ich bin ein fahnenflüchtiger Feigling« oder »Ich bin ein Verräter«. Gestern noch waren unsere Soldaten für uns unantastbare Helden. Und nun das! Wie sollte man eine so brutale Umwertung als junger Mensch begreifen?
Ausländische Zwangsarbeiter, damals »Fremdarbeiter« genannt, streiften nun frei umher. Gerüchte über Plünderungen in Wiesloch kursierten. Ich wollte das Unerhörte mit eigenen Augen sehen, setzte mich auf mein Rad und fuhr zu dem drei Kilometer entfernten Städtchen. Weiter als bis an Wieslochs Stadtgrenze kam ich nicht. Ein Mann, dessen Sprache ich nicht verstand, stoppte mich und riss mein Rad an sich. Mich dagegen zu wehren erschien mir nicht ratsam. Unter Wuttränen ging’s zu Fuß nach Dielheim zurück.
Wenig später setzte plötzlich heftiges Artilleriefeuer ein. Die Amerikaner bereiteten ihre Rheinüberquerung mit Granatenbeschuss aus allen Rohren vor. Auch Dielheim wurde getroffen. Als ich in einer Feuerpause auf die Straße trat, sah ich eine Staubwolke in der Nähe des kleinen Bahnhofs über den Dächern aufsteigen. Ich rannte dorthin, um vielleicht helfen zu können. Doch der jungen Frau, die in einer riesigen Blutlache auf dem Küchenboden des getroffenen Hauses lag, war nicht mehr zu helfen. Ein Granatsplitter hatte ihre Halsschlagader aufgerissen.
Am 31. März, Karsamstag, überquerten die Amerikaner dann den Rhein. Wiesloch wurde ihnen am Ostersonntag, dem 1. April 1945, kampflos übergeben. Auch Karlsruhe, meine Heimatstadt, wurde an Ostern ’45 von der 257. Volksgrenadierdivision, die die Fächerstadt eigentlich verteidigen sollte, mit Rücksicht auf die noch verbliebene Bevölkerung kampflos geräumt. Hier zogen französische Truppen ein, die leider sofort schlimm zu hausen begannen.
Josef Werner, langjähriger Leiter der Lokalredaktion bei der Karlsruher Tageszeitung Badische Neueste Nachrichten und Verfasser einiger zeithistorischer Bücher, darunter Karlsruhe 1945: Unter Hakenkreuz, Trikolore und Sternenbanner, der am 19. Dezember 2014 seinen 100. Geburtstag begehen konnte, hat darüber Folgendes geschrieben:
»Praktisch ohne Gegenwehr fiel die Stadt am Mittwoch nach Ostern, es war der 4. April, den französischen Truppen in die Hände … Nach der ›Eroberung‹ der Stadt durch die Franzosen brach in Karlsruhe jegliche Ordnung zusammen. Einheimische plünderten die Geschäfte, französische Soldaten raubten aus den Wohnungen der Besiegten, was ihnen gefiel. Um für einen Film Kampfhandlungen vorzutäuschen, steckten die Franzosen mehrere große Gebäude in der Innenstadt in Brand. Den Siegern wehrlos ausgeliefert, wurden in der Osterwoche zahlreiche Mädchen und Frauen vergewaltigt. Allein in der Landesfrauenklinik gab es in den folgenden Wochen 267 Schwangerschaftsabbrüche nach Vergewaltigung durch zumeist nordafrikanische Kolonialfranzosen. Auch zwei Nonnen vom Kindergarten St. Konrad gehörten zu den Opfern.«
Vor solchen Erlebnissen hatte mich mein Vater bewahren wollen, als er mich nach Dielheim schickte mit den Worten: »Wenn die Franzosen hier einmarschieren, ist meine Tochter nicht hier!« Vater hatte den Frontverlauf anhand der Heeresberichte genau verfolgt, ahnte, wo die US-Truppen einmarschieren würden, nämlich bei Heidelberg, und wo die Franzosen. Er war keiner der vielen badischen »Franzosenfresser«, die aufgrund von Generationen umfassender Erfahrungen mit marodierenden französischen Truppen nichts Gutes vom französischen Nachbarn erwarteten. Frankreich hatte sich ja unter dem »Sonnenkönig« Ludwig XIV. nicht nur das Elsass und Teile des deutschsprachigen Lothringens (wie Metz) einverleibt. Des Königs Marschälle Turenne und Mélac, die rechts des Rheins so verhasst waren, dass man früher Hofhunde nach ihnen benannte, drangen auch in die Pfalz und nach Baden ein, brannten Residenzen wie das Heidelberger Schloss sowie die Dörfer und Städte des gesamten badischen Landstrichs nieder. Unter Kaiser Napoleon litt dann nicht nur Baden schwer, sondern ganz Europa bis hin nach Moskau. Mein Vater war kein »Franzosenfresser«, sondern Realist.
Als die US-Artillerie am 31. März ihr Trommelfeuer schlagartig beendete, trat in der badischen Ebene eine Weile gespannte Stille ein. Dann kamen die Amerikaner. Über Wiesloch sickerten die G.I.s geradezu gemächlich in Dielheim ein. Auf leisen Sohlen, in Schützenreihe rechts und links der Straße, immer sichernd nach allen Seiten blickend und in Deckung der Häuser, sah ich sie kommen. Dann schlug einer mit dem Gewehrkolben gegen die Tür. Mein Schulenglisch prädestinierte mich als Türöffner. Ein langer Lulatsch in fremder Uniform musterte mich, grinste breit und durchsuchte dann mit einigen Kameraden das Haus nach verborgenen Waffen und versteckten deutschen Soldaten, die es freilich bei uns nicht gab. Kaugummi kauend zogen sie weiter. In unserer Gegend war der Krieg aus.
Im Osten dagegen wurde verbissen weitergekämpft und sinnlos gestorben, gemäß dem berühmt-berüchtigten NS-Marschlied »Es zittern die morschen Knochen« mit dem vermessenen Schlussvers: »Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.« Nun gehörte uns gar nichts mehr. Hans Baumann, von dem Text und Melodie dieses Lieds stammen, wies nach dem Krieg darauf hin, dass er im Urtext geschrieben habe: »Heute, da hört uns Deutschland …«. Unstrittig ist jedoch, dass bei der »Hitlerjugend« »Heute gehört uns Deutschland …« gesungen wurde.
Von der »Götterdämmerung« im Osten erfuhren wir kein Wort, da wir im besetzten Westen von allen Nachrichten aus dem Restreich abgeschnitten waren. Dabei spielten sich nun unbeschreibliche Tragödien dort ab. So kam es Ende April 1945 im »Kessel von Halbe« zu einem schrecklichen Blutbad. Das Städtchen Halbe liegt im Südosten Berlins in der Mark Brandenburg. Das Umland: ein ländlicher Raum, einst kaiserliches Jagdrevier, bedeckt von ausgedehnten Wäldern, dazwischen Ackerland, Seen und kleine Ortschaften wie Halbe. Hier wurden die Reste der 9. Armee von den Russen eingeschlossen.
In ihrem Buch Der Kessel von Halbe – 1945 – Das letzte Drama schreiben die Autoren Richard Lakowski und Karl Stich:
»Mit in den Kessel geriet eine unbekannte Zahl von Evakuierten aus den Gebieten beiderseits der Oder und Neiße, von Flüchtlingen aus Orten, die die Front überrollt hatte, von Angehörigen des Wehrmachtsgefolges sowie von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und Häftlingen des Dritten Reiches. ›Gerechte‹ und ›Ungerechte‹ wurden, ohne ihr Los beeinflussen zu können, in den Strudel des Untergangs mitgerissen.«
Der Todeskampf der 9. Armee, die sich aus der russischen Umklammerung zu befreien versuchte, endete am 2. Mai 1945. Es hatte sieben Tage gedauert, ehe es einem Rest der Truppe gelungen war, aus dem Kessel bei Halbe aus- und zur 12. Armee durchzubrechen.
Ein überlebender Offizier schrieb später in dem oben genannten Buch: »Im Kessel waren etwa 10000 bis 14000 deutsche Soldaten aller Waffengattungen und dazu an die 20000 Zivilisten mit Viehherden, Einzelvieh, Hausgerät, Familien, Frauen mit Kindern, teils zu Fuß, teils mit bespannten Fahrzeugen, Handkarren. Dies alles unter andauerndem Artillerie-, Granatwerferbeschuss und Schlachtfliegerangriffen der Russen. Etwas trafen sie immer. Der Zustand im Kessel war grauenhaft. Soldaten, Zivilisten, Kinder, Frauen und Fahrzeuge bewegten sich im Kreise, um dem Beschuss zu entgehen, wie ein tausendfüßiger Riesenwurm, sich selbst in den Schwanz beißend. Es erschossen sich Offiziere, Soldaten, Zivilisten mit ihren Familien, ganze Gruppen deutscher Menschen. Erschüttert, fassungslos, hilflos stand ich diesem Geschehen gegenüber.«
Rund...