Unser Pilgerweg 2008
Anreise
16. Juni 2008
Ein Traum wird wahr
Endlich war es so weit: Nach dem Abiball tauschten wir die eleganten Kleider gegen die Wanderkluft, welche uns die nächsten Wochen begleiten sollte. Die Rucksäcke standen bereit, etwa 10 Kilogramm Gewicht pro Person, Wasserflasche und Verpflegung kamen später noch hinzu. Wie sollten wir es nur schaffen, das alles quer durch Spanien zu tragen? Das Gefühl aber war einzigartig: aufzubrechen zu einer Wanderung, bei der ich letztendlich überhaupt nicht wusste, was mich erwartete. Der Pilgerausweis war neben der am Rucksack befestigten Jakobsmuschel als sichtbares Symbol des Jakobspilgers das Wichtigste, er berechtigte uns, in Pilgerherbergen zu übernachten. Bei unserem Pfarrer ließen wir uns den ersten Stempel hineingeben, er wirkte auf dem jungfräulichen Papier noch ziemlich verloren, aber es würden ja bald viele hinzukommen.
Unsere Familie ließ uns nur ungern ziehen, sie machte sich Sorgen – zwei Frauen, ganz allein auf dem Jakobsweg, der durch dunkle Wälder und menschenverlassene Gegenden führt ... Doch mich kümmerte das nicht. Ich wusste nur, dass ich endlich den Weg in Angriff nehmen würde. Wie ich das letztendlich schaffte, war mir egal.
Nach Zwischenstationen in Bilbao und Hendaye erreichten wir am folgenden Tag Saint-Jean-Pied-de-Port, wo der Camino Francés, der klassische Jakobsweg, offiziell startet. Es liegt noch in Frankreich, die Grenze ist aber nah. Als wir aus dem Bus stiegen, war ich ziemlich erschöpft. Die Reise war lang gewesen und der Rucksack wahnsinnig schwer. Darüber hinaus hatten wir nicht die geringste Ahnung, wo wir eine Schlafmöglichkeit finden konnten. So stolperten wir den anderen Reisenden einfach hinterher, die sich zielstrebig Richtung Dorf aufmachten. Als wir ein Schild sahen, das auf freie Zimmer in einer Pension hinwies, schlugen wir sofort zu – sozusagen ein kleiner Luxus vor dem kargen Leben in den Pilgerherbergen.
Im ganzen Ort sahen wir die Pfeile an den Häusern, die den Jakobsweg markieren, sogar auf dem Essbesteck waren Muschelsymbole abgebildet, wie sie uns auf den nächsten Kilometern begleiten würden. Wir überlegten hin und her, ob wir wirklich gleich den Ibañetapass mit 1200 Höhenmetern überqueren sollten, eigentlich die erste Etappe. Auf der einen Seite wollten wir den Weg ungern damit beginnen, mit einem Bus etliche Kilometer zu überspringen – also gleichsam zu mogeln, wie man auch sagt. Auf der anderen Seite ist der Pass zwischen Frankreich und Spanien berühmt-berüchtigt. Es heißt, er sei eine Feuerprobe und strapaziere den Körper aufs Extreme. Für etliche Pilger war der Weg bereits nach der Überquerung beendet. Zudem waren wir ja überhaupt nicht vorbereitet für solch lange Strecken, wie sie vor uns lagen ... Als wir das Höhenprofil sichteten, das wir von der Pilgerinformation des Ortes bekommen hatten, entschieden wir uns schließlich schweren Herzens dafür, eine Fahrgelegenheit zu suchen. Ich hatte schon seit Jahren Probleme mit den Knien, und vermutlich würde ich sie mir sonst komplett ruinieren, wodurch der Weg auch für mich vorzeitig beendet wäre.
So standen wir am nächsten Tag an der Bushaltestelle und fuhren mit einem kleinen Van, der normalerweise Rucksäcke von Herberge zu Herberge transportierte, über den Pass. Während der Fahrt unterhielten wir uns mit Iván, dem Fahrer, über den Jakobsweg. Er wollte uns weismachen, dass wir im Schnitt 20 bis 25 Kilometer am Tag laufen würden. Meine Mutter und ich schauten uns an und versuchten, nicht loszulachen. 25 Kilometer! 20 waren in meinen Augen das absolute Maximum, was wir jemals schaffen könnten. Schließlich hatten mir bei einer Testwanderung mit fünf Kilo Gepäck im Rucksack schon acht Kilometer gereicht. Sollte er aber recht behalten ... Das kann ja was werden!
Um 10 Uhr erreichten wir Roncesvalles in den spanischen Pyrenäen, unseren Startort am Jakobsweg, dem Camino, wie sie ihn hier nennen. Der Himmel zeigte sich bedeckt, und es war ziemlich kalt. Im klösterlichen Pilgerbüro holten wir uns den nächsten Stempel. Dort lag ein Fragebogen aus, der sich nach den Gründen für die Pilgerschaft erkundigte: Sind es religiöse Motive, kulturelle oder sportliche? Es gibt ja so viele, individuell ganz unterschiedliche! Jeder hat seine Geschichte zu erzählen, wie er auf den Weg gefunden hat, und jede Geschichte ist es wert, gehört zu werden.
Schließlich reihten meine Mutter und ich uns ein in die lange Reihe der Pilger auf dem Weg zum Grab des Heiligen Jakobus, die neben ihrem Rucksack auch ihre Geschichte im Gepäck hatten.
Roncesvalles → Zubiri
17. Juni 2008 | 23 km
Alles ist neu, alles unbekannt. Der Weg wartet. Geh los.
Nun denn, das Abenteuer kann beginnen. Glücklich, aber auch mit etwas Angst vor der eigenen Courage traten wir aus dem Kloster und stellten uns der Herausforderung. Wir schauten uns um, wussten aber nicht, in welche Richtung wir gehen sollten, und liefen die Straße hinunter. Als wir einen Einheimischen erblickten, fragten wir nach dem Weg und folgten seinem ausgestreckten Zeigefinger, der direkt auf ein riesiges Straßenschild zeigte (siehe folgende Seite).
Mittlerweile war es halb elf, als ich meinen ersten Pfeil entdeckte. Es war ein großes Schild, nicht zu übersehen. Der Pfeil leitete uns auf einen Waldweg, der sich immer weiter von der Straße entfernte. Der etwas romantisch anmutende Anfang fand jedoch nach 500 Metern sein Ende, als meine Mutter sich über einen Stein beschwerte, der irgendwie den Weg in ihren Schuh gefunden hatte. Nun ja, jeder weiß, wie man einen Schuh ausleert und dass man danach nochmals in die Knie geht, um ihn wieder zuzubinden. Nur hat man normalerweise keinen Rucksack auf dem Rücken, der gefühlte 20 Kilo wiegt. Dieses Problem fiel uns auf, als meine Mutter sich wieder aufrichten wollte. Mit großem Geächze und meiner Hilfe schaffte sie schließlich den Kraftakt. Ob das jetzt wohl immer eine so große Aktion wird, einen Stein zu entfernen, der mit dem bloßen Auge fast nicht zu erkennen ist ...?
Nachdem wir dieses erste Hindernis überwunden hatten, ließ das nächste nicht lange auf sich warten: eine Kreuzung. Wo soll es langgehen? Wir waren aufgeschmissen. Da war zwar ein Stein mit einem Muschelzeichen drauf, aber wie soll man es interpretieren? Auf gut Glück wanderten wir einfach weiter und hofften, bald weitere Zeichen zu finden.
Wir brauchten einige Kilometer und die Erklärung unseres Pilgerhandbuchs, um zu lernen: Pfeilen folgt man am besten in die Richtung, in die sie zeigen. Die Muscheln haben eine symbolische Bedeutung. Die Strahlen zeigen die verschiedenen Wege, die in einem Punkt, Santiago, zusammenlaufen. Also darf man keinesfalls den Strahlen folgen, sondern muss auf den Punkt zugehen. (Kleiner Tipp am Rande: Lesen Sie das Vorwort Ihres Reisehandbuchs! Da stehen oft sehr nützliche Informationen drin, die einem das Leben deutlich erleichtern können. Quellenangabe unseres Pilgerhandbuchs: Spanien: Jakobsweg Camino Francés. Outdoor-Handbuch aus dem Conrad Stein Verlag, Reihe „Der Weg ist das Ziel“.)
Nachdem wir uns nun endlich auf dem richtigen Weg befanden, hörten wir Regen auf die Blätter der Bäume prasseln und packten unsere Regencapes aus. Schließlich waren wir ja gerüstet. Doch wie zieht man die an? Das erwies sich als die dritte Hürde, denn unsere Versuche erinnerten eher an das Aufstellen eines Klappliegestuhls aus den 60er-Jahren. Schließlich durchstiegen wir die hochkomplexe Konstruktion, zogen die Capes über den Kopf – und sahen beide aus wie Quasimodo. Bald darauf verließen wir den schützenden Wald und wanderten entlang einiger Felder. Zwar war es kalt und nass, aber ich fühlte mich so lebendig und motiviert wie schon lange nicht mehr. Der Wind zerrte an mir, als ich mir meinen Weg durch den Regen bahnte und dabei bedächtig meine Füße voreinander setzte, denn ich wollte nicht so auszusehen wie meine Mutter, die auf dem schlammigen Weg ausgerutscht und der Länge nach hingefallen war. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen, als sich die erdfarbene Schildkröte, die meine Mutter nun war, wieder erhob.
Wir durchquerten die kleinen Pyrenäendörfer Burguete und Espinal, deren Straßen im strömenden Regen menschenleer vor uns lagen, und erklommen bald darauf einen kleinen Berg, von dem aus wir eine grandiose Aussicht über die grünen Anhöhen der Pyrenäen hatten. Andere Pilger trafen wir nicht, die hatten wahrscheinlich Roncesvalles schon vor 8 Uhr verlassen und waren bereits Stunden vor uns hier durchgewandert. Links und rechts des Weges standen immer wieder kleine Steinhaufen Spalier, von Pilgern aufgeschichtet, um Spuren zu hinterlassen. Durch wochenlangen starken Regen waren die Wege arg aufgeweicht und mit tiefen Pfützen übersät. Bei jedem Schritt saugten sich unsere Schuhe im weichen Untergrund fest, zudem blieb der Matsch an den Schuhen hängen. Als wir schließlich auch noch glitschige Abstiege im Wald erreichten, kam meine Mutter ins Zweifeln, ob es noch freie Betten in der Herberge gäbe, wenn wir erst so...