Listen
Die Leitsätze selbst haben sich mir einer nach dem anderen in einem Experiment eröffnet, dem ich mich zu einem Zeitpunkt unterzog, als ich – mehr, als mir lieb war – empfänglich war für Stress. Das geschah im Frühjahr 2005. Ich war Schauspieler und Regisseur und nahm an verschiedenen Projekten gleichzeitig teil, wie das in meinem damaligen Beruf eben manchmal so lief. Ich führte Regie in einem Zirkus in der Schweiz und trat mit Jugendvorstellungen in den Niederlanden auf. Gleichzeitig trug ich die Verantwortung für das European Zen Center in Amsterdam. Und dann war ich auch noch Familienvater mit kleinen Kindern. Manchmal schlief die Jüngste nachts unruhig und kam zu uns ins Bett. Gefühlt läutete der Wecker dann mitten in der Nacht.
Um nichts zu vergessen, hatte ich mir ein ausgeklügeltes Listensystem erstellt, das in drei Gruppen unterteilt war: Arbeit, Zen und Zuhause. Jede Gruppe hatte wiederum ihre eigenen Unterkategorien. Die Listen konnte ich direkt ausdrucken – mitsamt den richtigen Titeln. Es gab extra Felder für neue Aufgaben. So konnte ich laufend prüfen, was ich bereits erledigt hatte. Aber vor allem auch, was ich noch nicht abhaken konnte. Letzteres machte mich ziemlich nervös, denn es war stets eine ganze Menge. Es erinnerte mich ein wenig an das Spiel »Tetris«: Immer wenn man erleichtert war, dass unten ein paar Reihen vollständig verschwunden waren, kamen oben neue Formen hinzu, die sich noch schneller nach unten bewegten. Es gab kein Ende.
Der Stress in meinem Kopf ließ sich zum Teil auf die Tatsache zurückführen, dass ich andauernd sah, wie viel ich noch tun musste. Zu einem anderen Teil, weil ich mir unbewusst wünschte, dass dieser immer nur weiterrasende Zug doch irgendwann einmal anhalten möge und ich damit »alles erledigt« hätte. Und drittens natürlich auch darauf, dass es in der Tat viel war.
Ich war Zen-Mönch. Doch wo war meine Ruhe, wo meine Gelassenheit? Vielmehr fühlte ich mich angespannt, müde und besorgt. Während dieser Zeit reifte allmählich eine Idee in mir heran, und ich beschloss, den mir hingeworfenen Handschuh aufzunehmen. Ich sammelte meine ganzen Listen und sah mir noch einmal an, wie präzise und perfekt sie waren. Dann zerriss ich sie und warf sie in den Papierkorb.
Beobachtung
Dies war der Anfang meiner Untersuchungen zur Entstehung von Stress.
Der Schritt, die Listen zu entsorgen, schien zunächst unsinnig und unüberlegt. Doch der Gedanke dahinter war richtig: Ich hatte damit einen großen Stressfaktor beseitigt. Mit diesem rigorosen und intuitiven Schritt zwang ich mich selbst praktisch dazu, bei null anzufangen und herauszufinden, was mich grundsätzlich die innere Ruhe verlieren ließ und wie ich sie mir auf Dauer erhalten konnte. Es ging also nicht darum, nur zu gewissen Gelegenheiten entspannt bleiben zu können.
Die innere Ruhe musste zum Ausgangspunkt werden: die Alltagsbewältigung aus einem Zustand der Gelassenheit und Ausgeglichenheit heraus.
Die Zen-Meditation hat mir bei diesem Experiment sehr genutzt. Zen ist neben vielem anderen ein Training in Beobachtung. Man sitzt ganz still, und ob es nun kalt oder warm, angenehm oder schmerzhaft, draußen ruhig oder laut ist, man bewegt sich nicht. Während der Meditation nimmt man die kleinsten Veränderungen wahr, nicht nur ringsumher, sondern ebenso in sich selbst, sowohl in seinem Körper als auch in seinen Gedanken.
Und weil man nichts damit anstellt, weil man nicht eingreift und nirgendwo hinwill, bleibt man als Beobachter hochgradig objektiv. Man hat keine bestimmten Absichten. Die eigene Wahrnehmung wird nicht durch das getrübt, was man gern wahrnähme.
Das Zen schenkte mir ungebeten ein Präzisionsinstrument, ein feines und besonders nützliches Barometer.
Die Wahrnehmung von Verspannungen
So spürte ich während der Meditation ab und zu eine Verspannung in meinem Bauch. Die Atmung verlief dann etwas mühsamer. Es gelang mir nicht, dieses Spannungsgefühl an Ort und Stelle loszulassen. Manchmal verschwand es am Ende der Meditation, aber ein anderes Mal war es wieder da.
Woher kam diese Verspannung? Ich weitete meine Beobachtung auf das tägliche Leben aus. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass mein Bauch sich oft anspannte, ohne dass ich mir dessen bewusst war.
Die Verspannung konnte zu- und wieder abnehmen, zum Beispiel während eines Telefongesprächs und danach. Sie konnte sich auch festsetzen. Dann schienen Gegenkräfte am Werk zu sein: eine Art interner Widerstand, der eine Blockade auslöste, wodurch die Spannungsgefühle nicht abzufließen vermochten. Das passierte, wenn mich etwas bedrückte, ich aber nicht darüber sprach. Oder wenn mir etwas widerstrebte.
Das war interessant! Indem ich aufmerksam beobachtete, wie die Muskeln in meinem Bauch reagierten, konnte ich meine unbewussten Reaktionen wahrnehmen. Meine Muskeln brachten zutage, was meinen Geist beschäftigte.
Ohne Listen
Weil ich keine Listen mehr erstellte, war ich vollkommen auf mein Gedächtnis angewiesen. Nur die Termine, die ich vereinbarte, durften in den Terminkalender. »Die wirklich wichtigen Dinge werde ich mir schon merken«, dachte ich naiv.
Aufgrund der besonderen Situation, in die ich mich selbst bewusst begeben hatte, fing ich nun an, Entdeckungen zu machen. Damit ich auch ja nichts vergessen würde, richtete ich meine Aufmerksamkeit besonders auf die »Reminder«, die mein Geist aussandte. Ich entwickelte ein Bewusstsein dafür, wenn etwas in meinem Inneren meine Aufmerksamkeit verlangte. Das konnte während ungelegenen Momenten passieren. Wenn ich gerade dabei war, einen Theatertext auswendig zu lernen, sagte eine leise Stimme in mir: »Vergiss nicht, einen Termin bei der Dentalhygienikerin zu machen …«
Warum mischte sich dieser Gedanke jetzt ein? Er störte mich. Ich war dabei, einen Text zu memorieren, und ich bedeutete dem Gedanken: »Hau ab, und bring mir deine Botschaft zu einem besseren Zeitpunkt!«
Inzwischen gab mein Barometer Alarm: Es hatte Spannung registriert – physische Spannung. Weil ich mich belästigt gefühlt hatte, wies ich den Gedanken auch mit meiner Körpermuskulatur ab.
Abweisung verursacht Spannung, stellte ich fest.
Es gab noch andere Feststellungen, die ich nur machen konnte, weil ich meine Listen verbannt hatte.
Mehr und mehr verließ ich mich auf mein Gefühl. Es passierte immer öfter, dass ich etwas erledigte und dafür auch in der richtigen Stimmung war. Mit anderen Worten: Wenn ich es mir selbst erlaubte, konnte ich viel öfter Vorhaben im passenden Moment ausführen – mit allen entsprechenden Vorteilen.
Die Gebrauchsanleitung für den Anschluss eines neuen Routers – zur richtigen Zeit gelesen – versteht man schneller, wenn man fit ist. Ein lästiges Telefonat – im geeigneten Moment geführt – kann bedeuten, dass man etwas in gute Bahnen zu lenken versteht oder eine Lösung für etwas findet.
Oder andersherum: Inspiration konnte jetzt dazu führen, dass ich sofort aktiv wurde, auch wenn der Zeitpunkt vielleicht etwas merkwürdig war. So arbeitete ich beispielsweise eines Abends nach einer längeren Autofahrt noch das Konzept für einen Vortrag aus.
Wenn ich müde war, weil wir in unserer Nachtruhe gestört worden waren, da meine Tochter auch gern ohne Albträume zu uns ins Bett kam und ich ihr mitten in der Nacht hatte beibringen müssen, dass sie in ihrem eigenen Bettchen ebenso gut würde schlafen können, entschied sich mein Gefühl am nächsten Morgen für andere Aktionen, als wenn ich ausgeschlafen gewesen wäre. Auch dann erledigte ich sinnvolle Aufgaben – allerdings solche, die mir weniger Konzentration abverlangten. Bildmaterial aussuchen für die Vorstellung zum Beispiel. Unterhaltsam und nicht anstrengend.
»Der richtige Moment« wurde zu einem neuen Begriff für mich, und es würden noch weitere neue Begriffe folgen.
Intuition
»Mit seiner Intuition entscheiden« ist diesbezüglich ein gutes Beispiel. Das tat ich nämlich, indem ich auf mein Gefühl hörte. Bis dahin war der Begriff »Intuition« für mich – wie für viele andere auch – ein eher vager Begriff: eine zwar existierende, aber unzuverlässige Fähigkeit. Intuition war vor allem etwas, was Frauen benutzten, während Männer wiederum besser Karten lesen konnten. Wir haben den Überblick – sie das Gefühl. Bei der Intuition ging es um Vorahnungen, um die Fähigkeit, unter die Oberfläche schauen zu können. Unter dem Deckmäntelchen der Intuition konnte vieles behauptet werden, was sich nicht verifizieren ließ.
Nachdem ich jetzt in meinem Umgang mit Zeit begonnen hatte, nach Gefühl zu navigieren, musste ich mir wohl oder übel eingestehen, dass ich im Grunde meine Intuition benutzte. Eine Landkarte des Programms war dabei nicht vorhanden. Es ging noch weiter: Ich untersuchte ungewollt auch, wie die Intuition genau funktionierte und welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, um sich wirklich auf sie verlassen zu können. Und ich stellte fest, dass dies alles bei Männern genauso gut funktioniert wie bei Frauen!
Aber wie auch Kursteilnehmer oftmals fragen: »Wenn man intuitiv entscheidet, was man tun wird, wählt man dann nicht vor allem die Sachen, die Spaß machen, und lässt die lästigen Aufgaben liegen?«
Die Frage scheint berechtigt und hängt mit unser aller Erfahrung zusammen: Auf langweilige (Papierkram bewältigen) oder unappetitliche (Katzenklo reinigen) Aufgaben haben wir keine Lust. Wir erledigen sie aus Notwendigkeit. Die Intuition kommt jedoch auch prima mit...