Teil 2: Praxisfälle
Was Coaching einem Narzissten bringt
Narzissten, die mehrere der in Teil 1 beschriebenen Diagnosekriterien auf sich vereinen, begegnen mir eher selten in meiner Praxis. Sie erleben sich ohnehin nicht als defizitär, haben mit ihrem Verhalten keine Probleme und beurteilen eher die Umwelt als schwierig. Durch ihre narzisstischen Bewältigungsstrategien stabilisieren sie ihr System und bleiben dadurch handlungsfähig, behalten die Kontrolle. Sie beklagen zwar die Folgen, nicht aber ihr Verhalten. Was sollte sie also dazu veranlassen, in eine psychologische Beratung oder ein Coaching zu kommen?
Doch auch für diese Menschen gibt es einen guten Grund: Die Kosten, die durch ihr narzisstisches Verhalten entstehen, werden mit der Zeit so hoch, dass sie dringend einen Kredit brauchen. Da sie allerdings von immer weniger Menschen in ihrem Umfeld einen Beziehungskredit bekommen, ist ein möglicher Ausweg die bezahlte Dienstleistung. Es geht also weniger um die Arbeit an Inhalten als um eine bestimmte Form von Beziehung, die Narzissten im Coaching suchen.
Es gibt noch ein weiteres Argument für den Weg zu einem Coach. Coaching arbeitet mit Potenzialen, dient der Persönlichkeitsentwicklung und wird oft mit Führungskräftetraining in Verbindung gebracht. All diese Aspekte entsprechen der narzisstischen Persönlichkeit wesentlich besser als eine psychologische, psychotherapeutische oder medizinische Arbeit an Krankheiten, Symptomen oder Störungen. Insofern ist der Weg zu einem Coach für den Narzissten vielleicht eine „Begegnung auf Augenhöhe“ unter Profis.
Insofern ist der Weg zu einem Coach für den Narzissten vielleicht eine „Begegnung auf Augenhöhe“ unter Profis.
Vielleicht wäre es eine gute Idee, für Narzissten das Coaching in ein „Casting“ umzubenennen. Das hätte nicht nur eine zeitgemäße Popularität, es würde auch die Eintrittsbarrieren senken, weil dadurch das Größenselbst eher angesprochen wird.
Die Beziehung zwischen Coach und Klienten
Wenn ich mir die Motivation anschaue, mit der narzisstische Persönlichkeiten an ihrer Veränderung arbeiten, dann greift eher das negative Schema „Ich bin unzureichend“. Das würden sie zwar zu Beginn in einem Coaching so nicht aussprechen, aber die Kräfte im Hintergrund wirken problemstabilisierend. In den nachfolgenden Fallbeispielen sind die Kosten, die durch die narzisstischen Anteile und die daraus resultierende Kränkung entstehen, von besonderer Bedeutung. Im Sinne einer „Weg-von“-Motivation können sie nämlich wesentlich zur Veränderungsbereitschaft beitragen.
Gerade bei dominanten narzisstischen Anteilen werde ich als Coach zur Projektionsfläche für den Klienten.
Die Beziehung zwischen dem Klienten und mir als Coach ist die tragende Basis für eine konstruktive Zusammenarbeit. Daher kommt ihr eine besondere Bedeutung zu. Gerade bei ausgeprägten Persönlichkeitsstilen und dominanten narzisstischen Anteilen werde ich als Coach zur Projektionsfläche und zum Resonanzkörper für den Klienten. Da er in der Regel seinen Beitrag am Problem nicht erkennt, werden die Forderungen an das Coaching eher in Worte gepackt wie: „Wie kann ich Einfluss nehmen auf meine Beziehungspartner? Wie bringe ich es fertig, dass mich die anderen nicht beneiden?“ Die Allmachtfantasien der narzisstischen Persönlichkeit spielen dabei eine bedeutende Rolle. Dann geht es im Coaching auch darum, dass weder Allmacht als realistisches Ziel noch das Gefühl der Ohnmacht weiterführen. Der Klient macht hingegen Schritt für Schritt die Erfahrung, dass er „partiell mächtig“ ist.
Im Coaching brauchen neben dem narzisstischen Anteil vor allem die ängstlichen, zwanghaften und abhängigen Teile besondere Zuwendung. Auch auf die weiteren Haupt- und Nebenrollen auf der Persönlichkeitsbühne werde ich in den Fällen weiter eingehen.
Um eine tragfähige, vor allen Dingen vertrauensvolle Zusammenarbeit aufzubauen, bemühe ich mich um eine sehr ressourcen- und lösungsorientierte Herangehensweise. Der Klient verdient Respekt für seine Erfolge, seinen Mut und besonders auch für seine wachsende Bereitschaft zur Veränderung und Fehlerfreundlichkeit. Er ist und bleibt o. k., unabhängig von seiner Leistung und unabhängig von seiner Verletzbarkeit, die ihren Ausdruck in der narzisstischen Kränkung findet. Möglicherweise erlebt er diese bedingungslose Zuwendung und Anerkennung als fremd oder trügerisch. In seiner Vorstellung passen Lob und Anerkennung mit Kränkung und Unzulänglichkeiten nicht zusammen. Als Coach besteht die große Herausforderung für mich darin, dieses Misstrauen und die damit einhergehenden Prüfungen immer wieder auszuhalten und zu bestehen.
Im Folgenden geht es also nicht um die narzisstische Persönlichkeitsstörung, sondern um die weitverbreitete narzisstische Kränkung beim narzisstischen Persönlichkeitsstil. Sie erscheint gerne unter dem Deckmantel der Verletzung oder Kränkung, die ich in Kapitel 1.3 der narzisstischen Kränkung gegenübergestellt habe.
Erst im Prozessverlauf der von mir vorgestellten Fälle wurde deutlich, dass hinter der Verletzung eine narzisstische Kränkung verborgen war. Die narzisstischen Anteile der Klienten sorgten dafür, dass diese Kränkung nicht das Anliegen für den Beratungsauftrag war. Als Auslöser wurden durchgängig andere Themen genannt. Die Identifikation der narzisstischen Kränkung konnte jedoch in allen Fällen einen wesentlichen Beitrag zur Lösung des übergeordneten Auftrages leisten.
2.1 Mutterliebe, die erdrückt
Die Beziehung von Kindern zu ihren Eltern ist eine besondere Form der Verbundenheit, denn sie ist eine „Schicksalsgemeinschaft“. Partner, Kollegen und Freunde kann man sich aussuchen, Eltern und Kinder sind vom Umtausch ausgeschlossen. Mütter bleiben ein Leben lang Mütter, auch wenn ihre Kinder selber längst Eltern sind. Insofern gibt es auch eine natürliche Hierarchie, die gelegentlich im Widerspruch steht zu den erwirkten Rollen.
Mit zunehmendem Alter bekommen die Themen Selbständigkeit, Autonomie und Lebenserfahrung eine andere Bedeutung. Wir möchten möglichst lange gut „funktionieren“ und aktiv die Welt mitgestalten. Dazu zählt eben auch die Welt unserer Kinder. Und Kinder brauchen Eltern, die in der Lage und bereit sind, ihnen die Welt zu erklären, ihre Bedürfnisse angemessen zu befriedigen und sich in sie einzufühlen. Genau das aber ist die große Herausforderung für Eltern. Sind sie zu dieser Empathiefähigkeit überhaupt in der Lage oder geben sie in erster Linie ihre Erfahrungen, Erwartungen und Werte an die Kinder weiter? Sie scheinen oft zu wissen, was „das Beste“ für das Kind ist – auch dann, wenn das Kind schon fünfzig Jahre alt ist und bald Oma oder Opa wird.
Die Eltern-Kind-Beziehung ist wegen ihrer emotionalen Verbundenheit in hohem Maße anfällig für Manipulationen.
Die Eltern-Kind-Beziehung ist wegen ihrer emotionalen Verbundenheit in hohem Maße anfällig für Manipulationen. Kinder, auch im fortgeschrittenen Alter, werden oft zu Erfüllungsgehilfen ihrer Eltern und fühlen sich durch sie instrumentalisiert und emotional ausgebeutet.
Das Bedürfnis nach Dankbarkeit, Anerkennung und liebevoller Zuwendung begleitet uns ein Leben lang und stabilisiert auch im hohen Alter unser Selbstbild, zum Beispiel das Selbstbild einer liebevollen, umsorgenden Mutter. Nicht zuletzt das gesellschaftliche Bild einer „idealen Familie“ oder einer „perfekten Mutter“ tragen zu dieser Anspruchshaltung bei. Es ist auch heute noch eher die Ausnahme, dass sich überforderte Eltern vertrauensvoll an professionelle Einrichtungen wenden, um Hilfe zu bekommen. Zu groß scheint die Angst, stigmatisiert zu werden.
Die Familie als überschaubare Einheit einer Wertegemeinschaft kann schnell zur Angriffsfläche werden: „Familie Flodder“ oder „Die Schneiders, die Asis“ machen das Eingestehen von Schwächen und Erziehungsproblemen nicht gerade leichter. Leider werden pädagogische Defizite auch mit körperlicher oder psychischer Gewalt ausgeglichen. Manchmal reichen dazu schon gewaltige Wortgefechte, wie das folgende Beispiel zeigt.
2.1.1 Karin S. und ihre gut gemeinten Ratschläge an die Tochter
Schon seit Jahren gerät Karin S. mit Ihrer Tochter Stefanie immer wieder aneinander. Manchmal scheint es, als würde der Streit einfach vom Himmel fallen. Nur ein paar belanglose Worte, eine Kleinigkeit, und Steffi fährt völlig aus der Haut. Schon mehrfach hat es dazu geführt, dass die beiden ihren Kontakt auf Eis gelegt haben. Dann verkriecht sich jeder in sein Schneckenhaus und wartet darauf, dass der andere ein erstes Signal der Wiederannährung sendet.
Das kann dauern, manchmal wochenlang. Gelegentlich wird die Verbindung auch über andere Familienmitglieder wieder hergestellt, quasi in Form von „Stiller Post“. Oder sie begegnen sich im Supermarkt, vielleicht bei einem Volksfest und reichen einander die Friedenspfeife: „Und, was machst du?“ Ist dieser harmlose Köder erst einmal ausgeworfen, beißt der Fisch bis heute zuverlässig rein. Bisher ist es immerhin gelungen, den Faden stets wieder aufzunehmen und an der gemeinsamen Leidensgeschichte auch gemeinsam weiter zu stricken.
Karin S. ist 69 Jahre alt, verwitwet und Mutter von drei Kindern. Die Jüngste, Stefanie, ist 41. Karin war ihr Leben lang für die Familie da. Während der ersten Schwangerschaft heiratete sie, kündigte den Job und konzentrierte sich fortan auf Ehe und Erziehung. Als die drei Kinder das Haus verlassen hatten, starb leider der Mann recht früh im Alter von 63 Jahren. Karin orientierte sich noch mal auf dem Arbeitsmarkt. Aufgrund ihrer...