I. Meine Karriere – Wie weit will ich gehen?
Anna hat hart gearbeitet und soll nun befördert werden. Doch ihr Chef verlangt, dass sie vorher zwei der zehn Arbeitsplätze in ihrer Abteilung abbaut – und zwar indem sie die betroffenen Angestellten »wegmobbt«. Für Abfindungen sei kein Geld da und Kündigungen seien ausgeschlossen, sagt er Anna im Vertrauen. Die ist geschockt. »Ich finde das schrecklich«, sagt sie, »aber ich will auch Karriere machen.« Wer beruflich erfolgreich sein will, muss Härte zeigen können. In vielen Firmen gilt es immer noch als Beweis von Führungskraft und Führungswillen, dass man sich erst einmal von dem einen oder anderen Mitarbeiter der neuen Abteilung trennt.
Was soll Anna tun? Kompromisse muss doch jeder eingehen beim beruflichen Aufstieg, heißt es so oft. Doch welche Kompromisse sind gerade noch akzeptabel? Ab wann verkauft man seine Seele? Wir haben Klaus Tesch gebeten, Annas Frage zu beantworten. Der Wuppertaler Unternehmer hat 1990 den Max-Weber-Preis für Wirtschaftsethik gestiftet, der seitdem alle zwei Jahre verliehen wird.
Mobbing ist verboten
Klaus Tesch stärkt Anna den Rücken: »Mobbing ist verboten«, sagt er. Wer sich weigert, auf diese Art und Weise Mitarbeiter loszuwerden, verhalte sich noch nicht mal besonders ethisch, sondern eigentlich nur gesetzestreu. Daraus folge natürlich, dass Anna bei dieser Firma keine Karriere machen könne, auch wenn das angesichts der vielen Vorarbeit hart sei. Doch der Unternehmer gibt zu bedenken, dass es sicher nicht bei diesem Ansinnen bleiben würde: »Wenn die Atmosphäre dort so ist wie von Ihnen beschrieben, werden weitere Kröten folgen, die Sie für Ihre Karriere schlucken müssen«, argumentiert Tesch. Er kann sich kaum vorstellen, dass Anna das akzeptieren würde. Und so bleibt aus seiner Sicht nur eine Reaktion – die Suche nach einem neuen Arbeitgeber.
Aber wie oft kann man so etwas machen? Natürlich fällt es Menschen leichter, zu ihren moralischen Kategorien zu stehen, wenn sie älter sind, ihren Platz und ihren Weg im Beruf gefunden haben. Am Anfang des Berufslebens dagegen ist das sehr viel schwerer. Einerseits, weil man noch sehr bewusst im eigenen Empfinden für Anstand ist, andererseits aber auch, weil jeder weiß, dass man einen solchen Schritt nur ein Mal tun kann. Kündigen, obwohl man gerade erst befördert wurde? – Das tut man auch nicht, denn das legt den Verdacht nahe, dass man mit dem neuen Job überfordert war.
Mobbing statt Entlassung – das ist gar nicht so selten, wie der Frankfurter Arbeitspsychologe und Mobbingforscher Dieter Zapf herausgefunden hat: »Es ist definitiv so, dass manche Organisationen Leute absichtlich rausmobben, statt ihnen zu kündigen«, sagte Zapf gegenüber der ZEIT. Insbesondere im öffentlichen Dienst sei das auffällig. Denn dort könne im Prinzip nicht gekündigt werden: »Je sicherer ein Arbeitsplatz für jemanden ist, desto häufiger kommt es zum Mobbing.«
Mobbingforscher gehen von bis zu einer Million Betroffener in Deutschland aus. In vier von zehn Fällen sei es der Chef, der mobbt. Weil ebenso oft aber auch Kollegen zu derartigen Methoden greifen, hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) die Broschüre »Wenn aus Kollegen Feinde werden« herausgegeben. In zehn Prozent der Fälle würden Chef und Kollegen sogar gemeinsam mobben.
Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat den Begriff Mobbing 1963 zum ersten Mal für einen »Gruppenangriff von unterlegenen Tieren auf einen überlegenen Gegner« benutzt. Lorenz beschrieb damit das Verhalten einer Schar von Gänsen, die sich auf einen Fuchs stürzt. Die eigentlich unterlegenen Tiere, also die Gänse, bilden eine Gruppe und können dadurch ihren Angreifer, den Fuchs, vertreiben. So gesehen ist Mobbing eine Variante der Notwehr, und eigentlich eine ganz kluge. Manche sehen das auch heute noch so: »Mobbing ist die Rache der Untergebenen an Kollegen und Kolleginnen dafür, dass man selbst Untergebene(r) ist«, schreibt beispielsweise der Schweizer Martin Herzog auf seinem Blog »brainworker.ch«
Aber ist das wirklich so? Kann Mobbing jemals moralisch sein? Schon sechs Jahre, nachdem Konrad Lorenz Mobbing erstmals definiert hatte, wandelte sich die Bedeutung des Wortes. Der schwedische Arzt Peter-Paul Heinemann beschrieb damit nun einen Zustand, in dem eine Gruppe eine von der Norm abweichende Person attackiert. Als Grundlage dient ihm der lateinische Begriff »mobile vulgus« in der Bedeutung von »aufgewiegelte Volksmenge, Pöbel, soziale Massengruppierung mit sehr geringem oder völlig fehlendem Organisationsgrad, in der triebenthemmte, zumeist zerstörerisch wirkende Verhaltenspotenz vorherrscht.«
Seine aktuelle Bedeutung erhielt der Begriff durch den schwedischen Arzt und Psychologen Heinz Leymann. Er hält Mobbing für den Angriff einer Übermacht oder Mehrheit auf eine Minderheit, in der Regel auf einen Einzelnen. Dabei ist entscheidend, dass das Mobbing über mindestens sechs Monate anhält, also kein Einzelfall, sondern ein andauerndes Verhalten ist.
Schon dies beantwortet die Frage, ob Mobbing jemals moralisch sein kann, mit einem klaren Nein. Und dabei ist vollkommen egal, ob es sich um Notwehr oder eine andere Zwangslage handelt: Mobbing ist eindeutig keine Variante des moralischen Handelns. Es widerspricht allen fünf Ethikansätzen, die im vorigen Kapitel beschrieben wurden. Wer mobbt, maximiert niemals das Gute und minimiert den Schaden, sondern tut das Gegenteil (der Utilitarismus-Ansatz). Ganz besonders verletzt er den Gleichheits-Grundsatz, nach dem alle Menschen gleich zu behandeln sind. Ebenfalls verletzt werden die Rechte dessen, der gemobbt wird, so dass auch der Rechte-Ansatz nicht eingehalten wird. Auch die Fairness wird beim Mobben per se verletzt: Wer gemobbt wird, wird nicht fair behandelt. Interessant ist die Frage des Gemeinschaftsansatzes, da in manchen Mobbing-Fällen die Gruppe einen Einzelnen mobbt. Und doch wäre es eine sehr vermessene Argumentation zu sagen, dass Mobbing in diesem Fall erlaubt wäre, weil es der Gemeinschaft nützt. Denn bei dem Gemeinschaftsansatz geht es gerade darum, eine Situation herzustellen, in der jeder gut leben kann. Und das ist sicher nicht der Fall, wenn ein Mitglied der Gemeinschaft gemobbt wird.
In Schweden ist Mobbing auch gesetzlich verboten. Der nordeuropäische Staat war 1993 der erste in der Europäischen Union, der rechtlich gegen Mobbing vorgegangen ist. 2002 hat auch Frankreich sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht Gesetze gegen Mobbing erlassen. Etliche andere EU-Staaten sind dem inzwischen gefolgt, nicht aber Deutschland. Hier sind einzelne Mobbinghandlungen strafbar und können von den Gerichten verfolgt werden, so beispielsweise im Fall von Körperverletzung. Aber natürlich ist der Nachweis, der von den Betroffenen erbracht werden muss, sehr schwierig.
Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt bezeichnet Mobbing als »systematisches Anfeinden, Schikanieren oder Diskriminieren von Arbeitnehmern untereinander oder durch Vorgesetzte.« Theoretisch können Mobber fristlos gekündigt werden. Ebenso muss der Arbeitgeber seiner Sorgfaltspflicht sofort nachkommen, wenn er von Mobbing-Vorwürfen erfährt. In der Sprache der Juristen heißt das, er sei »handlungsverpflichtet«. Also müsste er eigentlich Mitarbeitergespräche zur Klärung führen, Weisungen zur Lösung erteilen und im Fall von Mobbing abmahnen, versetzen oder kündigen. Tatsächlich aber wird der juristische Weg nur in den wenigsten Fällen gegangen, einfach weil er selten aussichtsreich ist.
Im Fall von Anna ist es zudem sogar der Chef, der von der zukünftigen Führungskraft unmoralisches Verhalten fordert. Darin zeigt sich, wie die Umgangsformen in diesem Betrieb sind. Wie Klaus Tesch zu Recht schreibt, ist ein derartiges Verhalten inakzeptabel. Was aber, wenn man interne Informationen nutzt, um die Karriere voranzutreiben?
Die beste Freundin bewirbt sich auf den gleichen Job
Der folgende Fall hat es in sich: Eine Teamleiterin in einem mittelgroßen Dienstleistungsunternehmen bewirbt sich auf die Abteilungsleiterstelle. Nach einigen Tagen stellt sie fest, dass sich ihre beste Freundin ebenfalls auf die Stelle beworben hat, ohne ihr das vorher zu sagen. Beide sind sehr ehrgeizig. Jede will gewinnen. Da erfährt die eine etwas, was die Chancen der anderen dramatisch verschlechtern würde – wenn es bei den richtigen Leuten bekannt würde. Soll sie die Informationen über die Freundin nutzen? Das Verhältnis der beiden, so schreibt sie an uns, hat sich bereits deutlich abgekühlt, seitdem beide wissen, dass sie um den gleichen Job konkurrieren. Was würde es also ausmachen, jetzt gleich richtig zuzulangen und die – man muss wahrscheinlich sagen – Ex-Freundin ganz aus dem Rennen zu werfen?
Barbara Bierach, Autorin des Buches »Das dämliche Geschlecht«, redet Frauen ins Gewissen, dass sie oft selbst schuld daran sind, wenn sie keine Karriere machen. Statt offen zu kämpfen, legten sie sich Ausreden zurecht, warum sie diesen oder jenen Job nicht bekommen hätten. Anstatt sich einfach einzugestehen, dass andere durchaus auch mal besser sein können als man selbst, würden immer Schuldige gesucht – und gefunden.
Bierach kann nur einen Grund finden, die Konkurrentin anzuschwärzen: Wenn...