WENN ANGST SCHON FRÜH
DAS SAGEN HAT
»Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas Schönes bauen.«
DIE KINDHEIT KANN VOLLER Zauber sein. Staubkörner, die im Sonnenlicht wie Sterne glitzern. Schneeflocken, die auf der Zunge schmelzen. Wohlige Gerüche, Stimmen, die uns trösten, vorlesen, mit uns singen und die wir mit Liebe und Geborgenheit verbinden … Jeder Tag birgt neue Abenteuer, und unsere noch ungebändigte Fantasie schenkt uns das Gefühl, alles, wirklich alles schaffen zu können.
Die Kindheit ist eine Zeit des Entdeckens, und sie ist darüber hinaus eine prägende Zeit. Werden wir von unseren Eltern oder Bezugspersonen bedingungslos geliebt und wachsen in einer sicheren Umgebung auf, dann lernen wir, in großen Dimensionen zu denken und zu träumen. Die Menschen in unserer Nähe sind wie ein Netz, das uns auffängt. Wir fühlen uns geborgen und haben die Möglichkeit, unsere Talente und unser Potenzial – all das, was uns innewohnt – möglichst frei zu entfalten. Noch sind wir völlig abhängig von anderen, auf uns allein gestellt könnten wir nicht überleben. Doch es besteht kein Grund, Angst zu haben, denn für uns wird gesorgt.
Wir sind verbunden mit dem Urvertrauen – den Menschen, uns und dem Leben selbst gegenüber. Zwar erleben wir, während wir heranwachsen, auch Verluste, doch wir haben in uns die Ressourcen, damit fertigzuwerden. Wir halten das aus, denn wir sind nicht allein. Wir tragen zeitlebens die Saat unserer Kindheit in uns, bewahren uns etwas von dem Zauber und dem Vertrauen, das andere in uns gesetzt haben.
All das kann Kindheit sein. Und all das könnte sie uns gegeben haben …
Die meisten Kinder auf dieser Erde erfahren weder Geborgenheit noch Sicherheit, noch das Glück, bedingungslos geliebt zu werden. Kriege, Armut und Hunger waren und sind für Millionen Heranwachsende Realität. Doch selbst in Friedenszeiten und einem Umfeld sozialer Sicherheit stellt sich oft kein Gefühl von bedingungsloser Liebe ein. Auch Wunschkinder können sich unerwünscht fühlen und den Eindruck haben, immer nur zu stören; Kinder aus finanziell gut gestellten Familien können Existenzängste entwickeln und trotz aller Möglichkeiten, die ihnen offenstehen, Hemmungen haben, sich frei zu entfalten. Das Gefühl, nicht gewollt zu sein, sich anpassen zu müssen, um geliebt zu werden, und die Wünsche an das Leben nicht frei formulieren zu dürfen, kann sich tief in uns einnisten. Auch Suchtkrankheiten, Missbrauch und Gewalt überschatten oft bereits die Kindheit. Im Treibsand des Schmerzes, der Familien über Generationen hinweg gefangen halten kann, finden unsere Wurzeln keinen Halt, und unsere Flügel werden gekappt.
Als Kinder verfügen wir über magisches Denken – wir glauben fest daran, dass wir Einfluss auf bestimmte Ereignisse haben. Logik oder das Gesetz von Ursache und Wirkung haben für uns noch keine Bedeutung. Wir beziehen stattdessen alles erst einmal auf uns selbst. Deshalb denken wir auch, wir sind schuld an dem, was uns und anderen passiert, wir sind nicht genug, wir müssen uns anpassen – und kommen gar nicht auf die Idee, dass es meist Gefühle, Muster und alte Wunden sind, die wir von unseren Eltern und Bezugspersonen unbewusst übernehmen, so wie diese wiederum von den Großeltern und deren Eltern … Es ist ein Prozess der Übertragung, der ganz automatisch und unbewusst geschieht. Wir kennen es ja nicht anders. Und so passen wir uns an, um dazuzugehören. Um geliebt zu werden.
Kennst du das Gefühl,
- unerwünscht zu sein, dich nicht liebenswert zu fühlen?
- immer lieb sein zu müssen, um anerkannt zu werden?
- überflüssig zu sein oder zu stören?
- dich für dich selbst zu schämen?
- deine Bedürfnisse an die zweite Stelle rücken zu müssen?
- dich anpassen zu müssen, um geliebt zu werden?
Hast du dir schon einmal überlegt, dass in Wahrheit nicht du selbst der Grund für diese Gefühle bist, sondern sie sich von deinen Bezugspersonen auf dich übertragen haben? Dass du sie als Realität angenommen hast?
Was löst diese Idee in dir aus?
Stellen wir uns unser Leben für einen Moment wie ein Buch mit lauter leeren Seiten vor, die wir im Lauf der Zeit mit unserer Geschichte füllen. So viele Möglichkeiten liegen vor uns, Seiten voller Abenteuer, Gefühle, Entdeckungen, zur freien Gestaltung … Unsere Bezugspersonen spielen in den ersten Kapiteln – unserer Kindheit – naturgemäß eine große Rolle, um sie dreht sich unsere Welt. Ihre Wunden und Verletzungen aber beeinflussen den Lauf unserer Geschichte. Das schränkt die Entfaltung ein, bestimmt die Richtung mit, die unser persönliches »Abenteuer Leben« nimmt. Solange wir das nicht erkennen, sind wir unfrei, und die Geschichte führt immer weiter weg von dem Kern unseres eigenen Wesens – uns selbst. Auch wenn unsere Eltern uns lieben und ihr Bestes geben, können sie uns nicht davor bewahren, dass ihr eigener Schmerz, ihr eigenes ungelebtes Potenzial sich auf uns auswirkt und in den Herausforderungen unseres Lebens widerspiegeln.
Irgendwann kommt der Punkt, an dem wir uns mit der Geschichte, die wir geschrieben haben, nicht mehr identifizieren können oder wollen. Wir sind unzufrieden mit unserem Leben und spüren, dass etwas Essenzielles fehlt: wir selbst!
An dieser Stelle haben wir grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Wir können uns als Opfer der Umstände fühlen, dann wird sich die Geschichte immer wiederholen. Wir können uns aber auch nach innen wenden und uns dieser Abläufe bewusst werden, um uns von den alten Mustern und bisherigen Glaubenssätzen, die uns beschweren, zu lösen. Dann nehmen unsere schmerzlichen Erfahrungen uns nicht länger das Licht und die Luft zum Atmen, sondern werden zu Chancen, an denen wir wachsen und heilen.
Unsere Kindheit prägt uns, doch in uns tragen wir die Fähigkeit und die Kraft, die Muster zu erkennen, achtsam mit ihnen umzugehen, statt uns mit ihnen zu identifizieren, und ihnen dadurch ihre Macht über uns zu nehmen.
All das wusste ich noch nicht, als ich ein kleines Mädchen war und meine ersten Schritte hinein ins Leben machte …
Eine meiner frühen Kindheitserinnerungen ist, wie ich an einem Sonntagmorgen in meinem einteiligen Schlafanzug in unser Wohnzimmer schlich. Meine Eltern schliefen noch, und ich ging auf Zehenspitzen, damit auch ja keiner mich hörte. Ein starker Geruch nach Zigaretten und Alkohol hing in der Luft. Bierflaschen standen herum, in einigen schwappte noch ein Rest. Ich griff nach einer Flasche, roch daran und nippte am Bier. Der Geschmack war schal, ich verzog das Gesicht, denn ich mochte ihn nicht – aber ich hatte endlich mal probieren wollen, was mein Papa so gerne trank.
An vielen Abenden sagte er auf Plattdeutsch zu mir: »Andi-Maus, kannst du mir noch ’n Bier holen?«
Wenn andere mich »Andi« riefen, konnte ich richtig wütend werden. Nur mein Papa durfte das! Ich mochte es so sehr, wenn er mich Andi nannte. In dem weichen Klang seiner Stimme lag so viel Liebe für mich, und ich war stolz, wenn er mir diese kleine Aufgabe auftrug, die ich ihm gern erfüllte.
An diesem Morgen aber stand ich da, den schalen Geschmack des Biers im Mund, und verstand nicht, was mein Vater daran so mochte. Ich verstand auch nicht, was falsch lief in unserem Familienleben. Denn dass mein Vater trank, war für mich selbstverständlich. Es war mein Alltag, daran war ich von klein auf gewöhnt.
Ich wuchs in einem Umfeld auf, in dem Alkoholismus etwas völlig Normales war. Streit, Geschrei, Angst und der immer wiederkehrende Geruch des abgestandenen Biers waren Teil meiner kindlichen Realität. Ich kannte es nicht anders, und doch spürte ich eine Ambivalenz, die mich verunsicherte. Denn das Bier machte etwas mit den Menschen um mich herum. Auf der einen Seite war da die Liebe meines Vaters, auf der anderen Seite der Alkohol und mit ihm das Unberechenbare, das Gegenteil von Sicherheit und Geborgenheit. Es machte mir Angst, signalisierte Gefahr, die mich vor Schreck erstarren ließ, unfähig, mich zu wehren, zu flüchten, mich anzuvertrauen. Ich fühlte mich ausgeliefert, ohnmächtig.
Seit ich mich erinnern kann, fürchtete ich mich vor Männern und lauten Stimmen. Wenn ich weinte, sagten die Menschen in meinem Umfeld häufig, ich sei zu empfindlich, ein Sensibelchen. »Stell dich nicht so an«, hieß es dann. Oft wurden die Stimmen lauter und rauer, die Luft dicker, und manchmal knallte es.
Als Tochter eines Alkoholikers lernte ich quasi mit der Muttermilch, was ich tun musste, um mich in dem ständig schwankenden Klima der Sucht halbwegs sicher zu fühlen. Sollte ich Papa noch ein Bier bringen, damit er sich freute und lieb zu mir war? Oder lief ich Gefahr, dass seine Stimmung umschwenkte? Alkoholkonsum mindert die Sensibilität für das Umfeld, er geht mit Kontrollverlust einher. Auch wenn mein Vater mich liebte und mir nie Gewalt angetan hätte, brachte seine Krankheit es mit sich, dass er unberechenbar auf mich wirkte. Je nach Situation war es besser, in Deckung zu gehen oder mich anzupassen, mich zurückzunehmen, und möglichst keinen Ärger zu machen. Ich lernte binnen Sekunden abzuschätzen, wie die Stimmung im Wohnzimmer war und was ich tun musste, damit sie nicht (noch mehr) kippte. Das war meine Überlebensstrategie.
Zugleich hatte ich...