Hintergründe
Während ich schlief …
Ich beobachte ihn schon eine ganze Weile. Wie lange, kann ich nicht sagen. Es können Tage oder Stunden sein. Wie er daliegt, wie Schneewittchen, ruhig und sanft gebettet. Er sieht sehr hübsch aus mit seinem dichten dunklen Haar, der blassen Haut und seinem hellblau gestreiften Schlafanzug. Es ist schön, dass er da ist, auch wenn er nur daliegt und sich nicht bewegt.
Die Couch, auf der ich meinen Beobachtungsposten bezogen habe, ist die Couch in unserem Wohnzimmer. Ich liege nicht allein darauf, sondern mit einem Freund oder einer meiner Schwestern. Hier und jetzt sind es nämlich zwei Schwestern … Mutti ist irgendwo in der Wohnung, wahrscheinlich in der Küche. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Es muss doch noch möglich sein!
Plötzlich zucken seine Hände und mein Herz scheint für einen Moment auszusetzen. Seine Arme bewegen sich und er redet mit geschlossenen Augen. Wach auf! Wach doch endlich auf! Ich habe entsetzliche Panik, dass er nur kurz träumt und mir dann endgültig entgleitet, in eine Welt, in der ich ihn nie mehr finden werde.
Ich schreie laut: »VATI! VATI!«
Dann ist es wieder ruhig und der Moment ist vorüber. Ich starre ihn an und auf einmal beginnt er, seinen Kopf in meine Richtung zu drehen, und öffnet seine Augen. Seine dunklen Augen treffen meine und wir schauen uns an.
Dieser Moment ist so wunderschön, dass Vergangenheit und Gegenwart scheinbar miteinander verschmelzen und alles einfach nur noch gut ist.
Er setzt sich auf und ich rufe glücklich und aufgeregt meine Familie hinzu. Ich stelle ihm alle vor, wie hübsch und groß meine Schwestern geworden sind. Mutti kommt auch dazu und alles ist gut. Vati staunt über uns und ich schaue ihn mir genau an. Fühle, wie er sich anfühlt, höre, wie seine Stimme und sein Lachen klingen, und will seinen Arm nie wieder loslassen. Die Welt ist in Ordnung.
Draußen ist es schon dunkel, es ist kalt an diesem Tag und der Wind treibt kleine Schneegriesel in eisigen Böen durch die Luft. Trotzdem hüpfe ich im langen, dünnen Nachthemd auf die feuchte Terrasse und drehe mich glücklich im Kreis. Alle schimpfen mit mir, was mir wieder einfalle, unbedacht und irgendwie verrückt wie immer. Nur Vati nicht. Er beobachtet mit einem stillen Lächeln und stolz sein kleines Mädchen, das zwar tatsächlich irgendwie anders ist, aber genauso möchte er es haben, und genau so hat er es sehr, sehr lieb.
Ich fühle mich unendlich geliebt und geborgen und werde nie mehr allein sein.
Etwas
Auf einmal stupst mir eine kalte Nase ins Gesicht und ich höre das beruhigende Schnurren der beiden sanften Biomotoren direkt neben meinem Ohr. Meine Kätzchen Pitti und Jacky. Wie jeden Morgen beginnt Jacky, an meinem linken Ohrläppchen zu nuckeln.
Das ist sehr niedlich und zaubert mir das erste Lächeln des Tages ins Gesicht. Sie ist als Minikatze zu mir gekommen, und da ich sie mit der Flasche großgezogen habe, hat sie mit ihren anderthalb Jahren noch immer diesen Saugreflex. Ich finde, sie hat mit dem Ohrläppchen eine kluge Wahl getroffen.
Wenn ich vor dem Spiegel stehe, bilde ich mir ein, mein linkes Ohrläppchen sei auch schon etwas länger. Irgendwann werde ich aussehen wie eine Buschfrau.
Langsam, ganz langsam dringt der neue Tag in mein Bewusstsein. Mein erster Blick gilt wie immer der Uhr über mir. Mist, wieder einmal viel zu lange geschlafen. Dabei ist das gar nicht gut für mich.
Aber ich bin gern im Bett, denn hier bin ich sicher. Hier fühle ich mich beschützt und unbeschwert. Meine Gedanken können fliegen und ich kann überall hin und alles erreichen. Ich denke mir Dinge aus, die ich unbedingt machen möchte und auf die ich mich freue. Hier bin ich wirklich ich – hier bin ich Hanka.
Pitti nörgelt und schimpft laut, denn er hat Hunger und will endlich raus. Ich muss zudem dringend auf die Toilette und trotzdem zögere ich, aus meinem Bett zu steigen. Denn da steht bereits etwas und wartet geduldig und schweigend.
Seit etwa zwanzig Jahren steht es mit aufdringlicher Zuverlässigkeit jeden Morgen vor meinem Bett. Und so steige ich denn gehorsam, wie ein williger Sklave, in die Zwangsjacke, die mir scheinbar auf den Leib geschneidert wurde. Wer dieses äußerst überflüssige Kleidungsstück in Auftrag gab und wann es geliefert wurde – ich kann es nicht mit Gewissheit sagen. Mit Gewissheit kann ich nur sagen, dass es wohl leider so schnell nicht aus der Mode kommt, denn ich kenne einige, denen es ähnlich geht. All jene, die scheinbar etwas fremdbestimmt von unsichtbaren Stimmen aus dem eigenen Unterbewusstsein gezwungen werden, lästige, zeitraubende Dinge immer wieder zu tun, oder die vor unnützen Dingen und Gedanken übertriebene Angst haben.
Auch ich steige jeden Morgen wie Mad Max in die Arena und beginne hundert Kämpfe, von denen ich jetzt schon weiß, dass ich bestimmt fünfundsiebzig davon verlieren werde. Es sind unsichtbare Kämpfe, die keiner sieht und keiner versteht. Denn sie finden in meinem Puppenköpfchen statt, das mir einfach nicht mehr so recht gehorchen will.
Darf ich mich vorstellen:
MEIN NAME IST HANKA RACKWITZ. ICH LEIDE UNTER WASCHZWANG, KONTROLLZWANG UND LEICHTER HYPOCHONDRIE. Parallel dazu hat man eine BORDERLINE-STÖRUNG bei mir diagnostiziert.
Eine flog übers Kuckucksnest
Damit zu leben kostet viel Kraft, und das Schlimme daran ist, dass man denkt, man ist ganz allein damit. Man ist extrem verunsichert. Und zunächst versteht man gar nicht, was mit einem los ist.
Deine sonderbaren Verhaltensweisen erschrecken dich, du versuchst, sie zu unterdrücken und zu verbergen, damit keiner etwas merkt. Sie haben sich dermaßen geschickt von der Seite angeschlichen, dass du es oft erst merkst, wenn es bereits zu spät ist.
Auf die Dauer kostet die einsame Auseinandersetzung mit den unsichtbaren Dämonen allerdings so viel Energie, und auch die Paniksituationen lassen sich näherstehenden Personen gegenüber nicht länger verbergen, dass es doch ans Tageslicht kommt. Ab dann wird es oft nicht leichter, im Gegenteil.
Denn dein Umfeld reagiert leider größtenteils mit Unverständnis. Du kriegst Sätze zu hören wie:
Hör doch einfach auf damit!
Ist doch sicher nur eine Frage des Willens!
Das bildest du dir alles nur ein!
Du willst doch nur im Mittelpunkt stehen!
Ich bitte euch! Wer will denn damit im Mittelpunkt stehen, dass er zum Beispiel Angst vor seinen Schuhen hat? Aber mit Ängsten und Zwängen trifft man meistens auf Engstirnigkeit, dein Leiden wird bagatellisiert oder es liefert Anlass zur Belustigung.
Dabei handelt es sich im gleichen Maße auch um ein körperliches Leiden, das in einer Kombination von beschädigter Seele und kranker Psyche des Betroffenen auftritt. Unser Hirnstoffwechsel ist im Ungleichgewicht und läuft in schiefen und falschen Bahnen. Das Gehirn ist erkrankt, genau wie es bei jedem anderen Teil unseres Körpers passieren kann. Warum nur, frage ich mich manchmal, ist das bei diesem Organ so schwierig zu begreifen?
Aber es läuft nun mal so: Hast du zwei Krücken unterm Arm und einen Humpelfuß, wird dir jeder die Tür aufhalten und sich äußerst rücksichtsvoll dir gegenüber verhalten. Bitte aber mal jemanden, dir die Tür zu öffnen, weil du Angst vor der Klinke hast! Das zieht oft soziale Ausgrenzung nach sich, und das ist das Letzte, was wir brauchen, da dadurch die Verhaltensunsicherheit und die soziale Scheu des Betroffenen steigen.
Fast genauso schwierig ist es, wenn Freunde oder Angehörige versuchen, dir die Zwänge durch Logik und Wissen auszureden oder zu erklären. Es ist zwar gut, dass du ernst genommen wirst und dein Gegenüber dir wirklich helfen will. Aber genau das macht die Sache auch umso komplizierter. Denn wir Betroffenen wissen ja, dass keine reale Gefahr besteht. Das muss man uns nicht erklären. Ich weiß, dass ein Stift, der auf den Boden gefallen ist, keine echte Gefahr darstellt für denjenigen, der ihn aufhebt.
Ich weiß das, ich war nicht schlecht in der Schule und habe einen zufriedenstellenden IQ, und trotzdem sind übertriebene Angst und unangebrachte Panik stets schneller als mein Verstand.
Oft verlieren diese netten Menschen dann aber die Geduld und schreiben einen ein klein bisschen ab. Und das ist schwer zu ertragen, denn dann hat man zusätzlich das Gefühl, die anderen zu enttäuschen.
Aber genau das ist der Punkt, der es für normale Menschen so schwer nachvollziehbar macht: Wenn es sich erklären ließe, ließe es sich verstehen. Aber es hat eben nichts mit Vernunft und rationalem Erfassen zu tun, sondern ist ein komplexer, scheinbar undurchdringlicher Teufelskreis der Komponenten Körper und Seele.
Botenstoffe im Hirn, sogenannte Neurotransmitter wie Adrenalin oder Serotonin, werden in zu großen oder zu geringen Mengen an falschen Stellen und zum falschen Zeitpunkt ausgeschüttet. Das führt zu unangepasstem, oft übersteuertem Verhalten des Betroffenen. Situationen, die völlig normal sind, werden als überdurchschnittlich gefährlich eingeschätzt und zwingen zum Handeln. Ein Handeln, welches, da es mit realen Verhaltensmustern keine Verbindung hat, oft sinnlos ist und in ritualisierten Zwangshandlungen endet.
Somit beginnt sich ein Hamsterlaufrad für den psychisch Kranken zu drehen, der in den Zwangshandlungen die ersehnte Sicherheit und Beruhigung sucht. Ein Teufelskreis aus Angst und Zwängen und dem Stück Leben dazwischen.
Mein Psychotherapeut hat einmal in einer Sitzung versucht, meinem Exfreund, der auch stets voller Unverständnis...