Drama am Starnberger See
Wer heutzutage an den Starnberger See fährt, erlebt vielleicht einen der Tage, an dem das Wasser des Sees wie ein Spiegel zu seinen Füßen ruht und man es sich kaum vorstellen kann, daß hier, an diesen friedlichen Ufern, an denen Möwen und Schwäne sorglos ihr Futter suchen, einmal die Wogen höchster Leidenschaft und Liebe schäumten.
Vom Bahnhof kommend, bummelt man vielleicht ein wenig die Seepromenade entlang, hingerissen vom Anblick der mächtigen, oft schneebedeckten Bergketten, die sich südlich des Sees wie gefrorene Wellen am Horizont entlang hinziehen, etwas wie Sehnsucht erweckend, selbst im ganz der Moderne hingegebenen Menschen.
Vielleicht weht auch der Föhn, während man stehenbleibt und an einem Zeitungsstand Ansichtskarten entdeckt und studiert, die außer den Sehenswürdigkeiten des Ortes auch immer wieder zwei Menschen abbilden, nämlich den jungen König Ludwig II. von Bayern und Elisabeth von Österreich, eine gebürtige Bayerin, die ihre Kindheit und Jugend in Schloß Possenhofen, an diesem See gelegen, verbrachte.
Unser Interesse ist geweckt. Zwei überdurchschnittlich schöne und bezaubernd wirkende junge Menschen, die doch nie als ein Paar auf den Ansichtskarten sichtbar werden, immer vereinzelt vor ihren Schlössern stehen, geheimnisvoll lächelnd.
Was ist ihre Geschichte? In welchem Verhältnis standen sie einst zueinander, und welche Rolle hat der See in ihrer beider Leben gespielt?
Und warum lächeln sie sich so beschwörend – so scheint es uns jedenfalls – von der Vielzahl der Postkarten mit immer mysteriöser erscheinendem Mienenspiel zu?
Gibt es hier etwa ein Geheimnis zu entziffern?
Unsere Suche nach Entschlüsselung des Lebens- und vielleicht gar Liebesrätsels dieser beiden berühmten Menschen des 19. Jahrhunderts führt uns zunächst einmal zurück ins Jahr 1864.
Biographen teilen uns mit, daß in diesem Jahr mehrere höchst wichtige, die politische, aber mehr noch die Kulturgeschichte und wohl am meisten die Liebesgeschichte Deutschlands beeinflussende Ereignisse stattgefunden hatten.
Zum ersten war der erst achtzehnjährige Ludwig II. nach dem Tode seines Vaters, König Maximilian II., am 10. März König von Bayern geworden.
Gleich einen Monat später erfolgte dann eine der ersten kulturellen Großtaten des jungen Regenten: Er schickte seinen Staatsrat mit dem unzweideutigen Auftrag in die Welt, einen gewissen Richard Wagner, flüchtigen Theaterkapellmeister und Komponisten, ausfindig zu machen, koste es was es wolle, und ihn unverzüglich zu ihm nach München zu bringen.
Was auch geschah.
Wagner wurde am Abend des 2. Mai in Stuttgart aufgefunden und ihm wurde ein Porträt des Königs und ein Rubinring überreicht mit den Worten: So wie dieser Rubin glühe, glühe König Ludwig vor Verlangen, den Wort- und Tondichter des «Lohengrin» zu sehen.
Und schon am 4. Mai, in den frühen Nachmittagsstunden, wurde ein höchst überraschter Wagner vom König in der Münchner Residenz empfangen, was den Anfang einer langen, Kunst und Leben verändernden Beziehung zwischen König und Komponist bedeutete.
All das ist längst Geschichte geworden und wohl den meisten Lesern schon bekannt. Und so fragen wir uns an dieser Stelle vielleicht, was hat das alles mit Ludwig und Elisabeth von Österreich und dem Starnberger See zu tun? Und den Wellen einer großen Liebesleidenschaft?
Die etwa vier Wochen dauernde «Sternstunde» der Begegnung dieser beiden Männer ist der Hintergrund, von dem sich die Begegnung Ludwig-Elisabeth, die kurz darauf erfolgte, nur um so strahlender abheben wird.
Also zuerst einmal Ludwig und Richard Wagner. So fing es an, das Drama am Starnberger See. Es ist gleichsam sein erster Akt.
Was Ludwig von Anfang an für Wagner fühlte, war mehr als Freundschaft, ja es ist oft als Leidenschaft bezeichnet worden. Aber diese Leidenschaft war nichts Neues. Wahrscheinlich rührte sie schon von seiner frühesten Jugend her, der Münchener «Lohengrin»-Aufführung von 1858, bei der Ludwig nicht einmal anwesend gewesen sein soll, von der er aber soviel erzählt bekam, daß sein leidenschaftliches Interesse geweckt wurde, und das gleich für beide: für den Komponisten-Dichter und für die Figur des «Schwanenritters», die ihn überaus beeindruckt hatte.
Zeitlebens identifizierte sich Ludwig mit der Rittergestalt Lohengrins, und er hatte wohl auch in Wagner selbst einen gleichsam aus außerirdischen Fernen für kurze Zeit zur Erde niedersteigenden Gralsritter erhofft, in dessen magisch schimmernde Augen hinein er sogleich, beim ersten Treffen, ohne jedes Bedenken oder Zögern für sich die Eidesformel sprach: «Ihm in Treue allzeit verbunden zu bleiben».
Und er machte dies Gelöbnis, obgleich – wie Ludwig später gestand – der erste Eindruck der «realen» Persönlichkeit Wagners auf ihn «nicht günstig» war.
Es ist bekannt, daß Ludwig dieses so rasch, im ersten Kennenlernen schon formulierte «stumme Treuegelöbnis» bis an sein Lebensende, trotz vielfacher späterer Krisen in seinem Verhältnis zu Wagner, nie gebrochen oder bereut hat.
Was er von Anfang an instinktiv in Wagner erfühlte, war dessen schöpferische Tiefe, die er hellsichtig als ein uferlos entfesseltes Meer erkannte, das dichterische und musikalische Traumwelten heraufbeschwören konnte, in denen Ludwig allein zu leben wünschte, dem Künstlichen, dem Irrealen, dem Mythischen bis zur letzten Faser seines Wesens hingegeben.
Wagner bedeutete für Ludwig die Garantie einer unpolitischen, ekstatischen und bewußtseinserweiternden Welt, geboren aus magischem Denken und Dichten, verwirklicht im alle Sinne betörenden theatralischen Gesamtkunstwerk der Opernbühne.
Aber wie oft kann man in die Oper gehen? Sicherlich nur dann und wann, höchst sporadisch, selbst wenn man zusätzlich noch private Vorführungen anordnen kann. Das alles genügte Ludwig nicht.
Um täglich in einer höheren, rein ästhetischen Welt der Töne und Klänge und dichterischen Träume leben zu können, mußte er Wagner ganz einfach zu sich holen, aber nicht nach München, in die Welt der Staatsgeschäfte, sondern an den Starnberger See, wo es leichter war, sich zum Höhenflug aufzuschwingen.
So siedelte Ludwig schon in den nächsten Tagen des Frühlings von 1864 Wagner am See an, wo er für ihn das Pelletsche Landhaus bei Kempfenhausen als Sommerwohnung mieten ließ, ganz in der Nähe seines eigenen Schlosses, in das er selbst Mitte Mai zog.
Wie die vielen, heute so berühmten und beliebten Schlösser beweisen, die der König in der Folgezeit in Oberbayern bauen ließ, liebte er die Voralpenlandschaft weit mehr als München, seinen Regierungssitz.
Den größten Teil seiner Regierungszeit aber verbrachte er hier am Starnberger See, in dem gar nicht grandios angelegten Schloß Berg, das noch heute existiert.
Wenn der König aus den Fenstern seines Schlosses schaute, hatte er zur Linken die Roseninsel vor Augen, ein «im Schilf verdämmerndes, unbewohntes Eiland», und zur Rechten, am Gegenufer des Sees, Schloß Possenhofen, Elisabeth von Österreichs Sommeraufenthalt.
Fast täglich nun sahen sich König und Künstler, mehr und mehr ihrem gegenseitigen, fast übermächtigen Zauber verfallend.
Die Intensität der Freundschaft dieser beiden Männer, an Liebe grenzend und die Sprache der Leidenschaft sprechend, sucht ihresgleichen in der Weltgeschichte.
«Es ist ein hinreißender Umgang», schreibt Wagner in diesen ersten Wochen ihrer Begegnung. «Dieser Drang nach Belehrung [im König], dies Erfassen, dies Erleben und Erglühen ist mir nie so rückhaltlos schön zuteil geworden.»
Und in der Tat konnte Ludwig den Dichter und Musiker Wagner gar nicht absolut genug in sein Wesen aufnehmen, ihn mit tausend Fragen über sein Werk und auch sein Leben fast täglich überschüttend, wenn er ihn in «fliegender Fahrt» im königlichen Wagen von seiner Villa zu sich aufs Schloß gebracht hatte.
Hier mußte Wagner ihm am Klavier aus seinen Opern vorspielen, Bühnenvorgänge erläutern und sogar manchmal Teile des Textes singen und vieles aus seinen theoretischen Schriften vorlesen.
Obendrein schrieb Ludwig noch Briefe an Wagner. So heißt es in einem Brief dieser Zeit: «Immer stärker wird in mir das Verlangen, Sie ganz zu kennen, noch mehr zu hören! – Ich möchte den Entwicklungsgang Ihres Geistes genau kennenlernen, um Sie vollkommen begreifen zu können …»
Schon bald hören sich die Briefe wie «exaltierteste Liebeserklärungen» an, was sie sicherlich auch waren, jedenfalls zu Anfang, in der Sternstunde ihres Begegnens. Ludwig wollte alles für Wagner sein, «Welt, Weib und Kind», in fast maßloser, jugendlicher «Besitznahme» des älteren und so viel reiferen Komponisten.
Und Wagner akzeptierte all diese überschwenglich angebotenen Gaben des jungen Königs, nach einem ruhelosen, in seiner ersten Ehe vereinsamten, oft katastrophennahen Leben sich nun ausruhend, entspannend, entfaltend in den Strahlen dieser königlichen Liebessonne.
Im Gefühl seiner Errettung – auch aus finanziellen Sorgen – und seines neuen, ungetrübten Glücks im Zusammensein mit dem königlichen Freund, schreibt er in einem Brief fast triumphierend: «Ach! Endlich ein Liebesverhältnis, das keine Leiden und Qualen mit sich führt!»
Und Ludwig verströmt sein Fühlen für Wagner, den «Tristan»- und «Lohengrin»-Magier, in Briefanreden wie: «Glühend Geliebter! Himmlischer...