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Ich verbitte mir diesen Ton, Sie Arschloch!

Über den Niedergang der Umgangsformen

AutorAndreas Hock
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783864139680
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Früher war alles besser? Aber sicher! Denn früher hatten wir noch echte Freunde. Die Männer hielten den Frauen die Türen auf, Verträge wurden per Handschlag besiegelt und unser Bankberater faselte nichts von Knock-out-Zertifikaten, sondern legte unser Geld für drei Prozent Zinsen aufs Sparbuch. Andreas Hock, Autor des Spiegel-Bestsellers Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann?, begibt sich auf eine humorvolle und nachdenkliche Reise in die gute, alte Zeit: eine Zeit mit festen Werten und verlässlichen Umgangsformen. Seine Betrachtungen sind komisch, hintergründig und melancholisch zugleich. Ein Buch für alle, die das gemeinsame Mittagessen oder den Fernsehabend im Kreis der ganzen Familie vermissen; für alle, die noch aufstehen, wenn eine Oma in die Straßenbahn einsteigt - und für alle, die von schlechtem Benehmen die Schnauze voll haben. Mit großem Knigge-Test!

Andreas Hock schreibt seit 15 Jahren für verschiedene Zeitungen und Magazine. Von 2007 bis 2011 war er bei der AZ Nürnberg einer der jüngsten Chefredakteure Deutschlands. Heute arbeitet er als freier Journalist, Ghostwriter und Autor. Er lebt in Nürnberg

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Leseprobe

Weil unsere Großväter den Hut zogen

Mein Großvater war ein schmaler, klein gewachsener Mann, der sein Geld als Straßenbahnschaffner verdiente, wie es sie noch bis in die Sechzigerjahre hinein überall im öffentlichen Nahverkehr gab. Er hatte die angenehme Eigenschaft, nie im Mittelpunkt stehen zu wollen, konnte aber trotzdem eine große Gesellschaft unterhalten, wenn er guter Laune war. Natürlich musste er als städtischer Beamter im Dienst stets eine Uniform tragen. Privat aber bevorzugte er für gewöhnlich eine akkurat gebügelte Gabardinehose samt messerscharfer Bundfalte, ein frisch gestärktes, schneeweißes Hemd und – wenn er sonntags in die Kirche ging – ein graues Jackett, an dessen Revers deutlich sichtbar die Kette einer Taschenuhr befestigt war. Dazu trug er, wann immer er aus dem Haus ging, einen Hut.

Egal, ob es Sommer oder Winter war, die Sonne schien oder Regen fiel – wenn Großvater nicht gerade in seinem kleinen Schrebergarten nach den Tomaten sah oder im Hof das Laub zusammenkehrte, war ein dunkler Filzhut mit hochgebogener, eingefasster Krempe sein ständiger Begleiter. Es mochte sein, dass der eigentliche Sinn des Huttragens darin bestand, den Kopf vor Kälte, Nässe oder Sonnenstrahlen zu schützen. Mein Opa trug seinen Hut vorwiegend deshalb, um ihn in einer formvollendeten runden Bewegung seines gesamten linken Armes ziehen zu können, wann immer er jemanden sah, den er kannte oder auch nur glaubte zu kennen.

Über die Kulturgeschichte dieses Kleidungsstücks gibt es zahlreiche ernsthafte und hochwissenschaftliche Arbeiten. Sicher ist, dass der Hut schon bei den Römern eine symbolische Rolle spielte, die über seine Funktion als Kopfbedeckung hinausging. So war er ein Zeichen für die individuelle Freiheit, weshalb ihn sogar Sklaven für den seltenen Fall überreicht bekamen, dass sie aus der Gefangenschaft entlassen wurden. Das Abnehmen des Huts als stille Grußbotschaft tauchte dagegen erstmals im 13. Jahrhundert auf. Anfangs war es eine reine Statusfrage, wer vor wem den Hut zog. Doch im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich daraus jene Attitüde, die auch mein Großvater bis ins hohe Alter hinein schätzte und pflegte. Es war eine kleine Geste, die Höflichkeit ausdrücken sollte, vor allem aber:

Respekt!

Großvater wuchs in einer Zeit auf, in der man seine Eltern siezen musste. Das mutet an, als sei er irgendwann im Spätbarock geboren worden. Tatsächlich aber war er Jahrgang 1905, und das war immerhin das Jahr, in dem Robert Koch den Medizin-Nobelpreis für seine Tuberkuloseforschung erhielt, und nur wenig später, nachdem in Berlin die erste U-Bahn-Linie in Betrieb genommen wurde, was schon deutlich mehr nach moderner Zeit klang. Jedenfalls sprach er zu Hause mit seinem Herrn Vater und seiner Frau Mutter, was sich heute mehr als skurril anhören würde – außer vielleicht für autoritär übermotivierte Menschen wie Louis van Gaal, der während seiner Tätigkeit als Trainer des FC Bayern München in einem Interview erklärte, dass er sich das joviale »Du« auch heute noch von seinen inzwischen erwachsenen Töchtern verbitte.

Damals aber, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war diese Art des Umgangs weniger ein Zeichen für ein herrschsüchtiges und totalitäres Elternhaus. Stattdessen stand das Siezen auch im privaten Bereich schlichtweg dafür, dass man vor der entsprechenden Person eine gehörige Portion Achtung haben sollte. Immerhin war der Vater gemeinhin derjenige, der die gesamte, meist vielköpfige Familie mittels harter körperlicher Tätigkeit zu ernähren hatte, während die Mutter ohne technische Hilfsmittel bergeweise Wäsche waschen und nähen, die Wohnung sauber halten, mehrmals am Tag kochen und natürlich auch die Kinder versorgen musste. Vor Leuten, die sich derart für das Gemeinwohl aufarbeiteten, durfte man als Halbwüchsiger durchaus etwas Ehrfurcht haben. Immerhin stand schon in der Bibel, dass man Vater und Mutter ehren solle, und auch dieses alte Ding war einst ein Buch, dem man sich bei der Lektüre respektvoll näherte.

Dass aufgrund der befremdlichen Siezerei mein mir unbekannter Urgroßvater kein liebevoller Papa und meine Urgroßmutter keine liebevolle Mama gewesen wären, davon ist in der gesamten Familienhistorie rein gar nichts bekannt. Vielmehr schwärmte mein Opa, wann immer er von seiner kargen Kindheit und Jugend erzählte, in den höchsten Tönen von seinen Eltern, die niemals laut oder gar handgreiflich wurden und es schafften, trotz äußerst bescheidener materieller Mittel und einem vier Jahre andauernden Weltkrieg samt anschließender Wirtschaftskrise ein halbes Dutzend Buben und Mädels großzuziehen – und ihnen beispielsweise zu ermöglichen, eine höhere Schule zu besuchen oder eben eine Beamtenlaufbahn zu beginnen. Angesichts dessen war es selbstverständlich, dass die Kinder ab dem Moment, wo sie es konnten, im Haushalt mithalfen, Gehorsam übten – und, bei allen Zwistigkeiten, die es sicherlich auch gegeben haben muss, die natürliche Obrigkeit anerkannten.

1983 beklagte der Spiegel die Gewalt von Kindern gegenüber ihren Eltern in einer aufsehenerregenden Titelgeschichte, die eine breite gesellschaftliche Debatte über dieses Tabuthema auslöste. Amerikanische Forscher hatten kurz zuvor erstmals über das »Battered Parents Syndrome« (Syndrom der geschlagenen Eltern) berichtet und konstatiert, dass plötzlich nicht nur Kinder und Ehefrauen die Opfer von Misshandlungen in den eigenen vier Wänden wurden, sondern immer öfter auch die Eltern selbst. Jugendpsychologen schilderten ihre schlimmsten Fälle – wie den jenes 15-Jährigen Jungen, der von seinen Eltern deren gesamte Ersparnisse erpresste, die er dann in Spielautomaten steckte. Oder den eines 17-Jährigen, der nach einem belanglosen Streit mit seinem Vater aus Wut die gesamte Wohnzimmereinrichtung zertrümmerte und samt Fernseher aus dem Fenster warf. Oder den eines 18-jährigen, der seinen vollen Teller auf die Mutter schleuderte und sie schwer verletzte, weil ihm das Essen nicht schmeckte. Nach der Lektüre dieses Horrorberichts konnte man den Eindruck gewinnen, dass in unserem Land eine ganze Generation heranwuchs, die ihre eigenen Väter und Mütter misshandelte.

Zum Glück war die Situation nicht ganz so dramatisch. Dennoch vermuten Experten des bayerischen Staatsinstituts für Frühpädagogik, dass heute jedes vierte Kind im Alter zwischen zehn und 13 Jahren gelegentlich gewalttätig gegen seine Eltern wird oder zumindest massive Beschimpfungen an der Tagesordnung sind, wenn etwa Anordnungen gemacht oder auch nur Bitten geäußert werden. Die Ursachen sind demnach vielschichtig und reichen von extrem antiautoritärer Erziehung über eine über die Maßen ausgeprägte Mutter-Kind-Bindung bis hin zu einer zunehmenden Vereinsamung der Kinder, die – unbeobachtet von manchen Erziehungsberechtigten – bisweilen nächtelang vor dem Computer sitzen und irgendwelchen Monstern die Köpfe vom Hals schießen, ohne dass es sonst wem im Haus auffällt.

Mein Großvater jedoch besaß nachweislich keinen Computer, mit dem er »World of Warcraft« hätte spielen können, und alleine war er schon deshalb nicht, weil er sich den winzigen Raum, in dem er bis zu seinem Auszug lebte, mit zwei Geschwistern teilen musste, während die anderen drei Brüder und Schwestern gemeinsam im zweiten verfügbaren Zimmer wohnten und die Eltern derweil aus Platzgründen in der Stube übernachteten und auf einen eigenen Schlafraum verzichteten. Man könnte nun vermuten, dass gerade aufgrund dieser beklemmenden Situation eine Menge Frustrationspotenzial bei allen Beteiligten zu verzeichnen gewesen sei, doch allem Anschein nach war dem nicht so. Im Gegenteil: Auch außerhalb der eigenen vier Wände schien Opa immer ein respektvoller Mensch gewesen zu sein, der seinen gewiss auch ab und zu vorhandenen Ärger über Gott und die Welt nicht an Unbeteiligten ausließ.

Jedenfalls ging er nach allem, was man weiß, weitgehend friedlich auf die örtliche Oberrealschule für Knaben, was für Kinder aus einfachen Verhältnissen ein echtes Privileg darstellte. Und wenn man seinen späteren Ausführungen glauben darf, gab es dort zwar einen strengen, aber gerechten Lehrkörper, der in diesen turbulenten Zeiten, in denen das Geld praktisch minütlich verfiel und die Erwachsenen nicht wussten, wie sie am folgenden Tag das Brot bezahlen sollten, stoisch versuchte, den rund 50 Schülern pro Klasse jenes Wissen zu vermitteln, das man nach damaliger Meinung eben besitzen musste, wenn man danach einen ordentlichen Beruf erlernen wollte. Nun hatte allerdings selbst mein Großvater, obwohl ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen konnte, so etwas wie eine Pubertät, in der man als junger Mensch sicherlich auch vor 100 Jahren anfing, Dinge zu tun, die man vielleicht besser nicht getan hätte. In seinem Fall äußerte sich das offenbar darin, dass er heimlich Eckstein-Zigaretten rauchte, ein Mal pro Woche ins Lichtspielhaus ging und sich, wann immer er genug für den Tageseintritt in die Tanzschule angespart hatte, zaghaft mit Mädchen traf. Gut möglich, dass er dabei den einen oder anderen Korb bekam, bevor er zu seinem und unserem Glück meine Großmutter kennenlernte. Er hatte insofern sicher auch des Öfteren Liebeskummer oder schlechte Laune.

Dennoch hätten er und seine Klassenkameraden, Pubertät hin oder her, niemals die Stimme gegen ihre Lehrer erhoben – selbst wenn sie hinter vorgehaltener Hand ausgiebig über den garstigen Dr. von Theske schimpften, der kurz vor den Ferien eine solch schwierige Mathearbeit schreiben ließ, oder den unnachgiebigen Professor Katz, der sich trotz 32 Grad im Schatten zu keinem Hitzefrei erweichen ließ....

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