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E-Book

Ich war Kind C

Ein hilfloser Junge in der Gewalt einer sadistischen Mutter

AutorChristopher Spry
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl337 Seiten
ISBN9783732550531
Altersgruppe16 – 99
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Im Februar 2007 wurde Eunice Spry vom Staatsgericht Bristol zu vierzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Sie wurde schuldig gesprochen, drei ihrer Pflegekinder über den Zeitraum von zwei Jahrzehnten hinweg auf entsetzliche Weise körperlich und seelisch misshandelt zu haben. Der Richter sagte, es sei der schlimmste Fall von Kindesmisshandlung, dem er in seiner langen beruflichen Laufbahn jemals begegnet sei. Was Sie hier lesen werden, ist der Bericht eines dieser Kinder. Ein Bericht darüber, wie es ist, in ständiger Angst zu leben. All diese grausamen Vorfälle ereigneten sich nicht in einem Kriegsgebiet und auch nicht in einer längst vergangenen Zeit, in der die Menschen es nicht anders kannten. Diese Verbrechen geschahen im englischen Gloucestershire, unweit der malerischen Cotswolds, des 'Herzens Englands'. Selbst an den friedlichsten und scheinbar normalsten Orten kann das Böse zu Hause sein.

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Leseprobe

4. Kapitel


Kurze Zeit später bekam meine Mum im Krankenhaus Besuch. Eunice Spry, damals Mitte vierzig, war bereits zwei Mal verheiratet gewesen. Aus ihrer ersten Ehe mit Frank Phillips stammten ihre zwei Töchter Judith und Rebekah. Ihr zweiter Ehemann war Jack Spry gewesen.

Als Eunice Mum im Krankenhaus aufsuchte, hatte sie bereits Charlotte seit deren Geburt 1984 als Pflegekind aufgenommen. Zwei Jahre später kam Karen zu Eunice, und erst kürzlich hatte sie noch Lulu dazugenommen. Zudem kannten Mum und Dad sie ja bereits. Also vertrauten sie ihr.

Mein Bruder Bradley war gerade erst zur Welt gekommen. Im fünften Monat der Schwangerschaft erkrankte Mum an Meningitis. Bradley wurde also geboren, als sich Mum noch von der Krankheit erholen musste. Sie wurde vier Mal umsonst in den Entbindungssaal gebracht — jedes Mal falscher Alarm. Erst beim fünften Mal wurde Bradley entbunden. Die Probleme mit der Schwangerschaft, ihre Krankheit und ihre Sorgen um die Kinder, all das brachte sie an den Rand der Verzweiflung.

Und dann kommt aus heiterem Himmel diese Dame, eine Vollzeit-Pflegemutter. Sie bringt Geschenke mit, macht ein großes Tamtam um Mum, spricht ein, zwei Worte mit den Krankenschwestern und erklärt, dass sie selbst Krankenschwester war — sie ist voll guter Ratschläge und sanftmütigem Tadel, und sie übernimmt die Regie. Für meine Mum war Eunice genau die Person, die sie mehr als alles andere in ihrem Leben brauchte. Jemand, der sich um sie kümmerte, jemand, der ihr sagte, dass alles gut werden würde — kurzum, eine Mutterfigur. Eunice kam genau zur richtigen Zeit, wie ein Geschenk des Himmels. Sie bot an, auf uns Kinder aufzupassen und für uns zu sorgen, bis es Mum gut genug gehe, um uns wieder zu sich zu nehmen.

Mum sagte zu, und meine von Eunice nahezu belagerten Eltern stießen einen Seufzer der Erleichterung aus, als ich ihnen zum Abschied zuwinkte und nach Tewkesbury verschwand.

Aufgrund dieses privat geschlossenen Pflegeabkommens zwischen meinen Eltern und Eunice Spry lebten Bradley und ich ab 1993 bei Eunice im George Dowty Drive, zusammen mit Charlotte, Lulu und Karen. Eunice’ zwei leibliche Töchter waren damals schon ausgezogen. Über die kommenden Jahre hinweg sollten sie öfter zu Besuch kommen und auch teilweise bei uns wohnen, aber im Großen und Ganzen glänzten sie durch Abwesenheit. Die meiste Zeit waren wir — dieser seltsame Mix aus unterschiedlichsten Persönlichkeiten — unter uns. Sicherlich kämpften wir Kinder unbewusst um die Zuneigung unserer neuen Mutter. Alle Kinder machen das. Doch dieses Wetteifern sollte uns in den kommenden Jahren das Leben zur Hölle machen: Die Gewinner wurden verwöhnt und die Verlierer bestraft.

Das Leben meiner leiblichen Eltern war auch weiterhin nicht gerade einfach. Meine Mum sollte noch Jahre im Krankenhaus verbringen, davon die meiste Zeit im Rollstuhl. Sie litt unter einem Rückfall der Meningitis, unter Abszessen, Diabetes und unweigerlich auch unter Depressionen.

Zu alldem kamen noch die schrecklichen Schuldgefühle. Denn während sie im Krankenhaus lag, gediehen ihre Kinder unter der Fürsorge einer anderen Frau. Ich hatte angefangen zu reiten. Ich begeisterte mich neuerdings für Holzschuhtanz. Zudem plante ich ein ganz besonderes Geschenk für Mum: ein Fotoalbum, für das Eunice alle Bilder und seltsamerweise auch die Videofilme meiner Mum einkassierte. Es sollte eine Überraschung werden, und deshalb erwähnte ich bei unseren Wochenendbesuchen Mum gegenüber nie etwas von dem Fotoalbum.

Anfangs fanden diese Besuche noch regelmäßig statt. Wir feierten sogar gemeinsam Feste, unter anderem jene zwei Kindergeburtstage. Der Konflikt zwischen Eunice’ Glauben und dem meiner Eltern, oder besser gesagt, dem fehlenden Glauben meiner Eltern, trat wohl erst später zutage.

Das erste Fest fand im Haus meiner Eltern statt. Es war ein schöner, nahezu perfekter Tag. Ich erinnere mich daran, dass Lichterketten aufgehängt waren. Wir aßen Teegebäck, und Dad hatte einen Homecomputer mit Videospielen. Das war meine Erfüllung: Den Rest des Tages saß ich vor diesem Gerät. Anscheinend wollten meine Eltern Geburtstagsfotos machen, aber niemand konnte mich von dem Computer wegzerren. Ich hatte mich schlichtweg in das Ding verliebt.

An meinem vierten Geburtstag gab es ebenfalls ein Fest. Es fand auf dem Krankenhausgelände statt, da meine Mutter sich noch in der Genesungsphase befand. Meine Eltern hatten für mich eine Fahrt in einem Heißluftballon arrangiert, aber es stellte sich heraus, dass ich dafür leider noch viel zu klein war. Aber sie machten das Beste aus der Situation: Anstatt zu fliegen, durfte ich in den aufgeblasenen Ballon hineinrennen. Ich erinnere mich, wie er sich um mich herum wie eine Wolke aufbauschte. Ich fühlte mich unter seinem riesigen, warmen Baldachin ganz klein, aber absolut sicher. Es war Dezember und das Wetter dementsprechend schlecht, aber in meiner Erinnerung scheint die Sonne.

Das ist meine letzte ungetrübte Kindheitserinnerung. Denn dann fingen die Misshandlungen an. Nach diesem Fest gab es keine weiteren Geburtstagsfeiern mehr. Eunice begann, Macht über meine Eltern auszuüben.

Welche Worte man auch immer benutzen mag, um die Eigenschaften meiner Pflegemutter zu beschreiben, Ungeduld gehört sicher nicht dazu. Denn um in meiner Familie die Rolle zu übernehmen, die Eunice haben wollte, die Rolle des Tonangebenden, reichten ein paar Wochen oder Monate nicht aus. Eunice verfolgte dieses Ziel beharrlich über mehrere Jahre hinweg und war letztendlich auch erfolgreich. Sie wusste, wie sie meine Eltern zu nehmen hatte. Eunice nutzte die Gefühle der Unzulänglichkeit und die Ängste meiner Mum für ihre Zwecke, indem sie Mums Fähigkeit als Mutter ständig in Zweifel zog:

»Wollen Sie wirklich diese Windeln benutzen? Die sind schlecht für die Haut des Kindes, müssen Sie wissen. Sie sollten Baumwollwindeln verwenden.«

»Baden Sie Ihre Kinder lieber nicht so.«

Tun Sie dies nicht, tun Sie jenes nicht. »Lassen Sie mich das machen, meine Liebe.«

Eunice setzte Schuld so präzise wie ein Chirurg das Skalpell ein und übte so ihre Macht aus.

Die Geburtstagsfeiern hörten deshalb auf, weil es laut Eunice unfair gegenüber den anderen Kindern gewesen wäre, den Geburtstag nur eines Kindes zu feiern. Stattdessen sollten wir doch lieber »Festtage« einführen. Und tatsächlich gab es davon auch ein oder zwei, aber auf die Dauer verliefen sie im Sand, da es ja kein festes Datum für diese Festtage gab. Der Hauptgrund jedoch war, dass Eunice danach trachtete, uns unseren Eltern nach und nach, langsam und sehr behutsam, wegzunehmen. Deshalb wurden die Tage, an denen wir uns alle gemeinsam trafen, auf ein Minimum reduziert.

Auch die Wochenendbesuche wurden weniger, weil, so Eunice, das doch die einzigen Tage seien, an denen ich mich meinen Freizeitaktivitäten widmen könne. Wobei von Freizeitaktivitäten kaum die Rede sein konnte. Auch das Fotoalbum, das ganz spezielle Geschenk für meine Mum, hatte sich in Nichts aufgelöst. Eunice hatte die Fotos und Filme nur deshalb eingesammelt, weil sie meine Mum aus meinem Leben herausschneiden wollte — wie ein faules Stück Fleisch. Ich frage mich heute noch, wo das alles geblieben ist.

Meine Mum und mein Dad hätten uns gern besucht, aber natürlich vermied es Eunice, ihnen den miserablen Zustand, in dem sich unser Haus am George Dowty Drive befand, vor Augen zu führen. Meine Eltern versuchten auch mehrmals, ein Picknick nur mit uns Jungen zu arrangieren. Sie riefen an, erreichten aber immer nur den Anrufbeantworter. Die Besuche, die tatsächlich zustande kamen, fanden entweder auf neutralem Gebiet oder in Eunice’ Elternhaus statt.

Bei diesen Besuchen bemerkten meine Eltern, dass ich mich veränderte. Früher war ich liebevoll und anhänglich gewesen. Zum Beispiel hatte ich gern Dads Gesicht ganz fest zwischen meine kleinen Hände genommen, ihm in die Augen gestarrt und gleichzeitig seine Backen zusammengeknautscht. Aber nach und nach entzog ich mich ihnen. Es gab kein Auf-Dads-Schoß-Sitzen und kein Backenknautschen mehr. Sie bemerkten, dass ich Dad mied und bei Eunice Zuflucht suchte.

Etwas, was ich nur deshalb tat, weil sie mir gesagt hatte, mein Vater sei böse.

Oder besser gesagt, mein biologischer Vater. Denn Eunice hatte mir eingebläut, meine Mum und meinen Dad nur noch »meine biologischen Eltern« zu nennen. Ich hatte jetzt eine neue Mutter: Eunice. Und sie sagte mir, dass meine richtigen Eltern böse und drogensüchtig seien — mehr noch, sie seien Drogendealer. Sie erzählte mir, dass wir von unseren richtigen Eltern weggenommen worden seien, weil sie uns unrein erzogen hätten. Einmal bot Eunice an, ein schwarzes Bustier meiner Mutter zu flicken. Aber das war nicht ihre wahre Absicht. Stattdessen schwenkte sie das Bustier vor meinen Augen und schrie: »Da siehst du, was für eine Hure sie ist! Schau genau hin. Nur eine Hure würde so etwas tragen!«

Eunice änderte auch meinen Namen. Meine Eltern hatten mich Damon genannt. Aber Eunice änderte meinen Vornamen in Christopher. Das Gleiche tat sie bei Lulu: Aus Lulu wurde Mary-Beth.

Jedes Mal, wenn meine Eltern uns sehen durften, sorgte Eunice dafür, neben mir zu sitzen. Ich sagte Mum und Dad, wie glücklich ich sei und welche Fortschritte ich in meinen Sprachkursen machte, und gab dann ein paar Brocken Chinesisch von mir. Eunice behauptete nämlich, dass ich sieben Sprachen lernte. Ach, wie glücklich ich war! Ich erzählte von dem Urlaub, den wir machen würden, was ich alles lernte und wie nett doch Eunice sei.

Natürlich saß sie nur so nah neben mir, um sicherzugehen, dass ich Mum und Dad nichts...

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