KAPITEL 2
Imagination als Werkzeug
Von allen geistigen Hilfsmitteln, die in diesem Buch behandelt werden sollen, ist die Imagination selbst das wesentlichste. Auch andere sind wichtig, aber der Imagination kommt fraglos die erste Stelle zu. Sie ist deshalb so wichtig, weil sie weitgehend unsere Gefühlswelt und unsere Verhaltensweisen bestimmt. Fast allem, was wir gelernt oder erfahren haben, ging eine Vorstellung in irgendeiner Form voraus. Obwohl wir uns wohl nicht mehr daran erinnern, haben wir schon als Kleinkind krabbeln, gehen und laufen gelernt, indem wir zunächst einmal in unserer Vorstellung krabbelten, gingen und liefen und diese Vorstellung dann umsetzten.
Spontane und willentliche Imagination
Wenn Sie sich angewöhnt haben, Ihre geistige Aktivität als gegeben hinzunehmen, wird es Sie vielleicht überraschen, zu erfahren, daß Sie verschiedene Arten von Vorstellungskraft haben. Zwei davon sind die spontane und die willentliche Imagination. Sie unterscheiden sich dadurch, daß sie ihren Ursprung in verschiedenen Teilen oder Aspekten Ihres Geistes haben, auf die ich in einem anderem Kapitel näher eingehen möchte. Für den Augenblick wollen wir sie einfach das Bewußte und das Unbewußte nennen.
Spontane Imagination kommt aus dem Unbewußten und wird gespeist aus unserer Erinnerung und durch telepathische Kommunikation. Sie kennzeichnet sich hauptsächlich dadurch, daß sie, zumindest was die Einzelheiten betrifft, ohne unser Zutun aufzusteigen scheint. Wir können bewußt beschließen, eine Erinnerung heraufzubeschwören, doch ihrem Inhalt nach ist sie ein unbewußtes Produkt. Wir können sogar beschließen, uns der telepathischen Eingabe gewahr zu werden, doch das, was eingegegeben wird, stellt unser Unbewußtes uns spontan zur Verfügung. Wenn ich von telepathischer Eingabe spreche, so muß ich erläutern, daß ich hierunter die mentale Kommunikation, nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit anderen Teilen unseres Selbst verstehe, unseren Körper inbegriffen. Auf jeden Fall wird unsere spontane Imagination weitgehend von den Anschauungen beherrscht, die wir im Augenblick in bezug auf uns selbst und das Leben haben sowie von den daraus resultierenden Denkgewohnheiten. Spontane Imagination kann kreativ sein, doch es ist eine Art von Kreativität, die bereits vorhandene Elemente verwendet. Sie kann neue Kombinationen, doch keine neuen Konzepte schaffen.
Genau das aber tut die willentliche Imagination. Hier entsteht die Vorstellung durch einen bewußten Willensakt. Beachten Sie, daß dies nicht dasselbe ist wie wollen, daß eine bestimmte Erinnerung aufsteigt, oder wollen, daß man sich der telepathisch empfangenen Daten bewußt wird. Hier geht es darum, den Vorstellungsinhalt zu »wollen«, das heißt ihn bewußt zu beschließen. Der Unterschied zwischen spontaner und willentlicher Imagination ist wie der Unterschied zwischen dem Heraufholen einer Erinnerung und dem Tagträumen eines freudvollen Erlebnisses, das nie geschehen und höchst unwahrscheinlich ist. Es ist die willentliche Imagination, durch die wir neue Konzepte entwickeln und neue Erfahrungen anziehen. Zu dem, was den Menschen vom Tier unterscheidet, gehört auch, daß wir uns etwas vorstellen können, was nicht ist. Das kann natürlich, je nach Inhalt, sowohl eine Last als auch ein Abenteuer sein.
In den meisten Fällen willentlicher Imagination ist auch ein gewisses Maß an spontaner Imagination beteiligt. Sie übernimmt es, »die Details der Bilder auszumalen«. Ebenso kann »rein« spontane Imagination abgewandelt und beeinflußt werden durch Zuhilfenahme willentlicher Imagination. All dies dient durchaus praktischen Zwecken, wie Sie an anderer Stelle noch sehen werden. Das folgende Experiment demonstriert den Unterschied zwischen spontaner und willentlicher Imagination.
Experiment: Stellen Sie sich die Szenerie eines kleinen Dorfes vor. Es hat eine Hauptstraße und an deren Ende ein Gebäude, das höher ist als die übrigen. Tun Sie dies, ehe Sie weiterlesen. Nehmen Sie sich eine halbe bis eine Minute Zeit, damit Sie die Szene klar vor Ihrem geistigen Auge haben.
Welcher Art war die Szenerie nun? Waren die Häuser strohgedeckt, waren sie aus Lehmziegeln, aus Holz oder aus anderem Material gebaut? War die Straße gepflastert oder nicht? Waren Menschen zu sehen? Was für ein Gebäude stand am Ende der Straße? War es ein Dorf in Indien, Südamerika, Europa oder sonstwo? War es eine Erinnerung an ein Dorf, das Sie einst besucht oder von dem Sie ein Bild gesehen haben, oder war es ein offensichtlich neues Dorf? Der Zweck dieses Experiments ist, Ihnen zu zeigen, daß alle Einzelheiten des Bildes von Ihrer unbewußten, spontanen Imagination beigesteuert werden, selbst wenn es sich um eine echte Erinnerung handelt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten Sie das Bild schnell vor Ihrem Geist, »fertig gemalt« sozusagen. Und sehr wahrscheinlich war es nicht nötig, bewußt irgendwelche Elemente einzufügen, was ein Beweis für Spontaneität ist. Nun jedoch bitte ich Sie, daß Sie sich selbst und einen Freund ganz bewußt und willentlich auf die Dorfstraße stellen, daß Sie die Dorfstraße entlanggehen und sich umsehen. Wenn Sie in der wirklichen Vergangenheit einmal mit einem Freund eine solche Straße entlanggegangen sind, dann stellen Sie sich vor, daß Sie diesmal von einem anderen Freund begleitet werden und andere Dinge tun als damals. Nehmen Sie sich hierfür einige Augenblicke Zeit.
Diesmal haben Sie eine spontan imaginierte Szene mit willentlicher Imagination überlagert. Sie haben dergleichen vielleicht in Tagträumen schon viele Male getan, aber mir liegt daran, daß Sie den Vorgang als Technik erkennen, denn diese Technik wird Ihnen noch sehr gelegen kommen, wenn Sie sich darin üben, auf bewußter Ebene Ihre Realität selbst zu schaffen.
Bildhafte und pantomimische Imagination
Experiment: Sie sehen vor Ihrem geistigen Auge ein mit rotem Band verschnürtes, quadratisches Päckchen von etwa 15 Zentimeter Kantenlänge. Stellen Sie sich vor, daß Sie es öffnen und darin, auf Watte, ein Armband finden. Dann stellen Sie sich vor, wie Sie das Armband anlegen. (Sind Sie ein Mann, dann können Sie ein schwereres, maskulines Armband daraus machen, wenn Sie wollen.) Das ist alles. Als nächstes stellen Sie sich ein solches Päckchen auf Ihrem wirklichen, physischen Schoß vor, ganz so, als wäre es dreidimensionale Realität. Stellen Sie sich vor, wie Ihre wirklichen Hände es vor Ihnen öffnen, das Armband herausnehmen und es um Ihr wirkliches Handgelenk legen. Können Sie einen Unterschied zwischen den beiden Vorstellungen erkennen?
Wenn Sie so beschaffen sind wie die meisten Leute, dann glich die erste einem auf eine Leinwand projizierten Bild, und Sie sahen sich selbst wahrscheinlich von außen, als eine Person, die das Päckchen öffnete und das Armband herausnahm. Die zweite Szene war vermutlich realistischer und die Erfahrung lebendiger. Das kommt daher, daß sich die Vorstellung in Ihre unmittelbare physische Umgebung einfügte. Was die Qualität der Erfahrung angeht, war sie ganz anders als die erste. Diese Art der Imagination hat auch physiologisch ganz andere Auswirkungen. Hätte ich Sie aufgefordert, sich im ersten Päckchen eine Spinne vorzustellen, dann hätten Sie das wohl ohne allzu starke Reaktion gekonnt. Bei der zweiten Art von Imagination jedoch, hätten Ihre Adrenalindrüsen vermutlich, ohne daß Sie es wollten, ein bißchen »Saft« abgegeben.
Der springende Punkt ist, daß wir hier zwei weitere Arten von Imagination haben, jede mit eigenen Merkmalen und Verwendungsmöglichkeiten. Unser Körper reagiert stärker auf die zweite Art. Diese Art von Imagination war auch am Werk, wenn Sie je im Dunkeln allein waren und sich vorstellten, daß jemand oder etwas »da draußen« im nächsten Augenblick über Sie herfallen würde. Sie hat Ähnlichkeit mit der von einem Pantomimen auf der Bühne heraufbeschworenen. (Sie wissen schon: Jemand mit weißgeschminktem Gesicht tut, als würde er eine Treppe hinuntergehen, und das so gut, daß Sie die Treppe fast sehen können.) Wir wollen sie daher »pantomimische Imagination« nennen. Die erste Art von Imagination nennen wir »bildhafte Imagination«.
Bildhafte Imagination eignet sich gut für das Zurückholen von Erinnerungen, für kreatives Spiel (von manchen als Tagträume bezeichnet), für die Entwicklung neuer Ideen, für Projektplanung und für Meditationen verschiedener Art. Für diese Zwecke ist sie ein ausgezeichnetes Hilfsmittel.
Pantomimische Imagination dagegen ist geeigneter, wenn Sie wirkliche Fortschritte in Ihrer Persönlichkeitsentwicklung und Ihrem Können, in Ihren Beziehungen und Ihrer Umgebung, wie auch in Ihrem Gesundheitszustand erzielen wollen. Viele Sportler verwenden die pantomimische Imagination, um sich geistig vorzubereiten und ihren Körper »vorzutrainieren« für bevorstehende Wettkämpfe. Gute Schauspieler benutzen...