EINLEITUNG
Die süßen Jahre
Vor ein paar Monaten ging ich ins Fitnessstudio, stieg wie gewohnt auf mein Trainingsgerät und drückte so lange auf den abgenutzten kleinen Knopf auf dem Monitor, bis ich Kanal 46 eingestellt hatte. Es war sehr früh am Abend – die magische Stunde im Studio. Es war brechend voll, aber seltsam still, nur das Sirren der Fahrradtrainer und das rhythmische Stampfen der Turnschuhe auf den Laufbändern war zu hören. Fitnessstudios in New York gelten weithin als angesagt und dementsprechend einschüchternd, es soll dort von athletischen Supertalenten und absolut schweißfreien medizinischen Wundern wimmeln, die einander aufmerksam beäugen, während sie Hunderte Kilos stemmen und vor dem Spiegel ihre Pirouetten drehen. Alles in allem ist dieses Vorurteil erschreckend zutreffend. Aber nicht abends um halb sechs. Um diese Uhrzeit ist dort alles ruhig, und es gibt keine kritischen Blicke. Stattdessen scheint jeder Fernsehbildschirm auf einen der üblichen Kabelsender eingestellt zu sein – die New Yorker entspannen eben bei Kardiotraining und Wiederholungen alter Serien. An jenem Tag erblickte ich, als ich den Raum betrat, die übliche Reihe vertrauter Gesichter über den Hightech-Geräten. Manche guckten Grey’s Anatomy, andere zogen Law & Order vor. Einige schauten sogar Family Guy, ganz schamlos in aller Öffentlichkeit. Um halb sechs verurteilt einen niemand. Ich selbst wählte immer Kanal 46, auf dem der Sender TBS jeden Nachmittag Friends zeigte.
Angefangen hatte ich damit vor ein paar Jahren, etwa zur selben Zeit, als ich begann, regelmäßig ins Fitnessstudio zu gehen. Ich war Ende zwanzig, und bis dahin hatte Sport zu den Dingen gehört, die ich entweder exzessiv oder gar nicht betrieb. Wie die meisten jungen Frauen (zumindest die, die ich kenne) hielt ich Work-outs für etwas, das man sich antut, um besser auszusehen oder um das Stück Pizza wieder abzutrainieren, das man sich nach fünf Gläsern billigem Wein mit den Freunden noch eben kurz auf der Straße reingezogen hat. Jetzt war ich in eine neue Phase des Erwachsenenlebens eingetreten. Ich bestellte mir gute Pizza nach Hause und aß sie dort mit meinem langjährigen Freund – und zwar nicht allzu spät, weil wir sonst beide Sodbrennen bekamen. Sport trieb ich nun aus gesundheitlichen Gründen, wie eine echte Erwachsene. Das war nur konsequent und ziemlich langweilig, aber ich muss zugeben: Ich mochte es. Einige Aspekte des Älterwerdens gefielen mir weniger (zum Beispiel die Tatsache, dass man immer Mittel gegen Sodbrennen im Haus haben musste), aber das Fitnessstudio zählte nicht dazu. Denn dort konnte ich jeden Abend Friends schauen und für eine Zeit lang in die Vergangenheit reisen.
Kanal 46 entwickelte sich zum nostalgischen Fluchttunnel am Ende meines erwachsenen Arbeitstages. Ich strampelte mich auf dem Arc Trainer ab und sah dabei die Folge, in der Monica aus Versehen Sex mit einem Teenager hat, oder die, in der Chandler mit Jill Goodacre im Vestibül einer Bankfiliale feststeckt. Dabei wusste ich nicht einmal, wer Jill Goodacre war. Ich wusste nur, dass sie in den Neunzigern ein Victoria’s-Secret-Model gewesen war, und die Folge zu schauen glich einer Reise in die Zeit, in der sowohl sie als auch Victoria’s Secret angesagte Popkulturgrößen waren.
Ich hätte mich nie als einen Hardcore-Fan von Friends bezeichnet, obwohl ich die Serie natürlich geguckt hatte. Als die erste Folge 1994 im Fernsehen lief, war ich zehn Jahre alt, und als die Serie endete, ging ich aufs College. In den Jahren dazwischen zählte Friends zu den wichtigsten Serien – zu den wichtigsten Kulturereignissen schlechthin –, und ihre gewaltigen Auswirkungen prägten meine DNS wie radioaktive Strahlung. Ich hatte den Rachel-Haarschnitt getragen, die allerletzte Folge zusammen mit einer Gruppe schluchzender Freundinnen geguckt und hätte, wenn man mich genötigt hätte, wahrscheinlich den gesamten Text von »Smelly Cat« aufsagen können. Doch das war nun wirklich grundlegendes Friends-Wissen – diesen Dingen hatte man kaum entgehen können. Die Serie war immer auf irgendeine Weise präsent. Wenn ich mitten in der Nacht in einem Hotelzimmer den Fernseher einschaltete, lief sie dort, oder ich hörte den Titelsong in einem Supermarkt und hatte tagelang einen Ohrwurm. Friends war ein hilfreicher Bezugspunkt in Gesprächen. (»Adam Goldberg kennst du, oder? Confusion-Sommer der Ausgeflippten? Der Kerl, der Chandlers verrückten Mitbewohner mit dem Goldfisch gespielt hat? Ja, genau der.«) Ich hatte die DVDs nie besessen, aber irgendwie lagen sie immer herum, entweder weil alte Mitbewohnerinnen sie vergessen oder weil neue sie angeschleppt hatten. Als Netflix die Serie am Neujahrstag 2015 (nach monatelangem Hype) ins Programm aufnahm, stellte ich sie an, während ich meinen Kater auskurierte – genauso wie alle meine Kolleginnen und Kollegen, wie ich am nächsten Tag bei der Arbeit feststellte. Die wahren Fans hatten gar nicht erst bis zum Morgen gewartet. Sie hatten kurz nach Mitternacht begonnen und bis zum Morgengrauen durchgeschaut. Ich hingegen sah mir die alten Folgen hin und wieder gern an, ging aber davon aus, dass mein Verhältnis zu Friends ungefähr so war wie das der allermeisten Menschen.
Anfangs war das Friends-Schauen im Fitnessstudio nur eine nette kleine Ergänzung zum Kardiotraining. Besonders reizvoll war es dabei, es auf die altmodische Weise zu tun – im Fernsehen. Ich fand Gefallen an den Nachteilen, die das mit sich brachte, selbst an den Werbeunterbrechungen. Ich mochte es, mir nicht aussuchen zu können, welche Folge ich schaute. Eines Tages lief mal wieder »The One with the Cake« (deutscher Titel: »Geschenke, Geschenke«), und mir kam ein Gedanke, den ich seit Jahren nicht mehr gehabt hatte: Oh, Mann, die habe ich doch gerade erst gesehen. Selbst die Verärgerung darüber war eine tröstende Erinnerung an alte Zeiten.
Schon bald fiel mir auf, dass ich meinen Besuch im Fitnessstudio danach ausrichtete, wann Friends lief. Ich konnte den Sendeplan von TBS auswendig, wusste, wie lange ich von der Arbeit ins Fitnessstudio brauchte und wann genau ich das Büro verlassen musste, um es pünktlich dorthin zu schaffen. Ein paar Jahre später arbeitete ich ausschließlich freiberuflich, von zu Hause aus, was die zeitliche Koordinierung noch einfacher machte. Ich musste nur morgens etwas früher aufstehen, damit ich gegen 17 Uhr fertig war und rechtzeitig zu »The One with Ross’s Sandwich« (»Wer mit wem?«) ins Fitnessstudio kam. Mittlerweile gestand ich freimütig ein: Halb sechs war meine neue Primetime geworden, Friends war für mich wieder »Must-See-TV«.1
Lassen Sie mich eines klarstellen: Friends war nicht meine einzige Beschäftigung. Ich hatte ein Leben. Ich war Journalistin und lebte in New York. Ich hatte eine schöne Wohnung (nicht so schön wie die von Monica, aber wer hat das schon?), in der ich mit meinem tollen Freund lebte, der bald darauf mein toller Verlobter wurde. Natürlich hatte ich so meine Probleme, wie jeder andere Mensch auch, aber ich hatte deutlich mehr, für das ich dankbar sein konnte. Nicht einmal für viel Geld wäre ich zurück in meine Zwanziger gereist – vor allem nicht in die frühen Jahre, in denen ich ständig betrunken Pizzastücke in mich hineinstopfte. Warum also klammerte ich mich mit Anfang dreißig nun plötzlich an eine zwanzig Jahre alte Serie über Leute in ihren Zwanzigern?
Ich verstand es nicht, bis zu dem Tag vor ein paar Monaten, als ich ins Fitnessstudio kam, Friends einschalten wollte – und es nicht fand. Irgendetwas war passiert. Auf Kanal 46 lief nicht mehr TBS, sondern irgendein furchtbarer Sportsender. Ich klickte mich hektisch durch die Liste und verfasste in Gedanken schon eine E-Mail an die Betreiber des Fitnessstudios, in der ich darlegte, was für ein kapitaler Fehler es gewesen war, den Kabelanbieter zu wechseln. Als ich den Blick schweifen ließ, erwartete ich, in eine Reihe wütender Gesichter zu schauen, aber Fehlanzeige. Vielleicht hatte ich mich in meiner Meinung über die Halb-sechs-Meute und die etwas peinliche Verbindung, die zwischen uns bestand, getäuscht? War ich der Freak hier im Fitnessstudio? Gut zehn Minuten lang stand ich bewegungslos auf dem Gerät, drückte abwesend auf den Knöpfen herum und starrte ins Leere. (In diesem Augenblick war ich ganz sicher ein Freak.)
Da überlegte ich, zu welchen anderen Gelegenheiten ich mich ins Friends-Universum zurückgezogen hatte: Wenn ich krank war, in schlaflosen Nächten in fremden Hotelzimmern, an dem Tag, an dem ich eine Absage/Abfuhr von Firma/Schwarm XY erhalten hatte. Friends war der lindernde Balsam auf einem lausigen Tag – das wusste ich bereits. Doch ich hatte die Serie auch dann geschaut, wenn ich tieftraurig war oder Angst hatte: Als ich um meine verstorbenen Großeltern getrauert oder auf das Ergebnis einer Biopsie gewartet hatte. An solchen Tagen wirkte Friends nicht betäubend, sondern warm und tröstend. Die vertrauten Witze und die unverstellte Offenheit dienten mir als Schulter zum Anlehnen. Und ich war nicht die Einzige. In den Wochen nach meinem kleinen Zusammenbruch auf dem Arc Trainer sprach ich mit anderen, denen es genauso erging. Meist begann das Gespräch mit meinem beschämten Geständnis: »Wie sich herausgestellt hat, bin ich emotional abhängig von einer Sitcom. Und wie geht es dir so?«
Viele aus meinem...