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E-Book

Im Leben gibt es keine Proben

AutorBrigitte Biermann, Carmen-Maja Antoni
VerlagDas Neue Berlin
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl250 Seiten
ISBN9783360500359
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Blonder Strubbelkopf, aus den Augen blickt der Schalk, Lebensspuren im hellwachen, klugen Gesicht. Von dieser Frau lässt man sich gern etwas erzählen über das Leben und über die Kunst, der sie sich mit Haut und Haar verschrieben hat. Als Elfjährige wurde sie fürs Fernsehen entdeckt, trat in der Kinderkabarettgruppe auf, bekam erste Filmrollen. Mit der Gage brachte sie den Familienhaushalt auf Vordermann und nahm auch sonst die Zügel in die Hand. Noch vor Beendigung der Schule wurde sie als jüngste Studentin an die Film- und Fernsehhochschule Potsdam aufgenommen. 'In der DDR war sie ein Star', schrieb 'Die Zeit'. Wer sie als Grusche, als Shen Te, als Eva im 'Puntila', wer sie in den großen Besson-, Marquardt- und Langhoff-Inszenierungen erlebt hat, widerspricht da nicht. Aber ein Star? Nebbich. Es geht um Schauspielkunst, um eine einzigartige Wandlungsfähigkeit, um Präzision und Disziplin und Wortgenauigkeit, die das Spiel der Antoni auf der Bühne und noch in der kleinsten Filmnebenrolle unverwechselbar und unvergesslich machen.

Carmen-Maja Antoni hat gemeinsam mit der Journalistin und Autorin Brigitte Biermann ihre Autobiografie geschrieben. Die 1945 geborene Schauspielerin war nach dem Studium in Potsdam am Hans-Otto-Theater und an der Berliner Volksbühne engagiert, kam 1976 ans Berliner Ensemble. Sie übernahm zahlreiche Film-, Fernseh- und Hörspielrollen und arbeitet als Dozentin an der Filmhochschule 'Konrad Wolf' und an der Schauspielschule 'Ernst Busch'.

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Leseprobe

Nachkriegs-Kindheit

Ich war ein Nachkriegskind, ein Künstlerkind, ein Nachbarskind unter vielen. Und ich war immer zu klein. Vielleicht zeichnet das ein Kind aus oder zeichnet es. Meine Eltern heirateten 1942 schnell und katholisch unterm Tannenbaum. Hochzeit unterm Tannenbaum – kurzer Traum, wie der Volksmund sagt. 1944 erstes Kind, meine Schwester, 1945 zweites Kind, ich – das Nichtwunschkind, das nicht mehr gewollte in diesen Zeiten, und dann nicht mal ein Junge. Einmal hörte ich über mich sagen, »dass dieses Kind nicht nötig gewesen wäre«. Schon damals war der Traum meiner Eltern von der Liebe ausgeträumt, fünf Jahre später ihre Ehe zu Ende.

Wir wohnten in einer Reihenhaus-Siedlung in Berlin-Adlershof, in der wegen der Nähe zum Fernsehfunk und der Akademie der Wissenschaften etliche Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler lebten. Klein-Worpswede nannte man die Siedlung. Die Häuschen sind winzig: oben zwei Zimmer und Bad, unten Wohnzimmer und Küche, davor ein Stück Garten.

Mein Vater war Kunstmaler. An ihn habe ich wenige und sehr seltsame Erinnerungen, eigentlich erinnere ich mich nur an meine Sehnsucht nach ihm.

Wie gesagt, ich war sehr klein, und wenn er mich mitnahm zu potenziellen Kunden, um seine Bilder zu verkaufen, lief er wahnsinnig schnell. Ich rannte an seiner Seite, war froh, wenn wir irgendwo angekommen waren und sitzen konnten. Er hatte seine Bilder fotografiert und zeigte den Leuten die Fotos. Als ich längst erwachsen war, traf ich gelegentlich Menschen, die mir erzählten, dass in ihrem Wohnzimmer ein Bild meines Vaters hinge.

Der Beruf des Kunstmalers war in damaliger Zeit genau so brotlos wie heute. So drehte sich jeder Streit im Haus ums Geld.

Mein Vater hatte sich sein Atelier mit Staffelei auf dem Dachboden eingerichtet. Dort fand er Ruhe zum Malen und seine Form von Freiheit. Meine Mutter hingegen war temperamentvoll, ungestüm. Wie oft ignorierte er ihre minutenlang wiederholten Rufe nach ihm: »Pedro, komm essen! Pedro, Essen ist fertig ...!« Nicht nur einmal schmiss sie den Topf mit dem heißen Essen vor seine Ateliertür, weil Pedro sich nicht blicken ließ. Um Stunden später die Kartoffeln und das Gemüse zusammenzuklauben und die Treppe zu wischen. Da tat sie mir immer leid.

Es gab Kräche oder Totenstille im Haus. Bei Krächen war mein Vater passiv, bei der Stille meine Mutter. Sie schrieb dann stundenlang auf ihrer Continental-Schreibmaschine kleine Geschichten oder beschäftigte sich mit Handarbeiten. Vor lauter Kinderstress und Geldsorgen vergaßen meine Eltern, miteinander zu sprechen. Sie waren einfach zu jung, um alle Probleme zwischen zwanzig Windeln pro Tag – wir Schwestern waren ja nur eineinhalb Jahre auseinander –, dem Haushalt und dem Geldverdienen lösen zu können. Sie trennten sich, aber geschieden wurden sie später aus der Ferne durch Professor Kaul, der auf derartige Problemfälle spezialisiert war. Da war mein Vater nämlich schon längst über alle Berge.

Er zog aus, sein Atelier verlagerte er nach Köpenick. Nur selten klappten die Verabredungen mit ihm. Er teilte meiner Mutter wohl mit, dass er uns Kinder sehen wolle, aber dann sagte er plötzlich ab, oder er tauchte unangemeldet auf. Er brachte mir merkwürdige Dinge mit, ein kleines rotes Spielzeugauto zum Beispiel, mit dem ich nichts anfangen konnte. Mal eine Tüte getrockneter Apfelschnitze aus seinem Garten in Zeuthen, mal ein Taschentuch, bestickt mit einer Blume, mal drei Blümchen – für mich sinnlose Gegenstände. Nie schenkte er mir, was ich mir gewünscht hätte. Ihm fehlte jeglicher Sinn für das, was Kinder mögen.

Für mich war es wunderschön, wenn ich ihn im Atelier besuchen durfte. Ich fuhr mit der Straßenbahn-Linie 84 vom S-Bahnhof Adlershof bis zum Rathaus Köpenick, wo ich an den Hauptmann denken musste, der alle so lustig betrogen hatte mit seiner Uniform.

Die Goldrahmen für seine Bilder baute mein Vater selbst. Im Atelier roch es nach Knochenleim, der auf einem gusseisernen Ofen vor sich hin brodelte, in einem Wasserglas schwammen die Leimperlen, zwischen Blattgold, Zigaretten, einem Aschenbecher zum Zuklappen lag Brot auf einer Zeitung. Fragte ich nach Fett oder Butter, sagte er, Butter sei zum Kochen, nicht fürs Brot. Ich saß auf seinem Schoß und sah zu, wie er Ansichten von Sorrent und Genua malte, den Markt von Sizilien und Tiroler Berglandschaften. Er kopierte auch Bilder großer Meister. Wir redeten kaum miteinander, manchmal malte auch ich, und Stunden später brachte er mich zurück zur Straßenbahn.

Nach meiner Einschulung trat Funkstille ein, dann hörten wir: Er war mit einer anderen Frau und unserem Setter Asta nach Westdeutschland abgehauen. Meine Mutter hatte keine Ahnung, wo er abgeblieben war.

Da war ich acht, ein kleines Mädchen, das einen Vater gebraucht hätte, das so lange auf einen Vater hoffte, sich nach ihm sehnte, bis es die Vater-Arbeit im Haushalt selbst erledigte und schon mit zehn Jahren Geld verdiente.

Er fehlte mir sehr, deshalb erfand ich viele Geschichten um meinen Vater, habe ihn in meinen Träumen idealisiert und mich nach diesem Ideal gesehnt.

Ich glaube, in diesem Verlust, in dieser Sehnsucht lag die Ursache für die retardierenden Momente in meinem Frau-Werden.

Später erfuhr ich, dass er Spezialist für italienische Farbmischungen war. Als unsere Klasse einen Ausflug in die Dresdener Gemäldegalerie machte, sah ich ihn auf einem Foto: In weißem Kittel mit schwarzer Baskenmütze stand er auf einer Leiter, aus der Bildunterschrift ging hervor, dass er mitgeholfen hatte, die Sixtinische Madonna zu restaurieren. Da war ich unglaublich stolz.

Wiedergesehen habe ich ihn, als ich zwölf war. Meine Mutter hatte erfahren, dass er in Hessen lebte und dass seine Mutter ihren hundertsten Geburtstag feierte. Die Verwandten luden mich und meine Schwester ein. Als ich ihm gegenüberstand, bin ich fast umgefallen: Die gleiche Nase wie meine, ich bin ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.

Wir konnten nicht viel miteinander anfangen. Mein Vater klapste mir auf den Hintern, behandelte mich wie das kleine Mädchen, das er einst verlassen hatte, und seine Frau mochte ich überhaupt nicht. Mit dieser Begegnung war meine Vatersehnsucht erloschen. Ich litt, weil ich fühlte, dass er mich nicht in den Arm nehmen wollte. Er tat es auch nicht, konnte es nicht. Er war offenbar enttäuscht von mir und meinem Wesen.

Viel später, 1985, ich spielte am BE, erschien nach einer Vorstellung ein Mann in meiner Garderobe und fragte, ob ich verwandt sei mit Pedro Antoni. Der Mann, so stellte sich heraus, war einer meiner Cousins. Er überredete mich, mit meiner Schwester zum siebzigsten Geburtstag unseres Vaters zu kommen. Ich war Reisekader, wie das damals hieß, reiste mit dem Ensemble um die Welt. Für meine Schwester übernahm ich die Bürgschaft, denn für sie bedeutete es unglaublich viel, den Vater noch einmal zu sehen.

Wir schrieben uns danach noch einige Briefe, besuchten uns einmal, und zehn Jahre später starb mein Vater.

Er hinterließ zwei Frauen mit gleichem Vor- und Zunamen.

Meine Mutter war achtzehn, als sie meinen Vater, der zehn Jahre älter war als sie, heiratete, mit fünfundzwanzig hatte sie zwei Kinder, ein Leben hinter sich und die Hoffnung auf ein neues. Es gab genug Männer, die sie begehrten, denn sie war schön: rabenschwarze Haare, wunderschöne dunkelgrüne Augen, ein Körper wie eine Gazelle und Beine wie die von Marlene Dietrich.

Und sie war vielseitig begabt, eine Lebens- und Allroundkünstlerin. Eine Zeitlang arbeitete sie in Westberlin in einem Geschenkeladen als Verkäuferin. Später fand sie Arbeit als Moderatorin beim Radio in der Masurenallee. Um zusätzlich Geld zu verdienen, entwarf sie für andere Leute Kleider, Blusen und Hosen, zeichnete die Schnittmuster auf Zeitungspapier und schnitt sie aus. Ich sehe sie vor mir, wie sie mit dem Schnittmusterrädchen hantierte, einem gezackten Rad an einem Holzgriff. Sie war unglaublich erfinderisch, häkelte in feinster Gabelarbeit Schals. Sie bestrickte uns aus Wollresten, nähte aus abgelegten Sachen Kleider für uns, immer für jede das gleiche. Mein Einschulungskleid bestand aus einer gestreiften Gardine, rechts oben prangte ein gesticktes C. Weil auf einem Spann meiner Schuhe ein Loch war, montierte sie auf beide breite Lederlaschen.

Meine Schwester sah toll aus in den Kleidern, ich hingegen, nun ja, vorsichtig ausgedrückt: nicht ganz so toll.

Meine Mutter benähte unsere Puppen und schneiderte die Kleidchen, die wir beim Eiskunstlauf trugen, wo sie uns gleich nach der Einschulung angemeldet hatte. Sie spielte Tennis und lief hervorragend Rollschuh und Schlittschuh. In der warmen Jahreszeit trainierte sie mit uns auf der einzigen Asphaltstraße unserer Siedlung Rollschuhlaufen. Mir war es unglaublich peinlich, wenn die Nachbarn alle aus den Fenstern glotzten, meine Mutter als Trainerin sahen und ihre Ansagen hörten: »Bitte, jetzt möchte ich einen Dreisprung sehen ... und jetzt eine Pirouette!«

Das Geld war immer knapp, aber Kultur durfte nicht zu kurz kommen. Auf Blockflöte und Mundharmonika spielte sie jede Melodie, die sie nur einmal gehört hatte. Wir durften nicht, wie andere Kinder in der Nachbarschaft, die Schlager im Soldatensender AFN hören, bei uns wurde sonntags die Melodie des Hörers eingeschaltet. Das erste Nachkriegsradio ging leider kaputt, weil ich unbedingt wissen wollte, wie der Mann aussieht, der darin spricht. Meine Mutter besorgte ein neues, und so kannte ich bald die Perlenfischer und Rusalkas Lied an den Mond und Wenn bei Capri die rote Sonne ...,...

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