Einführung
Die Trennung heilen
In vielen spirituellen Lehren ist die tiefe Trennung von Leben und Tod in einer ganzheitlichen Energie aufgehoben, die nicht geteilt werden kann. Aus dieser Sicht ist die Verneinung des Todes zugleich eine Verneinung des Lebens. Wir müssen Alter, Krankheit und Tod nicht mit Leiden gleichsetzen; wir können in einer Art und Weise leben, die das Sterben zu einem natürlichen Übergang macht, zu einer Vollendung des Lebens, ja sogar zur absoluten Befreiung.
Die wunderbare und auch schwierige Arbeit, sterbenden Menschen spirituelle Begleitung anzubieten, ist eine Reaktion auf die von Furcht erfüllte amerikanische Version eines »guten Todes« – ein Tod, der nur allzu oft lebensverneinend, antiseptisch, betäubt, hinter Schläuchen versteckt und institutionalisiert ist. Der eklatante Mangel an sinnstiftenden Ritualen, Lehrbüchern und Materialien für ein bewusstes Sterben hat mittlerweile einer Fülle von Literatur Platz gemacht. Obwohl diese Ansätze der mitfühlenden Begleitung speziell für Sterbende und ihre Betreuer entwickelt wurden, wenden sie sich aber auch an »gesunde Abenteurer«, Suchende, die nicht nur alle Aspekte des Lebens erforschen, sondern sich ganz praktisch mit der einzigen Gewissheit unseres Lebens auseinandersetzen wollen.
Nach vier Jahrzehnten, in denen ich Sterbende und ihre Betreuer begleitet habe, denke ich, dass die Erforschung der Prozesse, die uns den Tod annehmen lassen, auch für all jene von Wert ist, die noch viele Jahre vor sich haben. Natürlich sind Menschen, die krank sind oder leiden, die am Alter oder an einer tödlichen Erkrankung sterben, vielleicht offener dafür, sich mit der großen Angelegenheit des Sterbens auseinanderzusetzen, als junge und gesunde Menschen oder all jene, die noch an ihre eigene Unzerstörbarkeit glauben. Doch je eher wir den Tod annehmen können, umso mehr Zeit haben wir, vollständig zu leben und in der Wirklichkeit zu sein. Wenn wir den Tod annehmen, beeinflusst das nicht nur unsere Erfahrung des Sterbens, sondern auch unsere Erfahrung des Lebens. Leben und Tod sind zwei Seiten desselben Kontinuums. Man kann nicht – was so viele von uns versuchen –, zugleich ein erfülltes Leben haben und sich das Unvermeidliche vom Leibe halten wollen.
In unserem Unbehagen machen wir oft Witze über den Tod, der genauso endgültig ist wie die Steuern. Woody Allen hat diese Haltung, die die meisten von uns amüsant und normal finden, auf die Spitze getrieben: »Ich habe keine Angst vor dem Tod; ich will nur nicht dabei sein, wenn’s passiert.«3 Ja, das ist lustig, aber die tragische Verzerrung besteht darin, dass wir auch das Leben vermeiden, wenn wir den Tod vermeiden. Ich weiß natürlich nicht, wie es Ihnen damit geht, aber ich will bei allem dabei sein.
Wenn Menschen sich zu einem Meditations-Retreat zusammenfinden, können wichtige Veränderungen im eigenen Geist und im eigenen Leben eintreten. Ich denke oft an ein bestimmtes Retreat, weil damals etwas geschah, das mit erbarmungsloser Deutlichkeit aufzeigte, wie zerbrechlich unsere menschlichen Körper sind und wie ernst die »Große Angelegenheit von Leben und Tod« ist, von der Buddhisten sprechen.
Das Retreat fand in den 1970er Jahren auf Cortez Island in Kanada statt, in einem idyllischen Zentrum, das damals Cold Mountain Institute hieß. Es war gerade der Beginn des Morgenprogramms; wir hatten gerade unsere erste Meditationsrunde abgeschlossen. Ein leiser Glockenschlag beendete die Runde; wir streckten unsere Beine und standen zur Gehmeditation auf – ein Mann jedoch blieb sitzen.
Ich erinnere mich an ein Gefühl der Beunruhigung, als ich mich umdrehte und ihn ansah: Wieso stand er nicht auf? Er saß immer noch mit perfekt gekreuzten Beinen in der Lotushaltung; seine Füße ruhten auf den Oberschenkeln. Doch dann bekam ich einen Schreck, als ich sah, wie sich sein Körper zur Seite neigte, zusammensackte und schließlich zu Boden fiel. Er war auf der Stelle tot. Mehrere Ärzte und Krankenpfleger, die an dem Retreat teilnahmen, versuchten, ihn mit Sauerstoff wiederzubeleben, aber es war zu spät. Hinterher erfuhren wir, dass seine Hauptschlagader geplatzt war, während wir alle in Meditation saßen.
Der Mann hatte gesund gewirkt – er war in seinen späten Dreißigern. Als er zu dem Retreat kam, hatte er sicher nicht gedacht, dass er in dieser Zeit sterben würde. Und dennoch: sechzig Leute setzten sich an diesem Tag in Meditation – aber nur neunundfünfzig standen wieder auf.
Für viele von uns, die wir durchs Leben gehen und uns verhalten, als wären wir unsterblich, ist das eine verstörende Geschichte. Wir spulen dann gekonnt Wahrheiten darüber ab, dass der Tod eben ein Teil des Lebens sei, eine natürliche Phase im Kreislauf der Existenz – und doch handeln wir nicht aus dieser Einsicht heraus. Die Verdrängung des Todes breitet sich in unserer Kultur immer stärker aus, und wir sind gänzlich unvorbereitet, wenn unsere Zeit gekommen ist oder wir anderen beim Sterben helfen sollen. Meist sind wir dann nicht offen für diejenigen, die uns brauchen, sondern reagieren mit Angst und Verdrängung – wir sind dann noch nicht einmal offen für uns selbst.
Als eine, die mit Sterbenden arbeitet, dachte ich in der Vergangenheit manchmal, ich müsse mich dafür entschuldigen, eine Buddhistin zu sein. Ich dachte, meine Praxis könne sektiererisch oder unangemessen wirken. Über die Jahre habe ich jedoch erfahren, wie sehr die Lehren Buddhas den Lebenden und Sterbenden jeglicher Glaubensrichtung helfen konnten, und meine Vorbehalte sind verschwunden. Es ist äußerst wichtig, dass wir im Westen eine Vorstellung vom Tod entwickeln, die das Leben wertschätzt. Die Begegnung zwischen Ost und West hat uns Einsichten in Liebe und Tod geschenkt, und jetzt sehen wir, dass es sich dabei um zwei Seiten derselben Medaille handelt. Ich hoffe, dieses Buch, in dem sich vierzig Jahre meiner Arbeit in der Sterbebegleitung widerspiegeln, lässt Sie einige der erstaunlichen Möglichkeiten entdecken, die uns das Leben schenkt, wenn wir dem Tod offen begegnen.
Was ich hier schreibe, ist keine Theorie, sondern beruht auf meiner Arbeit mit Sterbenden und den vielen Jahren, in denen ich das Privileg hatte, professionelle und ehrenamtliche Betreuer zu schulen. Geprägt ist es auch durch meine Freundschaft mit Bernie Glassman Roshi, der die »Drei Grundsätze« für friedensstiftendes Handeln entwickelt hat. Die drei Grundsätze sind: Nicht-Wissen, Teilhabe und liebevolles Handeln. Sie beschreiben meine Erfahrungen mit Sterbenden, Trauernden und Betreuern. Diese Grundsätze leiten mich in meiner Praxis, am Sterben Anteil zu nehmen.
Der erste Grundsatz, Nicht-Wissen, hält uns an, unsere starren Vorstellungen über uns und andere aufzugeben und uns dem spontanen Geist des Anfängers zu öffnen. Der zweite Grundsatz, Teilhabe, lädt uns ein, mit dem Leiden und der Freude dieser Welt gegenwärtig zu sein, so wie sie sich zeigen, ohne Urteil und ohne Anhaften an einem Resultat. Der dritte Grundsatz, liebevolles Handeln, ermutigt uns, uns der Welt mit der Verpflichtung zuzuwenden, andere und uns selbst vom Leiden zu befreien. Ich habe die drei Grundsätze in meiner Arbeit mit Sterbenden angewendet, seit Glassman Roshi sie vor Jahren mit mir teilte; in diesem Buch tauchen sie als Anleitung dazu auf, darüber nachzudenken, wie wir mit Leben und Sterben umgehen können.
Wie Sie sehen werden, mache ich in diesem Buch keinen großen Unterschied zwischen Leben und Sterben. Normalerweise denken wir in einer falschen Dichotomie über Leben und Sterben nach, obwohl es in der Realität keine Trennung zwischen ihnen gibt, sondern nur wechselseitige Durchdringung und Einheit. Die Meditationen und die Praktiken, die ich hier beschreibe, können Sie, mit kleinen Veränderungen, selbst ausprobieren, falls Sie krank sind oder vielleicht bald sterben müssen, oder Sie schlagen sie Angehörigen eines Sterbenden vor. Sie können sie aber auch für sich anwenden, falls Sie ein Betreuer sind, oder Sie praktizieren sie für alle Wesen oder einfach nur, weil sie das Leben lebendiger und weicher machen.
Nach jedem Kapitel mache ich Vorschläge für Meditationen, in denen Sie praktisch erfahren können, wie es ist, die »Große Angelegenheit« in einer ganzheitlichen, konzentrierten Art und Weise zu betrachten. Diese Praktiken sind upaya, oder – übersetzt aus dem Sanskrit – »geschickte Mittel«, Techniken oder Methoden, die wir einsetzen können, um in unserem Leben und Sterben geschickter und in gewisser Weise effektiver zu werden, indem wir Herz und Geist schulen. Es sind Tore, die wir immer wieder durchschreiten, bis wir sie uns durch die Erfahrung vollständig angeeignet haben.
In unserem Kloster in Santa Fe, sage ich manchmal, sollten wir ein Motto über dem Eingang hängen haben: »Sei da!«. Das ist alles, was es zu tun gilt, wenn wir meditieren – da zu sein. Wir kommen mit all unseren Gedanken und Gefühlen...