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Im wilden Balkan

Vom Berg Olymp bis zur albanischen Adriaküste um 1830.

AutorDavid Urquhart
VerlagEdition Erdmann in der marixverlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783843800709
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verlor das Osmanische Reich, in seiner Blütezeit einer der mächtigsten Staaten der Weltgeschichte, mehr und mehr an innerer Kraft. Wichtige, an den Rändern gelegene Regionen wie etwa Ägypten erklärten ihre Unabhängigkeit und insbesondere in Südosteuropa gelang es zahlreichen Volks- und Sprachgruppen immer besser, sich gegen die als bedrückend empfundene osmanische Oberherrschaft zur Wehr zu setzen. Auf ein großes allgemeines Interesse stieß dabei der mühevolle griechische Unabhängigkeitskampf, und nicht von ungefähr prägte man in Europa damals mit Blick auf den Orient das Wort vom 'Kranken Mann am Bosporus'. Allerdings waren sich die europäischen Nationalstaaten nicht einig darüber, wie man sich den Osmanen gegenüber nunmehr am besten zu verhalten hätte. Insbesondere England sah sich durch eine mögliche Ausdehnung der russischen Interessensgebiete bedroht, sodass man sich in London eher für den Erhalt des Reichs einsetzte, das sich unter Sultan Abdulmecid I. (1839-1861) und dessen auf das Allgemeinwohl hin ausgerichteten Reformen wieder festigen konnte. Zur besseren Beurteilung der Lage brachen wiederholt britische Gesandtschaften nach Konstantinopel auf, und auch Reisende sahen sich in den bedrohten Grenzregionen in teils offiziellem, teils inoffiziellem Auftrag nach den aktuellen politischen Gegebenheiten um. Im Jahr 1830 unternahm der Schotte David Urquhart eine solche Reise, die ihn von der Peloponnes über Mittelgriechenland und Thessaloniki nach Skutari/Skodar im heutigen Albanien führte. Der vorliegende Band hat Urquharts Erlebnisse vom Berg Olymp bis an die albanische Adriaküste zum Inhalt, eine Reise, die ihn, den begeisterten Freund und Bewunderer der türkischen Lebensweise, durch die eindrucksvollen, aber auch gefährlichen Täler und Schluchten des Balkangebirges führte.

Eine der zugleich faszinierendsten wie auch zwielichtigsten Gestalten aus der großen Gruppe der europäischen Reisenden des 19. Jahrhunderts ist der Schotte David Urquhart (1805-1877), der viele Jahre seines Lebens fern der Heimat verbrachte. Er wurde im Jahr 1805 auf dem schottischen Braelangwell Castle unweit der Stadt Inverness geboren, das seine Familie im Jahr 1790 neu hatte errichten lassen. Die schulische Ausbildung erhielt er in der Schweiz, in Frankreich und in Spanien. Nach seiner Rückkehr in die Heimat ließ er sich zunächst zum Agronomen ausbilden, bevor er zum Studium der Altertumswissenschaften an das St. John's College in Cambridge wechselte. Aufgrund finanzieller Probleme seiner verwitweten Mutter konnte er dieses jedoch nicht mehr abschließen. Wie zahlreiche seiner Zeitgenossen war auch David Urquhart vom griechischen Unabhängigkeitskampf begeistert. Deswegen ging er im Jahr 1827 mit dem in Großbritannien in Ungnade gefallenen Admiral Thomas Cochrane in den Orient, der dort eine griechische Flotte aufzubauen versuchte. Allerdings scheiterte er mit diesem Unternehmen an der Disziplinlosigkeit und den mangelnden militärischen Fähigkeiten der Griechen. David Urquhart sollte jedoch für die kommenden zehn Jahre im Orient bleiben und entwickelte in dieser Zeit seine große Sympathie für die osmanisch-türkische Kultur und Lebensweise. Fasziniert war Urquhart außerdem von der türkischen Badekultur, was ihn später dazu veranlasste, im Jahr 1850 das erste türkische Bad Londons errichten zu lassen, eine Einrichtung, die sich in der Folgezeit sehr großer Beliebtheit erfreuen sollte. Der Herausgeber Dr. Lars Hoffmann studierte evang. Theologie, Byzantinistik, Geschichte und Gräzistik und ist seit 1996 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz. Seit 2001 ist er zudem Sekretär der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Byzantinische Studien.

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Leseprobe

ERSTES KAPITEL


RITT IN DAS TAL TEMPE – ANKUNFT IN AMBELÁKIA


Als unser Mittagsschlummer vorbei und die Sonne schon aus unserem hohen Gesichtskreis verschwunden war, stiegen wir auf die Pferde und ritten nach Rapsána1. Wir ritten am Rand des Sees entlang, wendeten uns dann links über einen niedrigen Hügel und hinab in eine tiefe Schlucht oder „Lak“2, die in das Meer auslief. Wir konnten es zwar nicht sehen, aber ein nach Meer duftender Wind blies zwischen den Hügeln hindurch. Hier trafen wir auf eine Gesellschaft von Dorfbewohnern, die eben einen wilden Eber erlegt hatten. Mit viel Mühe machten wir uns von ihnen los, denn sie drangen darauf, wir sollten die Nacht in ihrem Dorf verbringen, und priesen den Speisezettel, auf dem der uns erwartende Schmaus stand: Zuerst kam der Eber, der mit seinen Rubinfarben ganz beredt zu unsern Sinnen sprach und, im vollen Redeschwung, auch durch seine schönen, gerundeten Formen; dann kamen die Zicklein, noch ganz zart und gerade erst vom Olymp zurückgekehrt3; Wildbret von einem schönen, erst vor einer Stunde geschossenen Wild, Sumpfvögel, Fasane, goldfarbene Wasserhühner, wilde Enten aus Nizeros1, und alles, was die Hürde, der Hühnerhof und die Milchkammer bieten konnte, ohne Zahl und Maß. Wir flohen indes die so furchtbaren Zurüstungen, und gerade als wir den steilen Hügel an der anderen Seite der Schlucht hinaufritten, sahen wir über dem Kessoba (Ossa) den Rand des Mondes hervortreten, der im tiefen und düsteren Schatten den fürchterlichen Spalt zeigte, welcher den Ossa vom Olymp trennt, wo in alten Zeiten die Musen thronten und durch den der Peneios fließt.

Wir wendeten uns nach links, ritten am Fuß eines Höhenzuges hinunter, an dem entlang das Tempe-Tal2 verläuft, und sahen nun endlich von Thessalien aus die See und das Delta des Peneios. Silbern glänzte das Wasser im Mond, der hin und wieder durch die Bäume schien. Wieder gegen das dichterische Tal gewendet, kamen wir nach Rapsána, einem Trümmerhaufen, wo wir aber ein höchst bequemes Unterkommen fanden und uns ein Abendessen vorgesetzt wurde, das sich vor dem Küchenzettel der Bauern unterwegs nicht zu schämen brauchte. Die Nacht war weit vorgerückt, und ich musste am nächsten Morgen in aller Frühe nach Ambelákia3 aufbrechen. So kam also die immer schwere Stunde des Abschiednehmens heran. Kapitano Dimo erklärte, der Tag meiner Ankunft sollte als ein Festtag in Karia gefeiert werden, und ich wäre vor der Abreise gar nicht zu Bett gekommen, hätte ich nicht versprochen, den Olymp wieder zu besuchen und einige Monate dort zuzubringen. „Dann“, sagte er, „wollen wir ausgehen und Hirsche und Eber, Wölfe und Füchse jagen, Fasane, Rebhühner und all das Geflügel schießen, das auf dem Nizeros haust. Ab und an wollen wir die Leute besuchen, die drunten in den Ebenen leben, und wollen Fische schießen im Salembria1; dann mögt Ihr gehen, sooft Ihr Lust habt, nach dem Gipfel des Olymp und das ganze Land durchstreifen nach alten Steinen. Aber denkt daran und vergesst mir nicht die Kartoffeln.“

Voll Ungeduld, zu dem Tempe-Tal zu kommen, verließ ich Rapsána bei Tagesanbruch. Bald darauf kletterte ich über den Kamm eines Felsens, und da trat mir plötzlich das Gemälde vor die Augen, dessen Umrisse wiederzugeben ich versuchen will. Gerade vor mir türmte sich die Felsmasse des Ossa empor. Drunten lag das enge Tempe-Tal, der grünliche Strom schlängelte sich durch die Bäume und bildete Inselchen in seinem Bett. Rechts öffnete sich das Tal und bildete eine dreiseitige Ebene. Die Seite des Ossa zur Linken und des Olymp zur Rechten hemmten die Aussicht, bis sie in der Ferne auf den Fuß eines Hügels traf, der in der Ebene vor dem Eingang nach Tempe lag. Dieser Hügel bildet die Grundlinie der anscheinend dreiseitigen Ebene. Dann eröffnen sich wieder in der Ferne jenseits des Hügels und der Außenlinie des Ossa an der einen, der des Olymp an der anderen Seite, zwei Ebenen, die wiederum Dreiecken gleichen, die dem Betrachter ihre Spitzen zuwenden. In der Ebene links, und fast dicht bei dem Ossa, kann man Larissa mit seiner lachenden Oase entdecken, in der zur Rechten Túrnovo1 mit dem weißen Bett des Titaressos, und jenseits derselben berühren die undeutlichen Bergketten des Pindos den Horizont. Der Pindos windet sich um den Fuß des Ossa. Zwischen reichen Feldern und grünen Waldungen und wo er in den engen Pass tritt, steht das Dorf Babá, mit Moscheen und Zypressen geschmückt. Wo der Ossa gegenüber weniger wild und rau ist und wo künstliche Terrassen das spärliche Erdreich zusammenhalten, das der Weinstock liebt, ist Ambelákia mehr hineingesteckt als hineingebaut, und seine prächtig aussehenden Häuser scheinen an den Felsen befestigt. Es lag dem Punkt, auf dem ich stand, unmittelbar gegenüber und fast in gerader Linie mit dem Gipfel des Ossa, der sich hoch auftürmte. Bei Babá beginnt das Tal Tempe, aber da es sich nach links hinzog, konnte ich nur einen kleinen Teil seines Laufs verfolgen, denn die Abgründe nähern sich von beiden Seiten, so dass es aussieht, als fließen Ossa und Olymp zusammen, und das Tal, wo es zwischen den Felsen sichtbar war, glich dem Eingang in eine weite Höhle.

Das Tempe-Tal

Der Anblick Tempes machte größeren Eindruck auf meine Nerven als auf meine Einbildungskraft. Ich fühlte, dass meine Lungen sich erweiterten, dass meine Glieder elastisch wurden, als ich die Luft von Tempe einatmete und seinen Boden betrat. Man kann ebenso wenig die empfundenen Eindrücke beschreiben, wie sie durch eine Beschreibung hervorrufen. Ich rief mir keine Bilder der Vergangenheit zurück, ich zitierte keine Verse aus Pindar oder Lucan1, aber ich fühlte eine Erweiterung meines Daseins und eine Tiefe der Luft, als ich auf die vor mir ausgebreitete Landschaft blickte, die jeden Platz übertrifft, an den so stolze und doch so gewohnte Namen sich knüpfen.

Keine vom Altertum geheiligte Szene hat jemals einen solchen Eindruck auf mich gemacht wie Tempe. Der Grund mag darin liegen, dass hier des Menschen Geist sich nicht an vergängliche Denkmäler knüpft, sondern an die unzerstörbare Größe der Natur selbst, die frisch atmend und lächelnd mit allen Abwechslungen der Lebendigkeit und allen wunderlichen Wirkungen entzückt, so wie die alten Barden aus ihrem Anblick Begeisterung schöpften oder vor ihrem Schrein in Anbetung ausbrachen. Hier ist kein Säulenknauf gefallen, keine Farbe hat ihre Frische, keine Rede ihre Blüte verloren; hier braucht man nichts hinzuzudenken, man darf nur alles genießen; man braucht keine verschwundenen Helden zu betrauern, keine verlorene Sprache zu dolmetschen, keine verwischte Inschrift herzustellen. Der Ossa ist noch so hoch wie er immer war, der Olymp noch so majestätisch, die Ebenen Larissas noch so weit, noch gleitet des Peneios Welle zwischen Ufern, die die Myrte und die Daphne (Seidelbast) tragen. Tausende von Jahren haben nicht die Farben verwischt, in denen der Morgen über diesem Zauberland anbricht, nicht die Majestät des Sonnenuntergangs verringert. Es gehörte noch mit zum Effekt, nach Tempe vom Olymp hinabzusteigen, von Männern begleitet, die Gefährten des Theseus hätten sein können.

Als wir die rauen Klippen hinunterritten, fiel plötzlich unsere Aufmerksamkeit auf Ambelákia an der anderen Seite der Schlucht, wo wir Flintenschüsse hörten. Wir hielten an, um die Art des Gefechts zu beobachten und nachzudenken, wer die Parteien sein könnten. Zwanzig Minuten lang dauerte das Feuern fort, dem oberen Rand des Fleckens entlang, aber wir konnten nicht unterscheiden, ob es ein Angriff auf den Ort oder ein Lärmen unter den Einwohnern selbst war. Kapitano Dimo hatte mir zwei Leute zur Begleitung mitgeschickt. Sie drängten darauf, nach Rapsána zurückzukehren, ich hingegen bestand darauf, vorwärtszugehen, sagte ihnen jedoch, sie möchten umkehren, wenn sie dies wollten. Da nun die Leute immer mit ihren Diensten bei der Hand sind, wenn sie wissen, dass man eben dieser nicht bedarf, so erklärten sie mir, dass sie dazu bereit wären, mir bis ans andere Ende der Welt zu folgen, und nichts dagegen einzuwenden hätten, bis Babá1 mitzugehen. Nachdem sie sorgfältig frisches Pulver nachgeschüttet hatten, schritten wir vorwärts, gingen über den Peneios und erreichten Babá. Der Aga sagte, er wisse nicht, was das Schießen bedeute, doch wenn die Leute droben irgendeine Not hätten, so würde er es schon erfahren haben. Ich kletterte daher die Abhänge des Ossa hinauf, und in etwa zwanzig Minuten stieg ich in den engen Häuserreihen des einst so berühmten und wohlhabenden, jetzt bankrotten und verschollenen Ambelákia umher.

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