Erstes Kapitel.
Heimat und Elternhaus
Ostpreußen
Die heutige Provinz Ostpreußen ist altes Kolonialland. Nach der Abwanderung ihrer germanischen Bewohner zur Zeit der großen Völkerwanderung war sie beinahe ein Jahrtausend lang im Besitz der nachgerückten slavisch-baltischen Stämme: der Preußen und der ihnen stammverwandten Litauer und Masuren, gewesen. Fünf Jahrzehnte harten Kampfes brauchte daher der Deutsch-Orden zur Christianisierung und Wiedergermanisierung des Landes. An dessen weitere Geschicke: die zweihundertjährige Unterwerfung unter polnische Lehnshoheit, die Loslösung des Herzogtums Preußen von der Fremdherrschaft durch seine Verbindung mit Kurbrandenburg brauchen wir bloß zu erinnern. Uns interessiert hier nur der durch all diese geschichtlichen Wechselfälle, sowie durch die eigentümliche geographische Lage bestimmte Charakter der Bevölkerung. Das Deutschtum, das sich mindestens in den Städten tatkräftig durchgesetzt hatte und von der überdies nicht besonders drückenden polnischen Oberhoheit nur leicht beeinflusst worden war, hatte sich hier schon seit den Tagen der Ordensheere aus allen deutschen Gauen zusammengesetzt und trug daher ein besonderes Gepräge, das durch das Zusammenwohnen mit den alteingesessenen Litauern, Masuren und Letten höchstens noch stärker seiner selbst bewusst ward. Daneben hatten im sechzehnten Jahrhundert aus den Niederlanden vertriebene Mennoniten, gegen Ende des siebzehnten französische Refugiés Aufnahme gefunden, waren 1712 Schweizer herbeigerufen worden, um die durch die große Pest entvölkerten litauischen Landstriche neu zu besiedeln, waren endlich zwei Jahrzehnte später protestantische Salzburger in Tausenden von Familien dort ansässig geworden.
Andere Ausländer lockte die geographische Lage des Landes an, die es zum natürlichen Handelsvermittler zwischen den seefahrenden Engländern, Schotten, Holländern und Skandinaviern einer-, den slavischen Absatzgebieten des Hinterlandes, Rußland und Polen, sowie den baltischen Ländern anderseits machte. Blieben diese Angehörigen fremder Völker auch zum größeren Teile Gäste, die nur ihrer Handelsinteressen halber die Ostseeküste besuchten, so nahmen doch manche von ihnen ihren dauernden Wohnsitz im Lande. Mindestens in den Seestädten wie Königsberg, Pillau, Memel treffen wir zu Kants Zeit zahlreiche Engländer, Schotten, Franzosen, Holländer, Dänen an, von den noch zahlreicheren Polen, Litauern und Juden ganz zu schweigen. Kants eigene Familie leitete ihren Ursprung auf schottische Einwanderer zurück.
Eben diese Blutmischung, ja schon der Verkehr brachte in das etwas schwerfällige und selbständige, durch das lange Ringen mit der Ungunst der Natur und des rauhen Klimas zwar tüchtig, aber auch nüchtern und einförmig gewordene Wesen des Ostpreußen, namentlich in der Hauptstadt, einen belebenden, auffrischenden Zug und vermochte so der durch die entlegene Lage im äußersten Nordosten Deutschlands bedingten, durch die lange polnische Herrschaft über das westpreußische Zwischenland noch gesteigerten Gefahr geistiger Isolierung besser entgegenzuwirken. Anderseits führten die lebhaften Handelsbeziehungen zahlreiche ostpreußische, in erster Linie wieder Königsberger Kaufleute nicht nur nach den großen Ostsee-Handelsstädten Danzig und Stettin, Lübeck und Riga, sondern auch weiter nach Kopenhagen und Amsterdam, London und Petersburg. Auch für viele andere Gebildete wurde es allmählich zur Gewohnheit, eine Bildungsreise ins Ausland, d. h. zunächst ins "Reich", aber auch darüber hinaus nach Frankreich, den Niederlanden oder England zu unternehmen.
Infolge aller dieser Umstände hatte sich eine besondere seelische Eigenart in den Bewohnern dieses deutschen Außenpostens herausgebildet. Wohl findet sich auch, nach dem bekannten Sprichwort, das entgegengesetzte Extrem; aber im ganzen herrscht doch die kritische, sogar gegen das eigene Gefühl auf der Hut befindliche Nüchternheit, der Hang zum verstandesmäßigen Denken, ein mit festem Willen verbundenes trotziges Aufsichselbststehen, die Neigung zu scharfem und kühlem, indes doch mit dem Streben nach Gerechtigkeit gepaartem Urteil vor. Die anders gearteten Naturen, die Herder, Hamann, Zacharias Werner und E. T. A. Hoffmann haben zumeist früher oder später die Heimat verlassen.
Die geistige Bewegung ging hier im allgemeinen freilich langsamer vor sich als in dem lebendigeren Zentrum Deutschlands, den sächsisch-thüringischen Landen, oder den rheinischen und schwäbischen Gebieten; aber sie ging im ganzen auch mehr in die Tiefe. Zwar wurde von den literarisch Gebildeten die bei der Langsamkeit der damaligen Verkehrsmittel doppelt weite Entfernung von Leipzig, dem Mittelpunkte des deutschen Buchhandels, sowie den sonstigen Sitzen geistigen Lebens öfters schmerzlich empfunden. Aber das Land und mit ihm die geistig von ihm abhängenden und genährten Nachbargebiete Livlands, Kurlands und Westpreußens, besaßen doch seit der Reformationszeit nicht bloß einen wirtschaftlichen, sondern auch einen geistigen Mittelpunkt, in dem die ostpreußische Art wie in einem Brennpunkt verdichtet erscheint, in der einzigen großen Stadt Ostpreußens, mit ihrer von dem ersten Preußenherzog 1544 begründeten alma mater Albertina, der Stadt Königsberg.
Die Stadt Königsberg
Seitdem der Böhmenkönig Ottokar im Jahre 1255 das Schloß, im Jahre darauf die, wie es heißt, nach ihm benannte Gemeinde Königsberg gegründet, hatte die Stadt eine bedeutsame Entwicklung durchgemacht. Genauer gesagt: die drei Städte, die erst in Kants Geburtsjahr (1724) zu einer einzigen vereinigt und bis in den Anfang des 18. Jahrhunderts noch durch Tore voneinander abgesperrt waren, ja im Jahre 1455 einander noch bekriegt hatten: die um das Schloß entstandene Altstadt (gegründet 1264), die seit etwa 1300 östlich davon sich bildende neue Stadt oder Löbenicht, und die auf einer Insel des Pregel im Süden erbaute Stadt Kneiphof (1324). Von den Hochmeistern, um Fremde anzuziehen, mit zahlreichen Vorrechten ausgestattet, blühte Königsberg rasch auf, trat in die Hansa ein, wurde 1457 nach dem Verluste der Marienburg Sitz des Hochmeisters, seit 1525 Residenz des evangelisch gewordenen Herzogs. Durch häufige Einwanderung von Ausländern, die auch während des hierher nicht gedrungenen dreißigjährigen Kriegs nicht stockte, immer mehr angewachsen, zählte sie 1706 bereits über 40 000 Einwohner und war so, an Bevölkerungszahl wie an Bedeutung, die zweite Stadt des am 18. Januar 1701 mit gewaltigem Prunk hier gestifteten Königsreiches Preußen. Nur vorübergehend durch pestartige Seuchen geschwächt, erreichte sie — mehr durch Zuwanderung von außen als durch Geburtenüberschuß — um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Zahl 50 000, ungerechnet die starke Garnison nebst deren Familienangehörigen. Für das Jahr 1787 gibt Baczko die Einwohnerzahl auf 55 663, ohne die etwa 7—8000 Köpfe zählende Militärbevölkerung, an; die Zahl der Häuser auf mehr als 4300, dazu gegen 600 Speicher und 1000 Ställe. Um das Ganze, d. h. die drei Städte und die dazu gehörigen "Freiheiten" und Vorstädte, zog sich seit 1626 ein Wall mit 32 Rondellen und 8 Toren; übrigens für eine ernstere Verteidigung kaum geeignet, ohne Außengräben und leicht ersteigbar.
Wer damals nicht den Seeweg wählte, sondern mit der Berliner Post in Königsberg einfuhr, gelangte, ohne dass sich schon von weitem die Großstadt angekündigt hätte, durch das Brandenburger Tor — so nach dem einige Meilen südwestlich an der Heerstraße liegenden alten Städtchen genannt — in die hintere oder äußere, dann in die vordere Vorstadt, von denen wenigstens die erstere noch um 1840 fast durchweg aus sehr dürftigen, meist ein-, höchstens zweistöckigen Häusern bestand. In der noch heute in ihrer Hauptstraße den alten Namen tragenden Vorderen Vorstadt, der Geburtsstätte unseres Philosophen, die sich bis an den Pregel erstreckte und häufig unter den verheerenden Bränden der dort zahlreichen Getreidespeicher zu leiden hatte, waren schon modernere Bauten dazwischen gestreut. Hier, wo sich der Handel bereits stark bemerkbar machte, konnte der Knabe Kant, besonders in der Sommerzeit, zahlreiche schwarzbärtige Juden mit ihren langen schwarzseidenen Kaftanen, hohen Stöcken und breitkrempigen Hüten sehen, in lebhaftem Handelsgespräch über die Waren begriffen, die sie zum Teil selbst aus dem Inneren Polens den Fluß abwärts geleitet hatten. Außerdem waren wegen des starken Fuhrverkehrs aus dem "Reich" Gasthäuser niederen Rangs ("Krüge") sehr häufig. Die Vorstadt war zu Kants Zeit noch von vielen feuchten Wiesen mit ihren Gräben teils umgeben, teils durchschnitten. In einem Viertel derselben, der sogenannten "Insel Venedig", deren Hauptstraße die Klapperwiese hieß, wohnten schon einzelne Grossisten wie Toussaint, Andersch u. a. Ihren Abschluß fand die Stadt hier pregelabwärts in der einst vom Großen Kurfürst gegen die widerspenstigen Städter angelegten und mit einem Arsenal versehenen, auch als Gefängnis benutzten "Veste Friedrichsburg".
Die Grüne Brücke, die aus der "Vorstadt" zur eigentlichen Stadt führte, und die der kleine Kant zu Anfang seines langen Schulwegs täglich überschreiten mußte, bot eine fesselnde Doppelaussicht, nach Westen und nach Osten. Dort die in See stechenden großen Seeschiffe des Auslandes mit Matrosen der verschiedensten Nationen Europas. Hier pregelaufwärts die aus Polen und Rußland kommenden langen und flachen Riesenkähne (Wittinen), hochbeladen mit Getreide, Hanf, Flachs und Matten, die sie zum Teil aus weit entlegenen Gebieten hergeschafft hatten, um sie in der großen...