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Der unterschätzte Zwischenraum
»Es ist der Zwischenraum, der das Ganze ausmacht«, sagte meine Mutter. Als Kind hatte ich ihr zugesehen, wie sie in einer flachen Schale Blumen arrangierte. Sie liebte die minimalistische Art, einzelne Blumen in Szene zu setzen. Sie hatte das schon vor meiner Geburt von einer Blumensteckmeisterin gelernt, als sie in Tokio Musikwissenschaft unterrichtete.
Sie erklärte mir immer wieder, dass es auf den Zwischenraum ankäme. Die Schönheit einer einzelnen Blüte käme durch das Auslassen von etwas anderem besser zur Geltung. Würde man viele Blumen überall hinstellen, verlöre die Gesamtkomposition ihren Rhythmus. »Aha«, dachte ich mir damals als Zehnjährige, »offenbar kann man sogar bei etwas Kleinem wie bei einem Blumengesteck Dinge verschieden sehen.«
Später, zu Beginn meiner Studienzeit als Japanologin, betrat ich dennoch eine völlig fremde Gedankenwelt. In Japan, brachte sie mir bei, sei das Ungesagte, das Ungeschriebene und das Nichtfassbare oftmals wichtiger als das Konkrete, Sichtbare und Ausgesprochene. Um in Japan »mitreden zu können«, sei es wichtig, die Pausen zwischen den Worten zu beachten, die Nuancen fast unmerklicher Mimik zu deuten und die Leere, den Zwischenraum interpretieren zu lernen.
Ich fand das sehr geheimnisvoll und faszinierend. Das Weglassen des Geplanten und des Ausgefüllten bedeutet Offenheit für Ungeplantes. Dazu bedarf es des Innehaltens. Es bedarf des Zwischenraums zwischen dem ansonsten Ausgefüllten.
Das Prinzip »Alles ist möglich« scheint heute in Europa ein Leitgedanke zu sein. Eine Woche Urlaub auf den Malediven ist für viele Menschen kein Problem. Mit Delfinen zu schwimmen, ist im Urlaubspaket inbegriffen. Mit ein bisschen Training kann man heute den Mount Everest besteigen, einen Marathon laufen oder über glühende Kohlen gehen.
Was früher nur einige Auserwählte tun konnten und durften, ist im heutigen Alltag des Durchschnittsbürgers angekommen. Tausende von Büchern predigen, dass alles für jeden einzelnen erreichbar sei – vorausgesetzt, man setze sich ein Ziel und verfolge es konsequent. Und doch – bei all diesen Möglichkeiten! – fehlt den meisten Menschen nicht etwas? Sie scheinen nicht zufriedener als früher zu sein, an Stress und Burnout wird immer häufiger und in erschreckendem Maße gelitten. Haben da manche zu viel gewollt? Oder ist es ein Phänomen der Zeit? Haben wir etwas übersehen?
Wenn wir uns zu Weihnachten mit Karpfen, Weihnachtsgans und Süßigkeiten vollstopfen, dann fühlen wir uns anschließend nicht wohl. Der Körper braucht Zeit, die Üppigkeiten zu verdauen, und Zeit, um sich zu erholen. Wenn wir zwölf Stunden auf den Computermonitor starren, weil ein Projekt dringend fertiggestellt werden muss, dann tun uns die Augen weh, wir sind steif und brauchen Bewegung und Abwechslung.
Wenn ich ein Haus geerbt habe und alle übernommenen Möbel in meine Wohnung stellen muss und mich nicht mehr darin bewegen kann, dann geht der Sinn der Möbelstücke verloren. Alle diese Beispiele lassen mich schreien: »Das ist uns zu viel! Zu viel, zu viel, zu viel!« Heute trifft das auf viele Bereiche unseres Lebens zu. Zwischen den Aktivitäten, Zielen und all den anderen wichtig scheinenden Dingen gibt es etwas, das droht, verloren zu gehen. Etwas, das zwischen allem wirkt, jedoch unsichtbar und nicht greifbar ist. Ich nenne es, meiner Mutter folgend, Zwischenräume. Wie dankbar bin ich ihr heute, dass sie mich diese Weisheit auf einfache und schlichte Weise gelehrt hat!
Als ich im ersten Studiensemester das Tao Te King – die grundlegende Schrift des chinesischen Philosophen Laotse – las, begegnete mir im Vers elf zum ersten Mal konkret die Idee, dass dort, wo »nichts« ist, der Sinn eines Gegenstandes liegen kann:
»Dreißig Speichen vereinen sich in der Nabe des Rades. Doch erst die Leere in der Mitte lässt das Rad sich drehen. Aus Lehm werden Gefäße geformt. Doch erst die Leere gibt dem Gefäß den Sinn. Türen und Fenster werden durch die Mauer gebrochen, um ein Zimmer zu bauen. Doch nur indem das Zimmer leer ist, ist es als Zimmer zu gebrauchen. Der Sinn von allem, was vorhanden ist, kommt nur von dem, was nicht vorhanden ist.«1
Als ich das gelesen hatte, sah ich mich in meinem Zimmer um, und ja, ich musste erkennen, dass da was dran war. Selbstverständlich ist es wichtig, dass ein Zimmer Wände hat. Und auch Möbel haben ihre Funktion. Doch so unaufgeräumt wie mein Studentenzimmer normalerweise aussah, konnte ich es als »Wohnzimmer« nicht gebrauchen, sondern eher als »Ablageort«. Ich konnte weder hindurchgehen, ohne über Bücherstapel zu stolpern, noch mich mit Freunden auf den Boden setzen, ohne vorher aufzuräumen. Das, was nicht ist, nämlich der freie Raum, um das Zimmer benutzen zu können, fehlte.
Seither entdecke ich viele Beispiele dafür, dass das Konkrete, Materielle, das, was ist, nur eine Seite darstellt. Das, was nicht ist, kann jedoch genauso wichtig, manchmal sogar wichtiger sein. Heute, in der Zeit des »Alles ist möglich«, sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir für unser Überleben dem Leeren und den Zwischenräumen unsere Aufmerksamkeit schenken sollten. Wir brauchen eine Revolution der Leere.
Bis heute hat das, was ist, in unserer Kultur einen höheren Stellenwert. Nämlich einen so hohen, dass die zweite Seite, das, was nicht ist, gar nicht mehr wahrgenommen wird.
»Da ist ja nichts«, »da fehlt etwas«, das sind Sätze, die ich häufig höre. Ein leerer Raum ist für eine Europäerin, der die Möbel darin fehlen, nutzlos, für einen Japaner, der das Potenzial des leeren Raumes für Schlafen, Essen, Arbeiten mitdenkt, wunderbar. Es ist an der Zeit, über die Grenzen unserer Kultur zu schauen und die Dinge mal von einer anderen Seite zu betrachten. Der Zwischenraum wird uns dabei helfen.
Als ich vor einigen Jahrzehnten in die Schule ging, waren meine Lehrer noch ziemlich überzeugt, dass die Wirklichkeit fixen Naturgesetzen gehorcht und dass die Menschen grundlegend das Gleiche sehen, hören und schmecken.
Heute ist gar nichts mehr fix. Wir entdecken nach und nach, dass verschiedene Kulturen Dinge verschieden sehen. Denn es kommt nicht nur darauf an, was wir wahrnehmen, sondern, wie wir es deuten.
Was ist innen, was ist außen?
Vor einigen Jahren saßen mein Mann Paul und ich in der Bahn von Frankfurt nach Österreich. Gegenüber saß ein altes Ehepaar, das sich angeregt unterhielt und uns sehr schnell in ihr Gespräch mit einbezog. Die Dame, so erfuhren wir im Laufe des Gespräches, war 87, ihr Mann 96 Jahre alt. Beide waren Wissenschaftler. Sie, Anneliese Pontius, Professorin für Neurologie und Psychiatrie an der Harvard Medical School, war auf dem Weg nach Wien, wo sie an der Universität einen Vortrag halten sollte. Er, Chemiker, Dieter Pontius, Professor für Biochemie in New York, begleitete sie.
Es war die interessanteste und vergnüglichste Bahnfahrt unseres Lebens, und die sieben Stunden vergingen wie im Fluge. Anneliese erzählte, sie sei eine von 27 Forschern gewesen, die zum ersten Mal mit einem Volk in Papua-Neuguinea Kontakt aufnehmen konnten, die Chance dazu war allerdings lebensgefährlich gewesen. Die Eingeborenen hatten bis dahin jeden umgebracht, der nicht zu ihrem Volk gehörte.
Anneliese Pontius überlebte die Forschungsreise. Warum bringen diese Papua-Neuguineer jeden um, der sich ihnen nähert? Das war die Frage, die sie danach hauptsächlich beschäftigte. War es nur blinde Feindseligkeit, oder könnte es andere Gründe dafür geben? Im Laufe der Forschungen fand sie heraus, dass die dortigen Eingeborenen tatsächlich die Weißen anders sahen und sie gar nicht als menschliche Wesen erkannten! Und sie entdeckte, dass das auf eine neuronale Abkürzung zurückging, die sich in den Schaltungen im Gehirn gebildet hatte. Diese beschleunigte die Wahrnehmung der Steinzeitmenschen um 250 Millisekunden, da sie sich den Umweg über den Neocortex ersparte. Dadurch konnten sie viel schneller Gefahren wie gefährliche Schlangen erkennen, und das konnte ihnen im Dschungel das Leben retten.2 Diese Abkürzung ging jedoch auf Kosten einer anderen Fähigkeit, nämlich, fremde Gesichter differenziert zu erkennen.
Unterschiedliche Kulturen können vollkommen verschieden wahrnehmen, je nach ihren Lebensbedingungen, das hatte ich auf dieser Bahnfahrt aus erster Hand gelernt.
Wahrnehmungsunterschiede beschränken sich nicht auf das Sehen, sondern treten genauso beim Hören und damit beim Spracherwerb auf. Eine Asiatin, in deren Sprache kein Unterschied zwischen R und L gemacht wird, müht sich ab, im Deutschen einen Unterschied herauszuhören. Für sie ist das Wort »relativ« von »lerativ« nicht zu unterscheiden, trotz genauen Hinhorchens und auch, wenn sie zwölf Jahre und länger in Deutschland gelebt hatte.
Umgekehrt höre ich bis heute nur mühsam Unterschiede im Japanischen heraus. Das Wort »hashi« kann »Brücke oder Essstäbchen« bedeuten, je nachdem, wie es betont und moduliert wird. Meine »Schweinsohren« haben schon bei vielen Japanern Heiterkeit ausgelöst, ich habe den Unterschied einfach nicht heraushören können.
Bei der Geburt steht uns alles offen. Doch je älter wir werden, desto definierter werden wir. Wir lernen eine Sprache und keine andere. Wir lernen, wie bei uns zu Hause Dinge gemacht werden und was wichtig ist und was nicht. Dadurch werden wir in unserer Umgebung...