Karl Marx’ 11. Feuerbachthese
Foyer Humboldt-Universität Berlin
»Die unaufhörlichen Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leisten nichts weiter, als dass es seine Gestalt ändert.«
Arthur Schopenhauer
»Was ist für sie das Ergebnis der 68er, Herr Habermas?« »Rita Süssmuth.«
Jürgen Habermas
Im Kleinen Bungalow
»Mein Name ist Mensch, ich habe viele Väter, ich habe viele Mütter, ich habe viele Brüder, ich habe viele Schwestern. Ich bin über zehntausend Jahre alt und heiße Mensch. Ich weiß, wir werden siegen und der Planet Erde wird uns allen gehören.«15 Das war das erste Statement des Rechtsreferendars Rolf Pohle (26), des ASTA-Vorsitzenden des Jahres 1967, als er sich im Mai 1969 vor dem Landgericht München wegen »Unterstützung einer kriminellen Vereinigung« verteidigen musste. Es ging um die Teilnahme an der Karfreitags-Demonstration gegen Axel Springer von 1968. Sein Vater war früher Rektor der Münchner Universität und der führende Autor des traditionsreichen Kommentars zur Zivilprozessordnung Stein / Jonas / Schönke / Pohle gewesen. Jeder Jurist kannte ihn. Rolf Pohle hatte ein Vaterproblem – aber wer hatte das nicht. Als Staatsanwalt Trutz Lancelle – ein schöner Name für diesen Job – ihn an diesen ruhmreichen Vater erinnerte, drehte er endgültig durch: »Ich will von euch wissen, wie viel Hunderte und Tausende Verknackte ihr auf dem Gewissen habt« wütete er gegen Staatsanwaltschaft und Gericht und war auch später durch niemand zu beruhigen.
Das Münchner Schöffengericht verurteilte ihn zu 15 Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Das war das härteste Demonstrationsurteil, das es bis dahin gegeben hatte.16 Die Beweislage war umstritten, aber selbst wenn man unterstellt, dass er »Pflastersteine weiterreichte« und »ein Fass zur Barrikade geschoben« hatte, war das Strafmaß unangemessen. Wenn dieses Urteil bestehen blieb, hatte Pohle keine Chance, in den Referendardienst übernommen zu werden und seine Berufsausbildung abzuschließen. Es wurde aber aufgehoben. Ich lernte ihn in der Referendarzeit kennen, als wir gelegentlich im Kleinen Bungalow in der Türkenstraße am Flipper standen und ein paar Erfahrungen austauschten, die wir in den sich anbahnenden Demonstrationsprozessen gesammelt hatten. Um uns herum Studenten und Referendare, die Flipper schepperten, die Tilt-Sirene jaulte, wenn Bernd Eichinger oder Wim Wenders (unbekannte Filmstudenten) ihr Glück erzwingen wollten. Gegenüber ihre Konkurrenz: Faßbinder und seine Entourage im Stopp-in, die »Altbranche« (Bavaria-Produzenten et cetera) hing ab 22 Uhr im Alten Simpel rum. Peter »Bärchen« Sloterdijk, der mit Eichinger in einer Kommune hauste,17 machte seine ersten Schreibversuche.
Rolf Pohle war tatsächlich ein »sensibler Gerechtigkeitsfanatiker«, wie sein Verteidiger Eggert Langmann ihn genannt hat. Die dazu gehörende leichte autistische Neigung, die Wahrnehmungen anderer zu ignorieren, gehörte dazu. Das Assessorexamen konnte er aus unterschiedlichen Gründen nicht bewältigen. Danach ging er in den Untergrund und wurde 1974 wohl zu Recht zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Entwicklung bis zu diesem Prozess stand mir klar vor Augen. Sie hatte vor sieben Jahren begonnen.
Die Monarchie kommt zu Besuch nach Deutschland
Der Besuch des persischen Kaisers vom 2. Juni 1967 in Berlin war ganz im Stil großer Staatsbesuche inszeniert worden, bei denen sich die herrschenden Autoritäten huldvoll dem Volke zeigen sollen. In Deutschland konnte da eigentlich nichts schiefgehen, denn für den Schahinschah und seine frühere Frau Soraya wurde in der gesamten deutschen Klatschpresse fast jede Woche der rote Teppich ausgerollt. Den Studenten von Berlin hatte man wie auch der übrigen Bevölkerung offenbar die Rolle zugedacht, dem Herrscher auf dem Pfauenthron und seiner jetzigen Frau Fahra Diba mit fröhlichen Fahnen zuzuwinken und bei den Nationalhymnen strammzustehen.
Hätte man die paar harmlosen Demonstranten, die sich an diese Regeln nicht halten wollten, einfach ignoriert, so wie Roman Herzog das Jahre später beim Stuttgarter Modell gezeigt hat, wäre vielleicht nicht viel passiert. Aber der Schah kam im Gefolge seiner in Zivilkleidung auftretenden Leibwachen, die versuchten, die Sprechchöre vor dem Schöneberger Rathaus mit Dachlatten niederzuknüppeln. Dabei trafen sie natürlich auch einige gerührt vor sich hinweinende Leser der yellow press, die harmlos mit ihren Pelzmützen da herumstanden. Jetzt musste die Polizei einschreiten.
Warum hat gerade der Besuch eines persischen Kaisers diese jungen Deutschen so aufgeregt? Die politische Unterdrückung in seinem eigenen Land kollidierte mit den demokratischen Werten, aber solche Widersprüche kennzeichnen unzählige Staatsbesuche. In der aufgeheizten Stimmung wurde beim abendlichen Besuch in der Oper eine aggressive Polizeiaktion gestartet. Die besondere Ironie daran: Es war die Polizei, die ohne erkennbaren Anlass auf Demonstranten herunterprügelte und sich auf diese Weise selbst mit dem persischen Geheimdienst solidarisch erklärte. Unter den Polizisten befand sich Heinz Kurras, von dem damals keiner wusste, dass er Stasi-Spion war, und dieser Mann erschoss ohne erkennbaren Grund den Studenten Benno Ohnesorg, der vor ihm floh.
Den Innenhof der Krumme-Straße 66/67 gegenüber der Oper, in dem das geschah, kannte ich gut, denn ich hatte zwei Jahre zuvor dort in der Nähe gewohnt. Für die Behauptung, es sei ein Mord gewesen, wurde Klaus Wagenbach 1975 zu Unrecht rechtskräftig verurteilt. Heute wissen wir, dass der Täter mit Sicherheit nicht in Notwehr gehandelt hat. Kurras wurde gegen wichtige Argumente freigesprochen.
Die tieferen Probleme der Gesellschaft werden immer »von den hereinbrechenden Rändern« (Ludwig Hohl) ans Licht gebracht, also von unerwarteten, unscheinbar wirkenden Situationen, mit denen bei einem völlig unpolitisch geplanten Staatsbesuch niemand gerechnet hatte. Entsprechend war die Reaktion der Presse – vor allem der Bild-Zeitung –, die auf die demonstrierenden Studenten ungeachtet des – schon damals fragwürdigen – Todes von Benno Ohnesorg herunterprügelten.
Die Studenten haben das meiste richtig analysiert, aber keine Lösung gefunden, die andere Schichten der Gesellschaft interessiert hätte. Die damals verbreitete Idee, sie könnten die Fackel der Revolution in die Arbeiterschaft tragen, erschien mir unsinnig. Schon mit sechzehn Jahren verdiente ich mein Taschengeld als Schüler und lag während meiner Jahre bei der Bundeswehr mit Leuten aus allen Gesellschaftsschichten gemeinsam im Dreck. Gut zwei Drittel meines Studiums habe ich als Fernfahrer, Taxifahrer, Bademeister im Dante Bad oder in vergleichbaren Jobs gearbeitet. Arbeiter haben mir das Saufen beigebracht, nicht Schlagende Verbindungen. Deshalb wusste ich, dass die meisten Arbeiter konservativ denkende Leute sind, vor allem die Gewerkschaftler.
Ich hatte meine Zweifel, ob das, was die Studenten wollten, von den Proletariern überhaupt verstanden, geschweige denn gebilligt wurde. Was der Arbeiter wollte, war ein stabiler Job und möglichst mehr Urlaub als Arbeit. In den Köpfen der Studenten schwebte das Bild des Bergmannes von 1925, der für die einfachsten sozialen Absicherungen kämpfen musste. Nach dem Krieg hatte er sie bald erreicht und die Kämpfe an die Gewerkschaften delegiert. Die Vergangenheit oder der Generationenkonflikt hat ihn nie interessiert.
Das waren klassische Probleme des mittleren und gebildeten Bürgertums. Die meisten der Leute, die Spaß am Barrikadenbauen hatten, waren vorher nicht als Maurer tätig gewesen. In der Frankfurter Szene wurden Studenten wie Matthias Beltz, die nach dem Studium jahrelang (1971–1977) als Schichtarbeiter bei Opel am Band standen, bestaunt wie exotische Tiere, zum Beispiel von Joschka Fischer, der es da gerade einmal sechs Monate ausgehalten hat, bevor man ihn wegen laufender Agitation mit Zustimmung des Betriebsrates feuerte. Danach dealte er lieber mit Raubdrucken, ein Geschäftsmodell mit hohen Deckungsbeiträgen, wie sie im normalen Kapitalismus schwer erzielbar sind. Es war 1967 von der Kommune I in Berlin am Stuttgarter Platz erfunden worden. Neben Maos »Rotem Buch« wurden u. a. Wilhelm Reich und Max Horkheimer als Raubdrucke veröffentlicht, daneben eigene Texte (häufig von Ulrich Enzensberger). Karl-Heinz Pawla bediente die Druckmaschine, und wer nicht zahlte, bekam einen von Dieter Kunzelmann entworfenen Mahnbrief18:
»Konterrevolutionärer Sausack!
Wer bei der Kommune I Schulden macht, unterstützt die etablierten Mächte.
Du übles Subjekt/Sie stinkender Geizkragen/Ihr undankbaren Widerlinge
stehst/stehen/steht bei uns schon seit
Wochen/Monaten/Jahren
mit dem
in der Kreide …
Wenn die Mäuse nicht binnen einer Woche auf unserem Konto … sind, passiert was!«
Dieter Kunzelmann entwirft einen Formbrief! Er, der Formen in allen Formen und Farben bekämpft hatte! In dem Sammelband »Klau mich« hatten die...