2. Vom Ich zum Wir: Wie uns die Gemeinschaft prägt
»Woher soll ich wissen, was ich denke, wenn ich nicht höre, was ich sage?«
Margit Hertlein, Extro, Expertin für humorvolle Kommunikation
In den vorangehenden Abschnitten sind Sie Intro-, Extro- und Zentrovertierten als einzelnen Persönlichkeiten mit bestimmten Merkmalen begegnet. Sie kennen auch die biologischen Unterschiede, die sie zu Intros, Extros und Zentros machen. Doch aus der Einleitung wissen Sie bereits: Der Mensch ist ein sehr viel spannenderes und komplexeres Wesen als nur ein Resultat zufälliger neuronaler Merkmale. Wenn wir uns selbst mit unseren Persönlichkeitsmerkmalen besser verstehen wollen, dann sollten wir auch auf die Gemeinschaften sehen, in denen wir aufwachsen und leben. Denn erst durch das Leben mit anderen kann sich unsere Persönlichkeit entwickeln und ausprägen.
Im Zentrum dieses Kapitels steht deshalb auch die soziale Umgebung:
Wie genau angeborene und anerzogene Faktoren für die Entwicklung einer Persönlichkeit zusammenspielen – das ist noch immer ziemlich unklar. Klar ist dafür eines: Die Verbindung ist so eng, dass Psychologen den sozialen Anteil an unserer Persönlichkeit als »zweite Natur« bezeichnen.
Intro- und Extroversion beruhen nur zu 40 bis 50 Prozent auf genetischen Anlagen.35 Was bedeutet vor diesem Hintergrund unser soziales Umfeld, in dem wir aufwachsen und leben, für unsere intro- und extrovertierten Eigenschaften? Und was bedeutet unsere Verschiedenheit in der Gemeinschaft? Um diese Fragen geht es in diesem Kapitel.
Werfen wir zunächst einen Blick auf das große Ganze: auf den einzelnen Menschen und die Bedeutung »seiner« Horde.
Auch für Intros: die Horde als Prinzip
Jeder Mensch ist von der Wiege bis zum Grab abhängig von sozialen Beziehungen. Als Neugeborene sind wir allein nicht lebensfähig. Menschliche Gehirne sind nach der Geburt noch lange nicht »fertig«: Die neuronalen Verbindungen bilden sich erst in der Kommunikation mit den Menschen in unserer Umgebung – und können sich erst dann dauerhaft verankern, wenn sie immer wieder benutzt werden. Dies wiederum passiert nur, wenn andere uns Aufmerksamkeit schenken: wenn wir reichlich Anregungen und Ermutigungen, Warnungen, Hinweise und Bewertungen unserer Umgebung bekommen; und wenn die Menschen um uns herum uns helfen, Regeln, Strukturen und Abläufe in unserem Leben zu entwickeln. Die wichtigsten Währungen in unserer Entwicklung sind Zuwendung und Vertrauen – wir brauchen Zuwendung und können nur gedeihen, wenn wir uns auf andere verlassen können. Unsere soziale Umgebung gibt uns im Idealfall zusammen mit diesen Währungen stabile Verhältnisse (und damit Sicherheit) ebenso wie neue Impulse (und damit Entwicklungsmöglichkeiten).
Unsere soziale Umgebung gibt uns im Idealfall gleichermaßen stabile Verhältnisse und neue Impulse.
Ein Kind entfaltet seine Persönlichkeit auf seine Umgebung hin, und zwar durch die Kommunikation mit ihr: indem es auf allen Sinneskanälen Signale sendet und empfängt. Diese Eindrücke, die es im Austausch mit anderen bekommt, prägen seine Hirnstruktur. Der Einfluss der sozialen Umgebung ist dabei eine Bedingung dafür, dass ein Ich-Bewusstsein entstehen kann. Andere Menschen sind eine Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt ein Gefühl für die eigene Identität bekommen können. In der Entwicklung kommt zuerst das Gefühl für ein soziales Gegenüber, ein »Du«, auf. Die erste Äußerung ist deshalb typischerweise auch »Mama!« oder »Papa!«, nicht: »Ich!« Erst danach folgt das Bewusstsein über die eigene Person und die Nennung des eigenen Namens. Diese gefühlsmäßige Verbundenheit mit anderen sorgt für ein frühes, starkes Verständnis der sozialen Gemeinschaft, in die ein Kind gehört.36
Gerald Hüther (2013, S. 44) bringt das Zusammenspiel zwischen Biologie und sozialer Umgebung auf den Punkt: »In all jenen Bereichen, in denen es sich von tierischen Gehirnen unterscheidet, wird das menschliche Gehirn durch Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen geformt und strukturiert. Unser Gehirn ist also ein soziales Produkt und als solches für die Gestaltung von sozialen Beziehungen optimiert. Es ist ein Sozialorgan.«
Es folgt die Phase des Heranwachsens, der Entwicklung und später des gereiften Lebens. Auch in diesen Phasen bleiben die Menschen in unserer Umgebung wichtig – wobei hinzukommt, dass wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Einerseits wollen wir dazugehören und passen uns an – schließlich haben wir mit der enormen Flexibilität, die uns Menschen eigen ist, die Anpassung von Kind auf gelernt und »passen« dadurch auch in unser soziales Umfeld.37 Hier eine erste Definition:
Flexibilität (1): Anpassung eines heranwachsenden Kindes an die Gemeinschaft im Verlauf seiner Entwicklung.
Andererseits unterscheiden wir zwischen »den anderen« und »uns selbst«. Das Interessante daran: Das, was wir »unser Selbst« oder »unsere Persönlichkeit« nennen, ist zu einem großen Teil das Produkt von Eindrücken – von Gefühlen, von Regeln, von Bewertungen und Orientierungen –, die uns andere vermittelt haben. Zunächst lebt uns unsere Familie, später unsere Peergroup vor, was wir wissen sollten, was gut und was schlecht ist, wie »ein gutes Leben« aussieht und was wir tun oder besser lassen sollten. Wir übernehmen diese Normen in einem Lernprozess – ganz besonders leicht schaffen wir das im Umgang mit Menschen, die für uns eine Vorbildfunktion haben. Und dann denken wir interessanterweise, unsere Urteile, Neigungen und Entscheidungen seien unsere eigenen: So wirkt das Wir der Gemeinschaft auf das Werden des Ich.
Anders ausgedrückt: Wir verlagern in unserer Entwicklung äußere Impulse in einem fortlaufenden Prozess nach innen. Und das, was wir davon nutzen, bleibt ziemlich beständig in unserem neuronalen System erhalten. Als Konsequenz passen wir ausgezeichnet in unsere Umwelt, die je nach geografischem Ort, Kultur und sozialer Schicht sehr unterschiedlich aussehen kann.
In schwierigen Situationen ist die Unterstützung durch andere ein wichtiger Anker und liefert Sicherheit und Zuversicht. Doch auch an schönen Dingen – von einem grandiosen Erfolg über die neue Schrankwand bis hin zu schönen Urlaubserlebnissen – können wir uns erst dann richtig erfreuen, wenn wir die Erfahrung mit anderen teilen können. Dies bedeutet nicht, dass die ständige Anwesenheit anderer Menschen notwendig ist, damit wir uns wohlfühlen – und das sage ich nicht nur als Intro: Eine breit angelegte Studie zeigt, dass schon das Bewusstsein, in beständigen Freundschaften zu leben, ein wesentlicher Faktor für persönliches Glück und sogar die Wahrscheinlichkeit des Überlebens bei einer schweren Erkrankung erhöht. Die physische Nähe oder die Häufigkeit des direkten Kontakts ist, so die Autoren ausdrücklich, dabei nicht wesentlich.38
Das grundsätzliche Bezogensein auf Mitmenschen ist tief in uns angelegt. Dies bedeutet: Wir sind auf ein Leben in Horden eingestellt. Uns geht es nur gut, wenn wir uns zumindest in einem gewissen Maße in eine Gemeinschaft eingebunden wissen. Der amerikanische Sozialpsychologe Roy Baumeister fasst es so zusammen: »Ob jemand in ein Netzwerk stabiler Beziehungen eingebunden oder allein ist, sagt das Glück des Betreffenden viel zuverlässiger vorher als jeder andere objektive Prädiktor.«39
Als Intro und Extro heranreifen
Auch wie wir uns als Intros und Extros entwickeln, hängt von den Menschen ab, mit denen wir aufwachsen: unsere Eltern und Geschwister, später unsere Kinder, aber auch Freunde und Vertraute. Sie alle bilden den engen Kreis unserer »Horde«, der uns tief prägt. Nehmen wir als Beispiel den extrovertierten Elias:
Lernen? Öde!
Elias ist klug. Und zunächst war er auch immer unter den Besten: im Kindergarten und in der Grundschule jedenfalls. Auf dem Gymnasium wurde es allmählich schwieriger. Vokabeln pauken, Klassenarbeiten zu Hause mühsam vorbereiten, später dann Referate und Facharbeiten – das war einfach nicht sein Ding. Stattdessen traf er sich mit seinen Freunden, spielte in einer Band Gitarre, trieb Sport und organisierte Stufenpartys und Städtereisen für sich und seine Freunde.
Für ruhiges Lernen war nicht viel Platz in Elias‘ Leben – und das bringt jetzt einige Risiken mit sich, weil seine Leistungen in der Oberstufe für die Abiturnote zählen. Die Tatsache, dass er und seine Freunde zu den »Coolen« gehören, hilft ihm dabei nicht so richtig – im Gegenteil!
Elias fällt es schwer, sich allein und konzentriert mit Inhalten auseinanderzusetzen. Er gerät schnell in die Unterstimulation. Doch einen enormen Startvorteil hat er seit seiner frühen Kindheit: fürsorgliche Eltern und Großeltern, die ihn immer unterstützen. Die ihn so akzeptieren, wie er eben ist: als einen etwas ungestümen, extrovertierten Jungen, der sich begeistert auf seine Umgebung stürzt – neugierig, lebenshungrig und menschenfreundlich. Seine Eltern sorgten auch dafür, dass ihr junger Wirbelwind seine Energie sozialverträglich nach außen entfalten (Sport, Freunde, Musik mit anderen) und seine Impulsivität bei Bedarf in den Griff bekommen konnte.
Soziale Faktoren steuern wesentliche Entwicklungsschritte des Gehirns.
Damit hat Elias etwas mitbekommen, was David Brooks (2012, S. 104ff.) mit der Zusammenfassung mehrerer Studien als »sichere Gebundenheit« beschreibt. Durch eine...