1 Medizin in der Sackgasse – ihre Krise als Herausforderung
1.1 Historischer Rückblick
Geburtsstunde der modernen Medizin Sucht man nach der eigentlichen Geburtsstunde der modernen Medizin, die sich selber naturwissenschaftlich begründet sieht, so wird man diese in das Jahr 1858 legen können. In diesem Jahr veröffentlichte Rudolf Virchow in Berlin seine Cellularpathologie ▶ [11]. Ihr lagen 20 Vorlesungen zugrunde, die er vor Berliner Ärzten zu diesem Thema gehalten hatte und die dann als Buch veröffentlicht wurden.
Der damit vollzogene Akt kann wohl zu Recht verglichen werden mit Martin Luthers Anschlag der 95 Thesen an der Wittenberger Schlosskirche 1517, die zur Reformation und damit Begründung der Evangelischen Kirche führten. Alles bisher in der Medizin Gültige wurde durch Virchows Thesen für ungültig erklärt, insbesondere die bis dahin noch vertretene Humoralpathologie (Rokitanski), die in letzter, schon dekadenter Weise die alte hippokratische Medizin in ihrer Säftelehre vertrat. Man muss mit Blick auf die Humoralpathologie von Dekadenz sprechen, da sie in der ursprünglichen Begründung ihre Wurzel in der griechischen Mysterienmedizin hatte, für die der Name Hippokrates wie stellvertretend für eine ganze medizinische Bewegung stand. Was davon im 19. Jahrhundert noch gelehrt wurde, war reine Abstraktion. So war es ohne Zweifel an der Zeit, dass mit einer solchen dekadenten Anschauung in der Medizin endgültig Schluss gemacht wurde. Dies geschah auf radikale Weise und unter Berufung auf die in diesem Jahrhundert so stark aufkommende Naturwissenschaft.
Vorbereitende Entwicklung der modernen Medizin Natürlich hat eine solche Geburtsstunde, die wir jetzt in das Jahr 1858 verlegen, auch ihre „vorgeburtliche“ Entwicklungszeit. Man kann auf Giovanni Battista Morgagni als den eigentlichen Begründer der pathologischen Anatomie verweisen, auch auf Friedrich Th. Schwann, der bereits 1839 den Nachweis führte, dass die Organismen von Tier und Pflanze auf dem Bauelement der Zelle beruhen. Man kann auf die Entwicklung des Mikroskops, dessen erste Wurzeln um das Jahr 1590 vermutet werden, ebenso blicken wie auf die revolutionierenden wissenschaftlichen Erkenntnisse der Physik oder der Biochemie.
Zweidimensionalität des Menschen: Man wird für die vorbereitende Entwicklung der modernen Medizin im geschichtlichen Rückblick sogar noch auf ein viel weiter zurückliegendes, für die moderne Bewusstseinsentwicklung bedeutungsvolles Datum verwiesen. Im Jahr 869 n. Chr. fand in Konstantinopel ein Konzil der Kirchenväter statt, dessen Resultat in kürzester Form dahingehend zusammengefasst werden kann, dass dem Menschen die Existenz eines selbstständigen Geistes abgesprochen wurde. Bis dahin war es gültige Vorstellung, dass der Mensch aus Leib, Seele und Geist bestünde. Die Berechtigung dieser sog. Trichotomie wurde nun in der Diskussion der Kirchenväter auf dem Konzil von Konstantinopel angezweifelt. Als Ergebnis wurde dogmatisch festgelegt, dass der Mensch nur ein zweigliedriges Wesen sei, bestehend aus Leib und Seele, und dass der Seele lediglich einige geistige Eigenschaften zugesprochen werden könnten. Hatte die Menschheit bis dahin das Wirken des Geistes im Menschen, aber auch im Kosmos, unmittelbar wesenhaft erlebt, so schottet sich dieses Erlebnis immer stärker ab und führt schließlich zum völligen Verlust jeglichen Wissens geistiger Zusammenhänge von Mensch und Natur bzw. Kosmos, sodass diese immer stärker voneinander getrennt erlebt und wissenschaftlich untersucht wurden.
Nur ganz sporadisch treten in einzelnen Persönlichkeiten noch Erkenntnisse solcher Zusammenhänge auf, wobei für die Medizin als leuchtendes Beispiel Paracelsus gelten kann. Doch wurde dieser bereits von seiner Zeit nicht mehr verstanden und in seinen wesentlichen Aussagen eher verfolgt als anerkannt. Das naturwissenschaftliche Zeitalter wurde eingeläutet, und in der Medizin fanden sich nun als erste Auswirkungen die Beschäftigungen mit dem menschlichen Leichnam als Anatomie und anatomische Pathologie. In diese von Mitteleuropa ausgehende neue, sich der Naturwissenschaft zuwendende Medizin gingen starke Einflüsse der arabischen Medizin ein, die schon viel früher auf einem hohen, z.T. technischen und vor allem wissenschaftlichen Niveau stand und deren Inhalte uns heute noch verblüffen können, begreift man, dass diese Medizin nun mehr als tausend Jahre zurückliegt.
Eindimensionalität des Menschen: Alles, was seit dem Jahr 869 n. Chr. an neuen Entdeckungen, Erkenntnissen und wissenschaftlichen Methoden erforscht und dargestellt wird, kulminiert in dem Jahr 1858, das von uns als die eigentliche Geburtsstunde der modernen Medizin bezeichnet wird und die unauslöschlich mit dem Namen und der Person Rudolf Virchows verbunden ist. Seine Anschauung macht den Menschen zu einem eindimensionalen Wesen, d.h. reduziert seine Wirklichkeit auf den Leib, in dem nun auch keine selbstständige Seele mehr wirksam gedacht wird, sondern lediglich seelische Eigenschaften als Ausdruck der leiblichen Wirklichkeit. So wie 869 dem Menschen die Wirklichkeit jeglichen selbstständigen Geistes abgesprochen wurde, verliert er mit diesem Schritt auch die Wirklichkeit einer selbstständigen Seele.
Zelle als elementare Wirklichkeit des Menschen Die elementare Wirklichkeit des Menschen ist nach Virchow die Zelle. Sie enthält praktisch den ganzen Menschen in sich und der ganze komplizierte Aufbau des Menschen als Organismus ist nichts anderes als die Differenzierung und Variation des Prinzips der einheitlichen Zelle. Wörtlich heißt das bei Rudolf Virchow ▶ [11] so:
„Besondere Schwierigkeiten hat die Beantwortung der Frage gemacht, von welchen Teilen des Körpers eigentlich die Aktion ausgeht, welcher Teil tätig, welcher leidend ist; doch ist ein Abschluss darüber schon jetzt in der Tat vollständig möglich, selbst bei solchen Teilen, über deren Struktur noch gestritten wird. Es handelt sich bei dieser Anwendung der Histologie auf Physiologie und Pathologie zunächst um die Anerkennung, dass die Zelle wirklich das letzte eigentliche Formelement aller lebendigen Erscheinungen sei, und dass wir die eigentliche Aktion nicht über die Zelle hinaus verlegen dürfen.“
Er führt dann weiter aus, wie jede Zelle eigentlich einen ganz gleichartigen Aufbau mit den gleichen Strukturelementen erkennen lässt und der ganze komplizierte Aufbau eines Organismus lediglich Spezialisierung und Differenzierung des immer Gleichen ist:
„So gewinnt man ein einfaches, gleichartiges, äußerst monotones Gebilde, welches sich mit außerordentlicher Konstanz in den lebendigen Organismen wiederholt. Aber gerade diese Konstanz ist das beste Kriterium dafür, dass wir in ihm das eigentlich Elementare haben, welches alles Lebendige charakterisiert, ohne dessen Präexistenz keine lebendigen Formen entstehen, und an welches der eigentliche Fortgang, die Erhaltung des Lebens gebunden ist. Erst seitdem der Begriff der Zelle diese strenge Form angenommen hat, und ich bilde mir etwas darauf ein, trotz des Vorwurfes der Pedanterie stets daran festgehalten zu haben, erst seit dieser Zeit kann man sagen, dass eine einfache Form gewonnen ist, die wir überall wieder aufsuchen können, und die, wenn auch in Größe und äußerer Gestaltung verschieden, doch in ihren wesentlichen Bestandteilen immer gleichartig ist.“
Und später:
„Wenn eine bestimmte Übereinstimmung der elementaren Form durch die ganze Reihe alles Lebendigen hindurchgeht, und wenn man vergeblich in dieser Reihe nach irgend etwas anderem sucht, was an die Stelle der Zelle gesetzt werden könnte, so muss man notwendig auch jede höhere Ausbildung, sei es einer Pflanze und eines Tieres, zunächst betrachten als eine progressive Summierung einer größeren oder kleineren Zahl gleichartiger oder ungleicher Zellen. Jedes Tier scheint als eine Summe vitaler Einheiten, von denen jede den vollen Charakter des Lebens an sich trägt. Der Charakter und die Einheit des Lebens kann nicht an einem bestimmten Punkt der höheren Organisation gefunden werden, z.B. im Gehirn des Menschen, sondern nur in der bestimmten, konstant wiederkehrenden Einrichtung, welche jedes einzelne Element an sich trägt. Daraus geht hervor, dass die Zusammensetzung eines größeren Körpers immer auf eine Art von gesellschaftlicher Einrichtung herauskommt, einer Einrichtung sozialer Art, wo eine Masse von einzelnen Existenzen aufeinander angewiesen ist, aber so, dass jedes Element für sich eine besondere Tätigkeit hat, und dass jedes, wenn es auch die Anregung zu einer Tätigkeit von anderen Teilen her empfängt, doch die eigentliche Leistung von sich ausgehen lässt.“
Mechanische Gesetze des Lebens Die Zelle ist also das eigentliche Grundelement, die einfachste Einheit, sie beinhaltet alles Leben, sie wahrt die Kontinuität. Alle Lebewesen, auch der Mensch, sind nur vorstellbar als zusammengesetzt aus vielen solcher Zellen. Es ist ganz gleich, ob Pflanze, Tier oder Mensch, der Unterschied liegt mehr in der Art der Zellzusammensetzung, in ihrer Differenziertheit. Es handelt sich um eine ganz atomistische Betrachtung, um eine Betrachtung kleinster einzelner Teile, um von diesen her auf ein Ganzes zu schließen.