PROLOG
Im Sommer des Jahres 882 nahmen Zwentibald, Herzog der Mähren, und seine Männer nahe der Großen Ungarischen Tiefebene, wo zwischen Alpen und Karpaten die Donau fließt, Werinher, »den mittleren der drei Söhne des Engischalk, und ihren Verwandten Graf Wezilo gefangen und schnitten ihnen die rechte Hand ab, die Zunge und – schrecklich, dies zu berichten – die Geschlechtsteile, so dass keine Spur mehr von [den Geschlechtsteilen] übrig blieb«. Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte des 1. Jahrtausends n. Chr. sind zwei Aspekte dieses Vorfalls bemerkenswert.
Erstens sprachen die Mähren Slawisch. Mähren lag nördlich der Donau etwa im Gebiet der heutigen Slowakei. Aus unserer Sicht scheint nichts Besonderes daran zu sein, dass dieser Teil Mitteleuropas von Slawisch sprechenden Menschen beherrscht wurde. Das ist schließlich heute noch so. Zu Beginn des 1. Jahrtausends und in den folgenden 500 Jahren jedoch wurden die Slowakei und weite Teile der benachbarten Gebiete von Germanisch sprechenden Menschen dominiert. Woher also waren die slawischsprachigen Mähren gekommen?
Zweitens ist der Vorfall an sich schon erstaunlich. Trotz der Tatsache, dass ein nichtmährischer, fränkischer Geschichtsschreiber davon erzählt und trotz der entsetzlichen Verstümmelungen äußert sich unsere Quelle nicht unfreundlich über die Slawen. Für die Mähren, so wird berichtet, war diese drastische Maßnahme Präventivschlag und Racheakt zugleich. Sie rächten sich für die ungerechte Behandlung, die ihnen durch Werinhers Vater Engischalk und seinen Onkel Willihelm widerfahren war, als die beiden auf der fränkischen Seite der Grenze das Kommando führten. Es war aber auch ein Präventivschlag, da die Mähren verhindern wollten, dass Engischalks Söhne das Amt, das ihr Vater innegehabt hatte, einem neuen Bevollmächtigten entrissen. Die Mähren waren grausam, zweifellos, aber sie waren keine blindwütig losschlagenden Barbaren, so dass selbst ein fränkischer Kommentator hinter ihrer Brutalität eine klar umrissene und schlüssige Absicht erkennen konnte. Sie wollten ihren Teil der Grenze ihren Vorstellungen entsprechend verwaltet wissen. Archäologische Funde verdeutlichen, was damit gemeint sein könnte. Ende des 1. Jahrtausends war Mähren das erste slawische Reich von ansehnlicher Größe und Stabilität, und seine materiellen Hinterlassenschaften sind beeindruckend. In der einstigen Hauptstadt Mikulcˇice entdeckte man bei Ausgrabungen massive steinerne Umfassungsmauern und die Überreste einer eindrucksvollen Kathedrale. Mit ihrer Grundfläche von 400 Quadratmetern übertraf sie alles, was zu dieser Zeit anderswo gebaut wurde, selbst in den Regionen Europas, die vermutlich damals technisch fortschrittlicher waren.1 Betrachtet man das 1. Jahrtausend als Ganzes, ist all dies ungeheuer faszinierend. Denn noch zur Zeitenwende dominierten in Mähren germanischsprachige Gruppen, die meist in kleinen Stammesfürstentümern organisiert waren und nie etwas Bedeutenderes errichteten als Holzhütten mittlerer Größe.
Der Vorfall an der mährischen Grenze Ende des 9. Jahrhunderts illustriert somit das Problem, um das es in diesem Buch geht: die grundlegende Transformation des barbarischen Europa im 1. nachchristlichen Jahrtausend. »Barbarisch« wird hier und im Folgenden in einem sehr spezifischen Sinne verwendet, der nur einen Teil der Bedeutung des griechischen barbaros umfasst. Denn für die Griechen und später auch für die Römer war »barbarisch« meist gleichbedeutend mit »minderwertig«, und zwar in sämtlichen Lebensbereichen, von der Moral bis zu den Tischsitten. »Barbarisch« bedeutete das Entgegengesetzte, das »Andere«, das Gegenbild zum zivilisierten, im Römischen Reich geeinten Mittelmeerraum. Ich verwende den Begriff jedoch nur in einem engeren, von moralischen Konnotationen freien Sinn: das barbarische Europa als die nichtrömische Welt des Ostens und des Nordens. Denn trotz der erstaunlichen Kultiviertheit, die der Mittelmeerraum in allen Bereichen von der Philosophie bis zur Technik entwickelt hatte, war dies auch eine Welt, die nichts dabei fand, rein zur Unterhaltung Menschen von wilden Tieren zerfleischen zu lassen. Daher fiele es mir ohnehin schwer, das römische Europa mit dem nichtrömischen anhand moralischer Kriterien auch nur ansatzweise zu vergleichen.
Die europäische Landschaft bot zur Zeit von Christi Geburt ein Bild extremer Gegensätze. Im Mittelmeerraum, unter der Herrschaft des Römischen Reiches erst kurz zuvor geeint, war eine politisch, wirtschaftlich und kulturell hochentwickelte Zivilisation entstanden – mit Philosophie, Bankenwesen, Berufsarmeen, Literatur, eindrucksvollen Bauwerken und einem System der Müllentsorgung. Abgesehen von kleineren Gebieten westlich des Rheins und südlich der Donau, wo man allmählich anfing, einen mediterranen Lebensstil zu entwickeln, war das übrige Europa von bäuerlichen Bevölkerungen bewohnt, die Subsistenzwirtschaft betrieben und kleine politische Einheiten bildeten. Ein Großteil dieses Europa wurde von germanischsprachigen Gruppen beherrscht, die zwar auch Werkzeuge und Waffen aus Eisen besaßen, das meiste aber aus Holz fertigten, über so gut wie keine Schriftkultur verfügten und nicht in Stein bauten. Je weiter man nach Osten kam, desto primitiver wurde alles: noch weniger Eisenwerkzeuge, eine noch geringere landwirtschaftliche Produktivität und eine noch geringere Bevölkerungsdichte. Die Römer im Mittelmeerraum waren die beherrschende Macht des westlichen Eurasien, die das unentwickelte Hinterland im Norden unter ihrer Kontrolle hatten.
Tausend Jahre später hatte sich diese Welt grundlegend verändert. In einem Großteil des barbarischen Europa dominierten jetzt Slawisch sprechende anstelle von Germanisch sprechenden Menschen, und in anderen Gebieten hatten germanischsprachige Gruppen die Römer und Kelten verdrängt. Aber auch die mediterrane Vorherrschaft war gebrochen. Im einstigen nördlichen Hinterland waren größere und stabilere politische Gemeinwesen entstanden, wie das Beispiel der Mähren zeigt. Doch nicht nur politisch, auch kulturell hatte der Mittelmeerraum seine Vorherrschaft eingebüßt. Bis zum Jahr 1000 hatte sich viel von der mediterranen Kultur – nicht zuletzt das Christentum, die Schriftkultur und die Steinarchitektur – nach Norden und Osten ausgebreitet, was zu einer größeren Homogenität der politischen und kulturellen Strukturen in ganz Europa führte. Das barbarische Europa war nicht mehr barbarisch.
Die überragende Bedeutung dieser massiven Machtverlagerung manifestiert sich schon darin, dass viele Länder des modernen Europa ihre historischen Wurzeln auf politische Gemeinwesen zurückführen, die irgendwann zwischen Mitte und Ende des 1. Jahrtausends entstanden. Diese Herleitung erscheint manchmal allzu gezwungen, doch kaum eine europäische Nation könnte ihren Gründungsmythos in die Zeit von Christi Geburt oder noch weiter zurück datieren. In einem sehr grundsätzlichen Sinn sind die politischen und kulturellen Transformationen des 1. Jahrtausends tatsächlich die Geburtswehen des modernen Europa, denn dieses Europa ist weniger ein geographisches als vielmehr ein kulturelles, wirtschaftliches und politisches Gebilde. Geographisch gesehen ist es bloß der westliche Teil der großen eurasischen Landmasse. Seine eigentliche historische Identität jedoch verdankt Europa der Entstehung von Gesellschaften, die auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene so intensiv miteinander kommunizierten, dass sich signifikante Gemeinsamkeiten entwickeln konnten. Und dass solche Gemeinsamkeiten überhaupt entstehen konnten, war eine unmittelbare Folge der Transformation des barbarischen Europa im 1. Jahrtausend.
Aufgrund seiner überragenden Bedeutung für die Entstehung von Nationen und Regionen hat das 1. Jahrtausend Wissenschaftler seit jeher in seinen Bann gezogen. Es kursieren allerlei Versionen über den Ursprung der verschiedenen Nationen, und seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht gibt es wohl nur wenige Europäer, die nicht zumindest mit den Grundzügen der Sage vom Entstehen ihrer Nation einigermaßen vertraut sind. Doch genau an diesem Punkt wird es problematisch.
Bis vor kurzem neigten Forschung und Öffentlichkeit dazu, den Einwanderern unterschiedlicher Art, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten des 1. Jahrtausends auftauchten, eine Hauptrolle zuzuschreiben. Mitte des 1. Jahrtausends zerstörten germanischsprachige Einwanderer das Römische Reich und gründeten eine Reihe von Nachfolgereichen. Ihnen folgten weitere Germanen und vor allem Slawen, deren Aktivitäten dem Nationenpuzzle Europas weitere Teile hinzufügten. Gegen Ende des Jahrtausends traten dann auch noch Einwanderer aus Skandinavien und der osteuropäischen Steppe auf den Plan. Auch wenn zuweilen erbittert über manche Details gestritten wurde, bezweifelte niemand auch nur ansatzweise, dass die Massenmigration von Männern und Frauen, Alten und Jungen bei der Entstehung Europas eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Seit einer Generation jedoch besteht unter Forschern in diesen Fragen kein Konsens mehr, denn es hat sich gezeigt, dass diese Ansätze allzu vereinfachend sind. Bisher gibt es noch keine neue Überblicksdarstellung, aber in einer Vielzahl von Arbeiten wurde die Bedeutung der Migration für die Herausbildung zumindest einiger Vorläufer der heutigen Nationen Europas entscheidend relativiert. So gehen inzwischen viele Historiker davon aus, dass es überhaupt keine massenhafte Migration gab, sondern dass sich immer nur wenige Menschen auf Wanderung...