Als Antragsteller und Hauptbetroffene stehen die in Deutschland lebenden Muslime im Zentrum der Debatte um einen islamischen Religionsunterricht. Aufgrund der strukturellen Besonderheiten des Islams und seiner vielfältigen Strömungen ist es jedoch nicht möglich von der muslimischen Position zu sprechen. Vielmehr stellt gerade die Tatsache, dass dem Islam einerseits jegliche Form der religiösen Organisation wesensfremd ist[4], andererseits vor dem Hintergrund des deutschen Rechtssystems aber ein komplexes Vereins- und Verbandswesen entstanden ist, eine besondere Herausforderung dar, weil unklar ist, wer eigentlich für wen spricht bzw. was die schweigende Mehrheit denkt.
In der Vielfalt der islamischen Organisationen spiegelt sich die Bandbreite der kulturellen, nationalen und konfessionellen Hintergründe ihrer Mitglieder wider, die meistens als Migranten in unterschiedlichen Kontexten nach Deutschland gekommen sind.
Bereits in der Folge der Türkenkriege im 17. Jahrhundert waren die ersten so genannten „Beutetürken“ nach Deutschland gelangt. Da diese jedoch meistens zu z.T. groß inszenierten Konvertitentaufen gezwungen wurden, neue Namen bekamen und -unter dem Vorbehalt der Assimilierung- auch in die Gesellschaft aufgenommen wurden, geriet ihre Herkunft nach wenigen Generationen schnell in Vergessenheit.[5] Es folgten neben weiteren Kriegsgefangenen auch die ersten Zivilisten im Rahmen der Kontaktaufnahme zwischen Preußen und dem Osmanischen Reich im 18. Jahrhundert. An diese Zeit erinnert der muslimische Friedhof in Berlin am Columbiadamm, der lange Zeit der einzige Friedhof für Muslime in Mitteleuropa war.[6] Als später im ersten Weltkrieg das Osmanische Reich auf Seiten der Mittelmächte kämpfte, wurden rund 15000 muslimische Gefangene aus den alliierten Streitkräften nach Deutschland, v.a. nach Berlin gebracht.[7] In den dort errichteten Lagern sollten sie umerzogen werden, um dann für die osmanische Seite erneut in den Krieg zu ziehen. Berlin ist auch die erste Stadt, in der sich nach Ende des Krieges durch den Zuzug von Studenten und Akademikern islamische Vereine gründeten und sich so ein muslimisches Gemeindeleben entwickelte.[8] Die Politisierung des religiösen Lebens unter den Nationalsozialisten und eine Instrumentalisierung der Vereine auch durch die arabische Welt, führte jedoch zu Konflikten und zu einer Auflösung der Vereine nach Kriegsende.[9] Zu einer gewissen Wiederbelebung muslimischen Lebens kam es ab Mitte der 50er Jahre als sich Anhänger der Ahmadiyya-Bewegung aus Großbritannien in Hamburg niederließen. Die iranischen Kaufleute gründeten 1961 die erste Moschee in Hamburg. Ebenfalls in den 60er Jahren wurden die islamischen Zentren von Aachen und München durch zugezogene Studenten und Akademiker gegründet.
Der mit Abstand größte Teil der heute in Deutschland lebenden Muslime ist allerdings über die Arbeitsmigration seit Beginn der 60er Jahre im 20. Jahrhundert nach Westdeutschland eingereist. Anwerbeabkommen mit der Türkei (1961), Marokko (1963), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968) brachten insbesondere muslimische Männer ins Land. Nach dem Anwerbestopp 1973 entschieden sich viele von ihnen für den dauerhaften Verbleib und holten ihre Familien nach, wodurch sich auch ihre religiöse Bedürfnislage wandelte.[10] So wurden ab Mitte der 70er Jahre zahlreiche islamische Vereine gegründet, die der umfassenden Regelung kultureller und religiöser Belange dienen sollten.
Des Weiteren kamen seit Mitte der 70er Jahre Kriegsflüchtlinge und Asylsuchende aus islamischen Ländern nach Deutschland, so etwa aus dem Libanon (1975), aus Afghanistan (1979), im Zuge der islamischen Revolution von 1979 aus dem Iran und in den 90er Jahren aus Bosnien-Herzegowina (1992) und dem Kosovo (1999).
Schließlich gibt es auch eine gewisse Zahl deutschstämmiger Muslime, die zum Islam konvertiert sind.
Gesicherte Aussagen zur Gesamtzahl der Muslime in Deutschland sind zurzeit nicht möglich. Da die islamischen Gemeinschaften bisher noch nicht den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten haben, werden sie von den Einwohnermeldeämtern nur unter der Rubrik „Verschiedene“ geführt. So wird für eine ungefähre Abschätzung zum einen auf die Volkzählung vom 25. Mai 1987 zurückgegriffen, die auch die Religionszugehörigkeit erfasste. Zum anderen basieren die Schätzungen auf den Zahlen zur Staatsangehörigkeit, d.h. es werden die Ausländer aus muslimisch geprägten Ländern gezählt, wobei ein gewisser Anteil aufgrund der vorhandenen religiösen Minderheiten abgezogen wird. Dazu werden dann die Einbürgerungen aus den entsprechenden Ländern plus eine geschätzte Anzahl muslimischer Minderheiten aus nicht-islamisch geprägten Ländern, wie z.B. die deutschstämmigen Muslime, addiert. Auf diese Weise gelangte die Bundesregierung im Jahr 2000 zu der Einschätzung, dass zwischen 2,8 und 3,2 Millionen Muslime in Deutschland leben, von denen wiederum zwischen 370 000 und 450 000 Deutsche seien.[11] Im Bericht der der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration vom August 2005[12] wird darauf hingewiesen, dass seitdem keine aktualisierten Informationen zur Zahl muslimischer Gläubigen vorgelegt wurden.
Eine weitere Erschwernis bei der Ermittlung von Gläubigenzahlen hängt mit dem Selbstverständnis der Muslime zusammen. So gibt es Schwierigkeiten im Hinblick darauf, wann eine Gemeinschaft noch als innerislamische Strömung und wann sie bereits als eigene Religion eingestuft werden sollte. Beispielsweise werden Ahmadis und Aleviten, entgegen ihrem Selbstverständnis, von vielen Muslimen nicht mehr zur Weltgemeinschaft der Muslime gerechnet.[13] Erstere, weil sie sich nicht ausdrücklich zur Finalität des Propheten bekennen und letztere, weil sie die fünf religiösen Grundpflichten und das islamische Recht nicht befolgen.[14]
In der Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage[15] wird die Zahl der in Deutschland lebenden Ahmadis auf ca. 60 000 geschätzt. Bei den aus der Türkei stammenden Aleviten, die formal zur Schia gehören, geht man von 400 000 bis 600 000 aus. Daneben werden die Gläubigen der Zwölferschia mit 125 000 angegeben. Die weitaus größte Konfession bilden die Sunniten mit ca. 2,1 bis 2,4 Millionen Gläubigen, die meistens aus der sunnitisch geprägten Türkei stammen.
Die große Mehrheit der türkischen Muslime[16] schlägt sich auch im Bild der islamischen Organisationen nieder, die sich auf verschiedenen Ebenen gebildet haben.
Da eine ausführliche Darstellung aller muslimischen Vereinigungen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, werden im Folgenden allein die Organisationen überblicksartig (in Tabellenform) vorgestellt, die im Zusammenhang mit dem Islamischen Religionsunterricht relevant sind. Im Anschluss daran wird dann im Einzelnen noch etwas näher auf die Bereiche Mitgliederzahlen/Repräsentativität, Ausrichtung und Vernetzung/Strukturen eingegangen.
Insbesondere im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration entstanden zahlreiche Moscheevereine, die sich v.a. dem Gemeindeleben vor Ort widmen[17]. Während bei ihrer Entstehung noch ausschließlich die Einrichtung von Gebetsräumen im Vordergrund stand, so entwickelten sie sich mit der Zeit hin zu multifunktionalen Zentren, die beispielsweise auch Sprachkurse oder Hausaufgabenhilfen anbieten und manchmal als Mittler zwischen Kommunalregierung und muslimischer Gemeinde fungieren[18].
Diese örtlichen Vereine haben sich teilweise, meist entsprechend ihrer Nationalität, ihrer religiösen oder politischen Strömung, zu überregionalen Verbänden zusammengeschlossen und sind häufig mit ihren Herkunftsländern wie auch europäischen Nachbarländern vernetzt.
Zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen gegenüber dem Staat, sei es beispielsweise in Bezug auf das Schächten oder den islamischen Religionsunterricht, haben sich wiederum einige dieser Verbände zu Spitzenorganisationen vereinigt. Da jedoch viele Fragen muslimischen Alltagslebens auf Bundesländerebene entschieden werden und den Spitzenorganisationen in einigen zentralen Punkten die Erfolge versagt blieben, bildeten sich seit Mitte der neunziger Jahre Landesvereinigungen als neue Organisationsform heraus.
Schließlich gibt es noch eine Reihe zielgruppenspezifischer Organisationen, die sich beispielsweise speziell an Studenten, Frauen oder Jugendliche wenden oder Bildungs-, Sozial- oder Hilfswerke betreiben. Auch letztere sind wiederum auf mehreren Ebenen vernetzt.
Tabelle 1 beschreibt verschiedene Organisationsformen muslimischer Vereinigungen. In Tabelle 2 werden die größten bundesweit tätigen Verbände, die allesamt türkisch sind, vorgestellt. Tabelle 3...