Noch hatten wir keine Ahnung, was später auf uns zukommen sollte.
Wie alles begann
Aus einem Witz wird Ernst
Als Valentina einen Bruder bekam und wir einen Sohn, war uns noch nicht klar, was wir knapp ein Jahr später zusammen erleben würden. Doch schon nach wenigen Wochen zu viert tauchte der Wunsch auf, als Familie zu verreisen. Als Valentina ein kleines Baby war, flogen wir mit ihr ans andere Ende der Welt, nach Neuseeland, und reisten dort umher. Sie war sieben Monate alt und wir waren junge Eltern. Die Zeit zusammen als Familie war sagenhaft. Ich hatte acht Wochen lang die wichtigsten Menschen in meinem Leben um mich.
Der Wunsch nach gemeinsamer Zeit trieb uns an. Vom Aufwand, den eine längere Reise mit zwei kleinen Kindern bedeutet, ließen wir uns nicht abschrecken. Für ein neues Abenteuer boten sich die Sommermonate an und wir sammelten Ideen. Wohin könnten wir fahren? Sollten wir mit einem Campingbus reisen? Vielleicht entlang der kroatischen Küste? Oder eine Tour durch die osteuropäischen Staaten, in denen wir uns allerdings überhaupt nicht verständigen könnten? Länger im Gespräch war eine Ostseeumrundung. Ich sah mich schon borschtschessenderweise in Polen oder mit von kroatischen Kieselstränden geplagten Füßen.
Doch irgendwie wollte die Begeisterung nicht überspringen. Könnten wir nicht etwas machen, das unserem Spaß an sportlicher Betätigung genügen würde? Der erste Gedanke galt dem Radfahren. Wir fahren Rennrad, haben auch schon die Alpen mit dem Mountainbike überquert. Doch mit Gepäck und zwei kleinen, noch nicht selbst Rad fahrenden Kindern kämen nur Straßen oder Forstwege infrage. Das schien uns zu unspektakulär. Außerdem war die Vorstellung, dass beide Kinder nur im Anhänger sitzen könnten – Valentina wäre gerade drei Jahre, Silvester nicht einmal ein Jahr alt – etwas störend. Wie wäre es mit einem Boot oder einem Kanu? Doch das Risiko mit kleinen Kindern auf dem Wasser war uns zu groß. Außerdem gibt es in Wassernähe immer Mücken, meine Erzfeinde. Also zu Fuß, mit dem Pferd oder einem Kutschenwagen? Da sagte ich zum Spaß: »Wir könnten doch mit einem Esel wandern!« Vor einigen Jahren hatte ich in einer Sendung im Fernsehen gesehen, dass man in Frankreich geführte Touren mit einem Esel unternehmen kann. Das Tier trägt dabei das Gepäck und der Eselführer versucht, das Beste aus dieser Zweisamkeit zu machen. Meditieren oder Ähnliches scheint beim Eselwandern üblich zu sein. Wir lachten ausgiebig über die Idee. Jeder von uns hatte Bilder und Eigenschaften im Kopf, an die man typischerweise im Zusammenhang mit Eseln denkt: störrisch, gemütlich, langohrig, »Die Bremer Stadtmusikanten« und »Tischlein deck dich«.
Doch in der nächsten Zeit wanderte ein Esel durch nahezu jede meiner Gehirnwindungen. Irgendwie erzeugte er ein wohliges, fröhliches Gefühl im Bauch, wann immer er mich mit seiner Schnauze imaginär stupste.
»Du, das mit dem Esel – könntest du dir so was vorstellen?«, fragte ich Philipp dann. »Mit einem Esel noch eher als mit einem Pferd. Die wirken immer gleich so edel. Da würde ein Esel schon besser zu uns passen«, erwiderte er. Doch wo könnten wir mit einem Esel wandern? Und wie lange? Geht das überhaupt mit Kindern? Bräuchten wir einen oder zwei Esel? Wie viel Gepäck kann ein Esel tragen? Und wo findet man eigentlich fundierte Informationen über Esel und Reisen mit ihnen?
Das Internet führte uns nach wenigen Klicks in eine nie für möglich gehaltene Parallelwelt: Eselverleihstationen auf einer interaktiven Frankreichkarte, Kindersitze für Esel, die wie große geflochtene Körbe aussahen, Artikel über Eselwanderungen, Kataloge zum Buchen solcher Ausflüge, Kindergeburtstage mit Eseln, Mondschein-Eselwanderungen. Auf einmal erschien die Möglichkeit, mit zwei kleinen Kindern eine Wanderung zu machen, gar nicht mehr so absurd. Und für uns wäre der Sport gleich integriert.
Anders waren die Reaktionen unserer Familie und Freunde: »WAS wollt ihr machen? Vier bis sechs Wochen mit einem ESEL wandern? Aber was macht ihr in der Zeit mit den Kindern?« »Na, die nehmen wir natürlich mit!« »Ja aber was, wenn …« So begannen die meisten Gespräche. Die Fragen, was wir machen würden, wenn der Esel nicht weiterwollte, nicht weiterkönnte, Hunger hätte, Durchfall bekäme, die Kinder nicht leiden könnte, sich ein Bein bräche oder plötzlich Goldstücke spuckte, ließen uns kalt. Wir waren vielmehr damit beschäftigt herauszufinden, ob und wo wir einen Esel (oder zwei?) für unsere Reise bekommen könnten. Wir dachten daran, einen Esel für die Reise zu kaufen. Doch Philipps Mutter war entsetzt: »Dann bringt’s den hernach nimmer los und dann steht er bei uns im Garten!«, war ihre größte Sorge.
»Alles ist möglich«
Eines Abends kam Philipp nach Hause und erzählte, ein ehemaliger Kollege aus dem Süden Münchens hätte von einem Eseltreffen im Jahr zuvor gehört und ihm den Namen des Veranstalters genannt. Bei dem Gedanken an ein Eseltreffen mussten wir schmunzeln. Als wir es googelten, fanden wir tatsächlich Informationen und Fotos und bedauerten bereits, nicht dort gewesen zu sein.
Einige Tage später nahmen wir uns Zeit und riefen bei dem Veranstalter des Eseltreffens, dem Sepp, an. Er war am Telefon erst etwas einsilbig, doch als wir ihm von unserer Idee erzählten, konnten wir doch einige Informationen aus ihm herauskitzeln. Wir fragten beispielsweise, ob man einfach einen Esel auf einem Markt kaufen könne oder wo man ein geeignetes Tier herbekomme. Vom Kauf eines Esels riet er uns schnell ab, da ein Esel es gewöhnt sein muss zu gehen, »und wennst du einfach oanen kaufst, dann woaßt du net, ob der mit dir so mitgeht«. »Was können Esel denn für Wege gehen und können da auch Kinder drauf reiten?«, wollte Philipp wissen. Darauf erwiderte Sepp nur: »Mei, des kimmt immer auf den Esel an. I bin selbst a moi mit meinem Esel, dem Rudi, über die Alpen ganga. Da kimmt dann a kloaner Bach und da geht er net nüber. Brücken san a oft schwierig.«
Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber ich musste bei dieser nüchternen Schilderung furchtbar lachen. Philipp konnte sich am Telefon auch nur schwer zurückhalten. Sepp erzählte uns noch einige weitere Geschichten von Eseln, die für uns unglaublich komisch waren – für ihn allerdings nicht. Dennoch bot er uns an, dass wir ihn besuchen und uns den Esel für ein paar Stunden ausleihen könnten, um zu testen, ob Valentina sich auf ihn setzen würde.
Nachdem uns Sepp nicht vehement von unserem Vorhaben abgeraten hatte (zugeraten hatte er uns allerdings auch nicht), überkam uns die Zuversicht. Jawohl, wir wollten mit einem Esel wandern. So schwer konnte das doch nicht sein! Wir fingen nun endlich mit der Suche nach einem möglichen Reiseziel an und begannen unsere Recherchen in Frankreich, da Eselwandern dort verhältnismäßig gut etabliert zu sein schien. Auf der Eselverleihstation-Internetseite suchten wir uns einige Anbieter in den Pyrenäen und in den Alpen aus, schließlich wollten wir ja nicht nur in der Ebene durch Felder marschieren. Wir fürchteten, dass es zwischen bebauten Äckern noch schwieriger sein könnte, mit einem Esel voranzukommen, als im kargen Gebirge. Auf Korsika waren auch zwei Adressen angegeben. Zugleich recherchierten wir nach weiteren Möglichkeiten in Österreich und der Schweiz.
Mit den Resten unserer Schulfranzösischkenntnisse und unter Zuhilfenahme eines Wörterbuchs entwarfen wir eine Anfrage auf Deutsch und Französisch:
Guten Tag,
wir sind sehr daran interessiert, eine Wanderung auf Korsika/in den Pyrenäen/in den Alpen mit einem Esel zu machen.
Wir, das sind meine Frau, unsere zwei Kinder im Alter von ein und drei Jahren und ich.
Ist es möglich, einen Esel für vier bis sechs Wochen zu mieten?
Zu welchen Konditionen wäre das möglich?
Viele Grüße
Philipp Hutterer
So starteten wir die Suche nach unserem Urlaubsziel und schickten diese E-Mail an zahlreiche Adressen. Die Antworten, die wir bekamen, enthielten mindestens eine der folgenden Aussagen, manchmal eine Kombination aus mehreren oder allen Punkten:
- Wir vermieten Esel nur für einen oder einige Tage, nicht für mehrere Wochen.
- Wanderungen mit Esel sind nur mit einem Führer möglich.
- Die Kinder sind zu klein. Ein Kind kann frühestens ab 5/6/8 Jahren auf einem Esel reiten.
- Die Etappen in dem Gebiet sind zu lang für eine Reise mit Kindern.
- Wir vermieten im Sommer wegen Waldbrandgefahr keine Esel und bieten auch keine Wanderungen an.
- Waren Sie schon mal im Gebirge???
- Wir sind nicht in den Pyrenäen. (Das lag möglicherweise daran, dass wir manche E-Mails mit dem falschen Text abgeschickt hatten.)
Wir bekamen aber nicht nur Absagen. In den Pyrenäen wäre wohl das ein oder andere Eselabenteuer möglich gewesen. Es gab eine deutsche Frau, die dorthin ausgewandert war und zu dem Zeitpunkt damit begann, Eselwanderungen anzubieten. Sie fand die Idee großartig, war aber noch sehr unsicher, ob es gut gehen würde, Esel so lange zu vermieten. Also suchten wir weiter. Aus Österreich bekamen wir bei unseren Anfragen sämtliche bereits genannten und noch weitere Argumente zu lesen, die gegen eine Wanderung von mehr als einigen Stunden oder maximal einem Tag sprachen. Offensichtlich gab es für eine solche Reise kein allgemein gültiges Urteil: geht oder geht nicht.
Einige Tage später, wir waren von den ganzen niederschmetternden Aussagen doch etwas demotiviert, bekamen wir...