4. Kreisform des Textes und der Bewegung
Eine sehr interessante Erscheinung ist die Tatsache, dass das erste Kapitel mit einem Brief beginnt, der auf den Juni 1854 datiert und auf den Schoner „Восток“ im „Татарский залив“ verortet wird (Gončarov 1997:34), also den Endpunkt der Seereise des Erzählers. Dieser als Brief gestaltete Text beschreibt die Vorgeschichte der Reise, anschließend die Fahrt von Kronštadt nach Portsmouth und führt hin auf eine vom Reisenden aufbewahrte Skizze über den Aufenthalt in England. Zu Beginn des Briefes wird ein Brief vom 2. November 1852 erwähnt, der seinen Empfänger in Sankt Petersburg allerdings nicht erreicht haben soll 17 : „Меня удивляет, как могли вы не получить моего первого письма из Англии, от 2/14 ноября 1852 года, и второго из Гон-Конга, именно из мест, где об участи письма заботятся, как о судьбе новорожденного младенца.“ (Gončarov 1997:7). Der Reisebericht beginnt also paradoxerweise mit einer Inszenierung des Verlusts seines eigentlichen, ursprünglichen Anfangs und der seines Neuschreibens. Das Paradox wird verstärkt durch die Tatsache, dass die Briefe gerade an solchen Orten verloren gegangen sein sollen, an denen man sich so gut um sie kümmere. Viktor Šklovskij sieht in diesem fingierten Verlust einen Versuch „преодолеть литературную условность и дать все письма как реальную дружескую переписку“ (Šklovskij 1955:231) und unterstreicht damit den erhofften Authentizitätseffekt, der eine noch höhere Glaubwürdigkeit des Berichteten bewirken soll. Auf struktureller Ebene fungiere dieser erste abgedruckte Brief nach Šklovskij als „письмо суммирующее“ und behandele die Themen, die im weiteren Verlauf des Textes ausführlich entwickelt werden: „В этом вымышленном письме, основанном на письмах реальных, Гончаров дал общую харак- теристику путешествия, самого себя как путешественника, характеристику корабля, характерис- тику англичанина купца, противопоставление северной природы и России, олицетворенной в корабле, и тропиков.“ (Šklovskij 1955:230).
Obwohl Šklovskij auch auf die Datierung des Briefes aufmerksam macht, belässt er es bei obigen Schlussfolgerungen. Dabei scheint mir doch die Frage notwendig, warum das erzählende Ich gerade diese Distanz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, zwischen ihnen liegen immerhin 22 Monate und eine Weltreise per Schiff, für den Leser erkennbar macht. 18 Das heißt mit anderen Worten, warum versucht ein erzählendes Ich, das bereits um die halbe Welt gesegelt ist, ein erzähltes Ich zu rekonstruieren, das gerade die ersten Stunden und Tage auf einem Schiff überhaupt und in Erwartung einer solchen Reise verbringt? Andere Briefe sollen ja, nach Šklovskij, als Grundlage gedient haben. Folgendes Urteil über den Verlust des Wunderbaren z.B. kann sich, wenn er seine Glaubwürdigkeit bewahren will, nur ein Reisender erlauben, der die Welt bereits gesehen hat: „Чудес, поэзии! Я сказал, что их нет, этих чудес: путешествия утратили чудесный характер.“ (Gončarov 1997:14). In den Brief fließen also bereits Erfahrungen des Reisenden aus der Weltumseglung ein und machen ersteren so zu einem gleichzeitigen „начало и итог“ (Tunimanov 2000:479) der folgenden Reisebeschreibung.
Diese Bemerkung deutet bereits auf einen Effekt hin, der in der Sekundärliteratur zu den Reiseskizzen noch nicht berücksichtigt wurde. Durch die Verschränkung von Erzählzeit und erzählter Zeit nämlich werden auch die Textoberfläche, die Reisebewegung, der Leseprozess und letztendlich der Textsinn zu einer Kreisform verschränkt. Denn an dem Ort, wo der Reisende seine Fahrt zu Schiff beendet, fängt die Abfassung des für den Leser zugänglichen Textes an. Damit entspricht die „Textbewegung“ mit ihrer Kreisform der Reisebewegung, die ja, wenn man den Landweg von der Pazifikküste im Fernen Osten über Jakutsk, Irkutsk und Simbirsk in die Hauptstadt Petersburg zurück hinzuzählt, als Linie auf einer Weltkarte gedacht, ebenfalls eine kreisähnliche, auf jeden Fall geschlossene Figur beschreibt. An dieser Stelle könnte auch der „Verlust“ des Anfangs einleuchten, da ein Kreis ebenfalls keinen Anfang besitzt. Selbst wenn man den Landweg aus der originären Reisebewegung weglässt und diese somit nicht als Kreisform, sondern eher als Hufeisenform denkt, ist es dann der Brief, die Erzählung, die Mitteilung, die die Reise literarisch zu einem Kreis formt. Das erzählte Ich findet sogar eine autobiographisch relativ früh verankerte Legitimation der Kreisform, wenn es einen Traum aus seiner Kindheit (re)konstruiert:
„Я всё мечтал - и давно мечтал - об этом вояже, может быть с той минуты, когда учитель сказал мне, что если ехать от какой-нибудь точки безостановочно, то воротишься к ней с другой стороны: мне захотелось поехать с правого берега Волги, на котором я родился, и воротится с левого […]“ (Gončarov 1997:9). Die Rekonstruktion der Reise als Traum gibt bereits an dieser frühen Stelle einen Hinweis auf mehrere Sequenzen des Textes, in denen der Leser ein Schwingen des Erzählens und der dargestellten Wahrnehmung zwischen Traum und Wirklichkeit vernehmen wird (vgl. Kapitel III, 4c dieser Arbeit).
Wenn, wie Nedzveckij meint, die Weltumseglung für Gončarov auch bedeutete, seine bisherige, in Texten dargestellte Sicht auf die Welt anhand eines „глобальный материал“ zu überprüfen (1993:45), dann schließt sich mit dem Kreis auch ein hermeneutischer Zirkel, weil die „Vermehrung des Wissens über das Andere, über dessen Lebensbedingungen und Kulturformen“ an das Wissen zurück gebunden wird, das der Reisende in seinem Herkunftsland bereits gesammelt hatte (Ette 2001:63). Ausdruck für dieses bereits „Vor-Gewusste“ (Ette 2001:66) sind z.B. Bücher über die zu bereisende Gegend, die der Reisende gelesen hat. 19 Das erzählende Ich verweist im Фрегат «Паллада» häufig auf Lesevorgänge (vgl. 1997:28, 102, 438, 444 u.a.) und andere Texte, macht damit intertextuelle Bezüge deutlich, die die Wahrnehmung des Reisenden beeinflussten. Auf der hier diskutierten strukturellen Ebene wird die Reise gelegentlich als eine Überprüfung des Geschriebenen inszeniert und somit das bereits vorhandene Wissen untermauert, wie beispielsweise das Lesen von Seekarten zeigt: „Вот морская карта: она вся испещрена чертами, точками, стрелками и надписями. «В этой широте, - говорит одна надпись, - в таких-то градусах, ты встретишь такие ветры», и притом показаны месяц и число. […] Далее еще лучше: «В таком-то градусе увидишь в первый раз акул, а там летучую рыбу» - и точно увидишь.“ (Gončarov 1997:100). Hier ist der ursprüngliche Text, die Karte, bereits um Wissen in Form von Anmerkungen ergänzt worden, dessen Gültigkeit jetzt vom erzählten Ich als autorisierte Instanz nochmals bekräftigt wird.
Einen „anschaulichen“ Höhepunkt solcher Wissensrückbindungen bildet eine (von Gončarov allerdings nicht autorisierte) Bild-Text-Beziehung in der Akademie-Ausgabe des Фрегат Паллада von 1986, wo die Abbildung einer Karte der östlichen Uferlinie der Halbinsel Korea (Gončarov 1986:473), in der durch das Übereinanderlegen der Karte Kruzenšterns und
derjenigen der Offiziere der Fregatte „Pallas“ sogar zwei Texte in einem Bild verbunden werden, zum einen das jeweils neu erworbene Wissen (nämlich das über die Küstenlinie) miteinander in Beziehung setzt, damit gleichermaßen die Vergänglichkeit bzw. Relativität von Wissen anzeigt (denn das zuerst erworbene wird durch das zweite korrigiert), und zum anderen russische Benennungen von Landvorsprüngen (мысы) enthält. Durch die Benennungen wird von Land bzw. Welt gleichzeitig, wenn in diesem Falle auch...