5 Bewusstseinsprägung durch den Mutteratem
Die Mutter als Archetypus ist Ausgang und Basis, ist auch das Ziel, denn sie ist Heimat. Aber über den Eigenatem muss jeder auf Erden geborene Mensch seine ureigene Lebensmelodie entwickeln.
HP Dr. Rosina Sonnenschmidt
Jedes Kind wird im Mutteratem geboren und muss daraufhin seinen eigenen Atem und sein eigenes Bewusstsein entwickeln. Der mütterliche Leihatem ist verbunden mit dem Atem, dem Atemrhythmus und Atembewusstsein der Mutter während der Schwangerschaft und birgt deshalb für das Leben des Kindes eine zentrale Bedeutung. Bereits vom Zeitpunkt der Empfängnis bis hin zum Moment der Geburt gibt die Mutter durch ihren Atem die eigene körperliche und gesundheitliche Befindlichkeit dem Kind weiter. Entscheidend wirken sich dabei sowohl ihre seelisch geistige Befindlichkeit wie auch die körperliche Konstitution aus. Wie sie die Zeit ihrer Schwangerschaft erlebt und ob das Kind willkommen ist oder nicht. Der so „gefärbte“ Mutteratem wirkt prägend auf das Bewusstsein des Ungeborenen ein. Stimmungen, menschliche Qualitäten, Fähigkeiten, Freuden, Ängste, Verhaltensweisen aber auch Untugenden gehen auf das Kind über. Sind die Gefühle der Mutter positiv, weiten diese den Brust- und Flankenatem des Kindes. Hingegen verursachen beängstigende, schmerzvolle und deprimierende Zustände bei der Mutter eine Hemmung im Bereich des kindlichen Brust- und Flankenatems.
Sobald ein Kind geboren ist, hat es die Aufgabe, den eigenen Atem zu entdecken, ihn zu entfalten und ein eigenes Bewusstsein zu entwickeln. Das geschieht, indem es sich in natürlichen Schritten immer mehr vom mütterlichen Leihatem löst, mit dem das persönliche Bewusstsein der Mutter verbunden ist.
In der chinesischen Medizin wird diese Prägung mit der Ur-Lebenskraft, dem Nieren-Jing, verglichen. Es gibt Auskunft darüber, was das Kind von der Mutter und vom Familienfeld mitbekommen hat, um lebensfähig zu sein: Genetische Anlagen sowie ererbte Fähigkeiten, Gaben, Talente und Qualitäten. Zumal das Kind über die Mutter in das bestehende systemische Familienfeld eingebunden wird, übernimmt es auch vorhandene Muster im Denken, Fühlen und Handeln. Es hat jedoch seinen Sinn, wohinein ein Kind geboren wird und was ihm dadurch für seine Entwicklung zur Verfügung steht. In der Traditionellen Tibetischen Medizin wird als Ursache einer Empfängnis auch das Bewusstsein des Wesens im Zwischenzustand (Bardo) mit Eindrücken von früherem Karma angeführt. Voraussetzungen, die das Kind bei seiner Inkarnation vorfindet, sind wertfrei zu sehen. Immer haben sie mit dem Bewusstseinsaspekt zu tun, den das Kind in dieses Leben mitbringt. Wie es das, von der Mutter und vom Familienfeld Geerbte zur Verwirklichung bringt, ist ein Thema seiner Milzenergie. Die gesunde postnatale und schöpferische Kraft der Milz ist dafür zuständig.
Die Thematik des Mutteratems wurde von HP Dr. Rosina Sonnenschmidt erforscht und auch publiziert. Mit ihrem therapeutischen Kunstwerk gab uns sie ein hochwirksames Instrument in die Hand, wofür ich Rosina von Herzen verbunden und dankbar bin. Zur Fertigstellung ihres Buches „Der Mutteratem in der Familienaufstellung“ hatte ich die Gelegenheit, an der Gruppenarbeit vor Ort teilzunehmen, als ein Kamerateam die Fotos dafür aufnahm. Während dieser Tage lernte ich die systemische Aufstellungsarbeit am Mutteratem, ihre Hintergründe und die speziellen Übungen zur Loslösung kennen. Bereits in der kurzen Zeit erlebte ich ihre befreiende Wirkung. Mit Dankbarkeit und großer Begeisterung erarbeitete ich mir als erwachsener Mensch die Loslösungsschritte vom Leihatem meiner Mutter. Damals schon empfand ich dies als ein unsagbar heilsames therapeutisches Instrument, mit dem ich in meinem eigenen Leben Grundlegendes zu verändern vermochte. Ich übte daraufhin mit großer Konsequenz weiter und begann jeden Morgen mit den rhythmischen Atemübungen. Gleichzeitig übernahm ich die Arbeit am Mutteratem in mein ganzheitliches Therapiekonzept und begleitete die positiven Auswirkungen bei meinen KlientInnen. Auch Kindern zeigte ich die einfachen Übungen zur Stärkung ihres Eigenatems und überprüfte zu Beginn ihren Atemtyp.
Im Idealfall, wenn eine Familie gemeinsam übt und dies in den Lebensalltag integriert, entsteht dadurch ein kraftvolles positives Feld mit einer intensiven ausstrahlenden Wirkung für die Kinder. Nicht nur wegen dem Vorbild der Erwachsenen, sondern hauptsächlich durch die Veränderung, welche das Üben der Eltern bewirkt und automatisch auch auf das jeweilige Kind übergeht.
Positive Gefühle der Mutter wirken sich weitend auf den Brust- und Flankenatem des Kindes aus.
Beängstigende, schmerzvolle und deprimierende Zustände bei der Mutter bewirken eine Hemmung im Bereich des Brust- und Flankenatems.
5.1 Loslösungsphasen vom Leihatem der Mutter
Ich glaube, ich muss loslassen.
Ich brauche keine Angst zu haben und darf ruhig werden, damit meine Kinder den Klang der Schöpfung hören und nach ihrem eigenen Rhythmus tanzen können.
Russell Hoban
Mit der sogenannten Abnabelung ist die Loslösung vom mütterlichen Leihatem verbunden. Begegnet eine Mutter den Ablösungsphasen ihres Kindes mit dem Bewusstsein um größere Vorgänge und Zusammenhänge, unterstützt sie ganz wesentlich sein Vorankommen in der Welt.
Beim Durchtrennen der Nabelschnur erfolgt der erste Schritt des Sich-Lösens. Das Kind beginnt selbständig zu atmen und vollzieht damit seine erste physische selbständige Tat. Sein Atemsystem wird in diesem Moment wirksam: Es atmet sich in das Leben hinein und inkarniert. Weil der Atemvorgang noch trainiert werden muss, beginnt die Atemtätigkeit mit einer sehr hohen Frequenz, die sich von der Atemfrequenz des Mutteratems während der Schwangerschaft vollkommen unterscheidet. Mit zunehmendem Alter des Kindes verändert sich die Frequenz seiner Atmung und verlangsamt sich. Denn je mehr das Kind sein Gefühl erlangt, in Sicherheit leben zu können, beginnt sich auch die Atemfrequenz zu beruhigen.
Aus diesem Seinszustand heraus können seine natürlichen Entwicklungsschritte, gebunden an die Loslösung vom Mutteratem, erfolgen. Indem das Kind sich aus dem Atembewusstsein der Mutter löst, macht es die ersten Schritte in Richtung zu sich selbst. In zukünftigen Entwicklungsphasen werden Atmung und Bewusstsein dann immer mehr als Einheit sichtbar.
5.2 In fünf Schritten
Natürliche Entwicklungsphasen nach der Geburt haben den Sinn, dass ein Kind sich Schritt für Schritt aus dem Mutteratem löst, um immer mehr in den eigenen Atem zu kommen und sein eigenes Bewusstsein auszubilden. Die fünf natürlichen Schritte stellen demnach Loslösungsschritte und Bewusstseinsstufen dar. Sie ermöglichen es dem Kind, seinen Eigenatem zu stärken und dadurch immer mehr vom Atem-Bewusstsein der Mutter loszulassen. Der Eigensinn und sein Bedürfnis, etwas alleine auszuprobieren, sind Ausdruck seines eigenen Bewusstseins. Gemäß diesem verändert sich auch sein Atem.
Mit dem „Nein“ stärkt es zugleich seine Ich- und auch Immunkraft und erlangt dadurch die Fähigkeit, zwischen Selbst und Fremd zu unterscheiden. Bei einem reibungslosen Verlauf dieser naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten in seiner seelischen, geistigen und körperlichen Entwicklung löst sich das Kind dementsprechend leicht vom Atem-Bewusstseinsmuster der Mutter und damit aus einer engen, untrennbar scheinenden Bindung. Dieserart übernimmt es nach und nach mehr an Selbstverantwortung. Die Kraft für den bedeutungsvollen Entwicklungsprozess kommt aus ihm selbst und stellt sich in fünf natürlichen Schritten dar:
- Geburt: Mit dem Durchtrennen der Nabelschnur und dem selbständigen Atmen des Neugeborenen erfolgt der erste Schritt zur Loslösung vom Mutteratem.
- Nein-Phase des Kleinkindes: Mit seinem „Nein“ löst sich das Kind nicht nur ein Stück mehr vom mütterlichen Leihatem, sondern zieht erstmalig die notwendige Grenze zwischen ICH und DU, ICH und WIR, die es zum Aufbau eines intakten Immunsystems benötigt.
- Kindergarten- und Schuleintritt: Mit fünf bis sieben Jahren erfolgt durch die Trennung von der Mutter der nächste Schritt in Richtung Eigenständigkeit.
- Pubertät: Hier findet der Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt statt und bedeutet einen weiteren wichtigen Schritt in den eigenen Atem.
- Erlangung der Volljährigkeit: Diese bildet den Abschluss vom Loslösungsprozess, sodass der mütterliche Leihatem danach nicht mehr notwendig ist. Vorausgesetzt ein starker stabiler Eigenatem (Bewusstsein) wurde bis dahin entwickelt.
5.3 Hindernisse im Loslösungsprozess
Folgende Ursachen können Hindernisse bei der Loslösung bilden und das Kind in der Entwicklung seiner Atemkraft hemmen:
- Ein ungelöster Konflikt zwischen Mutter und Kind.
- Abneigung des Kindes gegen seine Mutter.
- Ein gestörtes Vater-Mutter-Kind-Verhältnis.
- Weil das Kind ungelegen, nicht...