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E-Book

Jeanne d´Arc

Das Leben einer Legende

AutorMalte Prietzel
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783451338519
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Die Frage, wer Jeanne d'Arc eigentlich ist, beschäftigte die Menschen schon zu ihren Lebzeiten. Ihr ungewöhnliches Leben, ihre Verdammung und Hinrichtung durch die Inquisition, ihre spätere Rehabilitierung und ihr Aufstieg zur französischen Nationalheiligen ließen zahlreiche Gerüchte, Halbwahrheiten und Mythen entstehen. Malte Prietzel nennt die unbestreitbaren Fakten, erzählt von den Diskussionen der Zeitgenossen um Johanna von Orleans und von ihrem bis heute andauernden Nachleben. Malte Prietzels Buch bietet, was eine Biografie lesenswert macht: nicht nur einen Überblick über das Leben der heilgen Jungfrau, sondern tiefe Einblicke in ihre Zeit.

Malte Prietzel, geb. 1964, Professor am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin; zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des Spätmittelalters

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Leseprobe

Die Stimmen


Jeanne hatte Visionen. Diese Erlebnisse müssen sie umso mehr beeindruckt haben, als sie mehrere Jahre lang niemandem etwas davon erzählte, nicht einmal ihrem Pfarrer, der ihr geistlichen Beistand hätte leisten können.

Während des Prozesses gegen sie gab Jeanne 1431 an, dass sie ihre erste Vision im Garten des Elternhauses erlebte, und zwar zur Mittagszeit an einem Sommertag. Einmal sagte sie, das sei vor fast sieben Jahren geschehen, ein anderes Mal, sie sei damals dreizehn Jahre alt gewesen.16 Beide Angaben lassen sich nicht in Übereinstimmung bringen, da sie nach ihrer eigenen Auskunft beim Prozess ungefähr 19 Jahre alt war. Je nachdem, welche der drei Angaben man als falsch betrachtet, verweisen die beiden anderen auf die Jahre 1423, 1424 oder 1425.

Alle weiteren Details zu Jeannes Visionen sind schwierig zu bewerten, denn fast alle Angaben, vor allem die detailreicheren Schilderungen, stammen aus ihren Aussagen während des Ketzerprozesses. Dort musste sie jedoch bestrebt sein, diese Ereignisse so darzustellen, dass sie nicht verfänglich erschienen. Außerdem erwecken ihre Aussagen mitunter den Eindruck, dass sie erst jetzt, als sie gezwungen war, darüber ausführlich zu reden, das Erlebte ordnete und systematisierte, und dies obendrein unter der Vorgabe, dass sie ihren Feinden keine Angriffsfläche bieten durfte. Wieweit sie das Erlebte und Erinnerte umdeutete, womöglich bewusst verfälschte, lässt sich nicht entscheiden. Sicher ist aber, dass das, was Jeanne über die Visionen erzählte, nur höchst unvollkommen die Wucht wiedergab, mit der sie diese Erlebnisse trafen.

Das Wesentliche an ihren Visionen war das akustische Element. Jeanne sagte aus, sie höre Stimmen, die zu ihr sprächen. Dabei herrsche eine „große Helle“. Die Heiligen seien ihr auch körperlich erschienen; sie habe sie ebenso deutlich gesehen, wie sie bei ihrer Aussage ihre Richter sehe.17

Wie oft sie diese Erlebnisse hatte, ist ungewiss. Zunächst forderten die Stimmen Jeanne nur auf, sich gut zu betragen und oft zur Kirche zu gehen. Dann mahnten sie, Jeanne solle ihre Jungfräulichkeit bewahren, und sie gelobte das zu tun.18 Erst viel später befahlen sie ihr, zum König zu reisen und ihn zur Königsweihe nach Reims zu führen.

Jeanne identifizierte diese Stimmen als diejenigen der heiligen Katharina, der heiligen Margarete sowie des Erzengels Michael.19 Es liegt nahe zu fragen, warum unter den unzähligen Heiligen der katholischen Kirche gerade diese Drei zu Jeanne sprachen oder warum sie gerade diese drei Namen angab und auch ihre Richter hakten an dieser Stelle nach. Sie konzentrierten sich auf die Erwähnung des Erzengels Michael, da dieser in den letzten Jahren zum Schutzheiligen des Valois-Königtums avanciert war. Bei der wichtigsten Kirche in Frankreich, die Michael geweiht war, handelte es sich um den Mont-Saint-Michel, eine felsige Insel an der Küste der Normandie, die unmittelbar an der Grenze zur Bretagne lag. Auf ihr befand sich ein Kloster, das schon seit langem ein bedeutendes Wallfahrtsziel darstellte. In den 1420er-Jahren wurde die Insel und mit ihr der Heilige, den man dort verehrte, zu einem Symbol des Widerstands gegen die Engländer, denn die Insel war die letzte Festung der Normandie, die sich noch gegen die Engländer hielt. Zwei Mal hatten sie versucht, die Insel zu belagern und einzunehmen, beide Male waren sie gescheitert. Daher hatte es besonderes Gewicht, wenn Jeanne nicht nur die Engländer aus Frankreich vertreiben wollte, sondern sich dabei zudem auf den Erzengel Michael berief.

Die Richter interessierten sich kaum für die beiden Heiligen Margarete und Katharina, weil sie politisch nicht verfänglich waren. Außerdem wurden sie an sehr vielen Orten verehrt und auch in der Kirche von Domrémy standen Figuren dieser beiden Heiligen.

Für heutige Forscher liegt es nahe, die Nennung dieser beiden Heiligen psychologisch zu interpretieren und auf auffallende Parallelen zwischen ihnen und Jeanne zu verweisen. Sowohl Margarete als auch Katharina waren Jungfrauen und starben, weil sie ihre Jungfräulichkeit gegen die Begierden eines Mannes verteidigten. Margarete galt zudem, wenn nicht als Bauerntochter, so doch als Hirtin.

Auch bei dem Versuch, Jeannes Visionen insgesamt zu erklären, griff man mitunter auf psychologische sowie medizinische Erklärungen zurück. Gemutmaßt wurde beispielsweise, Jeanne habe eine seltene Missbildung aufgewiesen, die testikuläre Feminisierung, das heißt, sie sei genetisch ein Mann gewesen, doch hätten sich ihre äußeren Geschlechtsmerkmale nicht entwickelt; auch hätte sie keine Vagina gehabt.20 Das ist jedoch ausgeschlossen, weil Jeanne zwei Mal ärztlich untersucht wurde und dabei nichts Ungewöhnliches festgestellt wurde. Auch vermutete man, Jeanne habe an Pubertätsmagersucht gelitten, womit häufig eine Neigung zu Schizophrenie einhergehe, wodurch sich ihre Visionen erklären ließen.21 Diese These lässt sich durch die Quellen nicht zweifelsfrei beweisen, sie erscheint allerdings auch nicht von vornherein unplausibel.

Diese und andere neuzeitliche Versuche, Jeannes Visionen durch den Rückgriff auf medizinische und psychologische Kenntnisse zu erklären, sind nachvollziehbar. Doch selbst wenn wir genau wüssten, wer oder was Jeannes Visionen wirklich verursachte, würde dies nicht erklären, wodurch sie eine so große Wirkung auf ihre Zeitgenossen ausübte. Dies lässt sich nur verstehen, wenn man betrachtet, welche Vorstellungen die Menschen im 15. Jahrhundert von Visionen und Prophezeiungen hatten.

Dass Gott einzelne Menschen auserwählte, selbst oder durch Heilige zu ihnen sprach, ihnen Aufträge gab und ihnen Einblick in zukünftige Geschehnisse gewährte, all das war für Jeannes Zeitgenossen selbstverständlich. Sie glaubten nicht nur daran, das heißt, sie hielten es nicht einfach für wahr, ohne es im strengen Sinn beweisen zu können, sondern sie wussten es. Aus ihrer Sicht gab es genug Beweise. Die Bibel berichtete von solchen Menschen, zum Beispiel den alttestamentlichen Propheten. Viele Heilige hatten Visionen oder sahen Zukünftiges voraus und ihre Lebensbeschreibungen schilderten es. Manche Menschen konnten selbst von ähnlichen Fällen erzählen, denn solche Geschehnisse hatte es nicht nur in längst vergangenen Zeiten gegeben, sondern sie kamen immer wieder vor.

Dennoch wusste man, dass in vielen Fällen Misstrauen angebracht war. Einige Menschen waren geisteskrank und behaupteten aufgrund ihrer Krankheit seltsame Dinge. Andere spiegelten in betrügerischer Absicht vor, Visionen zu erleben und Prophezeiungen aussprechen zu können. Noch gefährlicher war, dass nicht nur Gott, sondern auch der Teufel die Macht hatte, Menschen zu seinem Werkzeug zu machen. Über die Erkennung falscher Propheten gab es daher seit 1380 Traktate, unter anderem von zwei hochberühmten Theologen der Universität Paris: Pierre d’Ailly und Jean Gerson.

Anhaltspunkte dafür, woran man eine echte Prophetin erkennen konnte, boten mündlich und schriftlich überlieferte Berichte über Propheten. Verständlicherweise würde Gott nur zu solchen Menschen sprechen, die seine Gebote befolgten und ein vorbildliches Leben führten. Echte Propheten fluchten also nicht, sie waren fromm und bekannten sich zu ihrem Glauben in Wort und Tat, sie waren sexuell allenfalls mit ihrem Ehepartner aktiv oder, besser noch, sie lebten enthaltsam. All das traf auf Jeanne zu.

Sexuelle Enthaltsamkeit und insbesondere Jungfräulichkeit waren aus Sicht der Menschen im Mittelalter eindeutig positiv zu bewerten. Man glaubte, dass Gott den Menschen zwar das sexuelle Begehren eingepflanzt hatte, aber nicht, um ihnen die Möglichkeit zur Empfindung von Genuss zu bieten, sondern als Strafe dafür, dass Eva im Paradies Gottes Gebot missachtet und die Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte. Die Sexualität war dem Menschen also als Teil seiner Natur von Gott gegeben. Auch hatte er gewollt, dass die Menschen fruchtbar sein und sich mehren sollten. Daher durften sexuelle Bedürfnisse grundsätzlich befriedigt werden, aber nur im Rahmen einer Ehe und auch dort nur in Maßen. Besser aber war Enthaltsamkeit. Denn sexuelle Begierde lenkte die Menschen davon ab, sich auf die Sicherung ihres Seelenheils zu konzentrieren. Schlimmer noch: Sie machte sie für die Einflüsterungen des Teufels empfänglich.

So war Jeannes Jungfräulichkeit für sie selbst wie für ihre Anhänger höchst bedeutsam. Geschlechtsverkehr hielt man für eine Beschmutzung des Körpers, die auch die Reinheit der Seele beeinträchtigte. Da sie noch nie Geschlechtsverkehr gehabt hatte, war sie nach Auffassung ihrer Zeitgenossen gegen Versuche des Teufels, Einfluss auf sie zu nehmen, so gut wie nur möglich geschützt und gewissermaßen seelisch und kultisch rein. Ihre Jungfräulichkeit stellte für Jeanne und ihre Zeitgenossen daher ein starkes Indiz für ihre Glaubwürdigkeit als Prophetin dar.

Jeannes Jungfräulichkeit definierte ihre Rolle in der Gesellschaft und ihr Selbstbild. Dies kann gut erklären, warum Jeanne sich in ungewöhnlich hohem Maß um die Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit sorgte. Nachdem sie ihre Heimat verlassen hatte, legte sie Wert darauf, dass in ihrem Zimmer noch eine zweite Frau übernachtete. Wenn sie im Freien schlief, behielt sie ihre Kleider an. Einmal, in der Nacht zum 27. April 1429, schlief sie sogar in ihrer Rüstung.22

Aus Traktaten und Legenden wusste man nicht nur, wie Prophetinnen lebten, sondern auch, was sie üblicherweise taten. Für Jeannes Auftreten war von besonderer Bedeutung, dass seit der Mitte des...

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