Kapitel I

Entstehung, Entfaltung und Auflösung des Egos

Die unerwarteten und schnellen Entwicklungen in der Wissenschaftsphilosophie seit der Mitte der siebziger Jahre machen es möglich, die Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Entstehung und der Entwicklung des menschlichen Gedächtnisses und Bewusstseins stellen, in offener und umfassender Weise zu erörtern. Dazu gehört auch die Frage nach den Schritten, die zur Überwindung der anerkannten Grenzen des persönlichen, egozentrischen Bewusstseins führen. Die jüngsten Erkenntnisse der Wissenschaft und eine wachsende Zahl grundlegender Veröffentlichungen haben dazu beigetragen, die Richtigkeit dessen zu bestätigen, was die indischen, chinesischen und tibetischen Meister des ‘Plötzlichen Weges’1 über das Trugbild des Egos und seine Entstehung, Entfaltung und Auflösung gelehrt haben.

Unter ‘Trugbild’ ist hier als eine Art von Fata Morgana zu verstehen, d. h. eine optische Täuschung, die durch die Brechung von Lichtstrahlen in der Atmosphäre hervorgerufen wird und dem Betrachter ein ebenso verführerisches wie täuschendes Bild vorgaukelt. Der Ausdruck ‘Trugbild’ wird hier in der Absicht gebraucht, einen Schock auszulösen, geht es doch darum, die Überzeugungen zu erschüttern, denen der größte Teil der Menschheit in seinem Verständnis der absoluten Realität der materiellen Welt und des eigenen egozentrischen Bewusstseins anhängt.

Das Wort ‘Trugbild’ bezeichnet in diesem Zusammenhang keine totale Illusion, denn die materielle Welt ist keine absolute Täuschung. Aber wie schon die alten Meister der ‘Rechten Schau’ lehrten und die Physiker heutzutage bewiesen haben, kommt dieser materiellen Welt mit ihren vielfältigen Formen und Eigenschaften im Hinblick auf die zeitlose und grundlegende Eine Realität nur ein sekundärer und abgeleiteter Rang zu.

Wenn unsere Hand einen Stift ergreift, dann sind Hand und Stift in ihrer gegenseitigen Bezogenheit durchaus solide und wirklich. Aber jenseits von Hand und Stift – zugleich darüber hinausgehend und in ihrem allertiefsten Inneren – existiert die wesentliche Eine Realität; und im Vergleich dazu können unsere Hand und der Stift nur eine Wirklichkeit von zweitrangiger Art beanspruchen. Wenn wir zum Beispiel aus Unaufmerksamkeit mit dem Kopf gegen eine Tür oder eine Wand stoßen, wird uns schmerzlich bewusst, dass sie in ihrer Bezogenheit aufeinander durchaus wirklich und solide sind. Aber vor dem Hintergrund der tiefen Wirklichkeit der Einen und letzten Essenz alles Seienden sind sie nur als nachgeordnete Phänomene zu betrachten.

So sagte der berühmte japanische Gelehrte D. T. Suzuki im Jahre 1958 bei einer Gesprächsrunde in Brüssel, dass die trügerische Natur der Dinge – in der indischen Philosophie als ‘maya’ bezeichnet – ihren Ursprung im menschlichen Geist habe. Die materielle Welt ist zwar keine absolute Illusion, doch neigt der Mensch in seiner Unwissenheit dazu, sich illusorische Vorstellungen von dieser Welt zu machen.

Diese illusorischen Vorstellungen formen das Trugbild.

Aber zu diesem Thema lässt sich noch mehr sagen. Eine bedeutende Zahl von Wissenschaftlern – die Mehrzahl unter ihnen Physiker von Weltruf, wie diejenigen aus dem ‘Institut für Grundlagenforschung’ der ‘Gruppe von Princeton’ – vertreten die Ansicht, dass die festen Körper und die ‘Materie’ trotz ihrer scheinbaren Festigkeit und Realität nichts weiter als Epiphänomene, also Rand- und Begleiterscheinungen der Einen Wirklichkeit des Geistes sind und dass die Ganzheit der materiellen Welt bloß ein Scheingebilde darstellt, das durch ein komplexes Wechselspiel von außerordentlich schnellen und vielfältigen Überlagerungen immaterieller Wellen sowie von ihren unzähligen gegenseitigen Interferenzen erzeugt wird.

Wenn wir weiterhin bedenken, dass alle Wahrnehmungsphänomene sowohl in physischer als auch in psychologischer Hinsicht vom Beobachtungsmaßstab und der offensichtlich privilegierten Situation des Beobachters abhängen, liegt es nahe, von ‘Trugbild’ zu sprechen – in Ermangelung eines zutreffenderen Ausdrucks für eine Vorstellung, die auf halbem Wege zwischen der absoluten Wirklichkeit und der absoluten Täuschung angesiedelt ist.

Die Beziehung zwischen dem ‘Trugbild des Egos’ und der grundlegenden Einen Realität der Dinge und der Wesen lässt sich anhand von konkreten Beispielen gut erläutern:

Betrachten wir zum Beispiel den lebendigen Körper des Menschen und seine Kleider. Die fundamentale Eine Wirklichkeit ist der Körper, und die Gesamtmenge der Erinnerungen, aus deren Schoß das Missverständnis des Egos geboren wird, bildet die Kleidung. Tragisch für den Menschen wird es dann, wenn die äußere Hülle sich selbst für den Körper hält; und das Trugbild wird dort total, wo das Kleid, d. h. die Gesamtheit der angehäuften Erinnerungen, sich als Ego, Subjekt oder Wesenheit begreift und sich als Realität von apriorischer, fundamentaler Natur betrachtet.

Ein anderes Beispiel liefert uns die Schnecke. Das schützende Schneckenhaus ist nur ihr ‘Kleid’, auch wenn sie es selbst von innen her gebaut hat. Ebenso fabriziert der Mensch von innen her sein ‘Kleid’ – den dicken Panzer ihn schützender Erinnerungen. Es wäre ein tragischer Irrtum, ein wahres Trugbild, wenn sich die Schutzhülle der Schnecke für den Körper hielte! In diesem Fall könnte man durchaus von widerrechtlicher Anmaßung sprechen.

Alle wahren Meister des Erwachens sind übereinstimmend zu der Einsicht gelangt, dass es im Universum nur ein einziges SUBJEKT gibt, das man großschreiben dürfte: die fundamentale Eine Realität, den ‘kosmischen Leib’ – und die Egos bilden nur sein vorläufiges, flüchtiges Gewand. Wenn das Trugbild des Egos in stolzer Gewissheit das ‘Ich’ zum einzigen Subjekt erklärt, macht es sich wirklich des Betrugs und der Anmaßung schuldig. Dann hätten wir es mit einem absoluten Trugbild zu tun, aber nicht was die Tatsachen, sondern was ihre irrige Interpretation durch den unwissenden und konditionierten menschlichen Verstand angeht. Die gewöhnlichen Sterblichen messen diesem Irrtum nur geringe Bedeutung bei; ja sie ahnen nicht einmal, dass er existiert, denn das ist ihre geringste Sorge. Aus diesem Interpretationsfehler ergeben sich indessen unkalkulierbare Konsequenzen, und er ist auch die Wurzel allen menschlichen Leidens.

Um die Vorgänge bei der Bildung und Evolution des menschlichen Bewusstseins besser zu verstehen, ist es nützlich, wenn nicht gar unerlässlich, ein knappes Bild von der Entstehungsgeschichte eines Universums zu entwerfen, das den Rahmen für die Entfaltung dieses Bewusstseins abgegeben hat. Diese Geschichte lässt sich in vier Phasen einteilen, die im Folgenden zusammengefasst werden sollen.

Erste Phase: Bildung eines Universums in fließender Bewegung

Die Morgendämmerung unseres Universums begann in einer ungeheuer fernen Epoche, die nach den Schätzungen der Fachgelehrten rund sieben bis acht Milliarden Jahre zurückliegen dürfte. Das Universum bestand damals nur aus einer gewaltigen Masse von kosmischem Gas, das sich aus ionisierten Atomen mit Wasserstoff als vorherrschendem Element zusammensetzte. In dieser Anfangsphase des Kosmos befand sich alles in ungeheuer rasanter Bewegung, in der nichts Festes zu finden war. Der einzige Ansatz zur Fixierung, der sich zaghaft anzudeuten begann, zeigte sich in den Kreisbahnen der Elektronen um die Atomkerne. Doch war dieser Vorgang noch selten, weil die meisten Atome noch keine Elektronenhülle besaßen.

Wenn in diesem Zusammenhang von Tendenzen zu einer gewissen Fixierung die Rede ist, sollte man sich möglichst genau ausdrücken: Natürlich befinden sich die Elektronen ebenso wie die Bestandteile des Atomkerns in äußerst intensiver Bewegung. Die ersten Anzeichen einer Fixierung sind darin zu sehen, dass in Intensität und Rhythmus der Elektronenbewegung eine Art von Regelmäßigkeit erscheint. Denn Verfestigung und Fixierung sind kaum möglich, ohne dass bestimmte Vorgänge regelmäßig ablaufen und sich wiederholen.

In jener ungeheuer fernen Zeit zeigt sich also bei den verschiedenen Formen der Urenergie eine Tendenz zu wachsender Komplexität. Diese wachsende Komplexität ermöglichte in der Folge die Entstehung von mehr oder weniger festen Stützpunkten, um die sich dann Informationen sammeln konnten – ein Vorgang, der alle späteren Entwicklungen einleitete. So vertreten heute viele Wissenschaftler ebenso wie vordem Krishnamurti die Auffassung, dass der ganze Evolutionsprozess auf die Schaffung von Fixpunkten abzielt. Diese entwickeln sich dann zu Stützpunkten von abnehmender Instabilität und können auf diese Weise eine gewisse Kontinuität sichern.

Zweite Phase: Bildung stabiler Fixpunkte als Träger für Erinnerungen und Zeitenergien

Aufgrund der chemischen Affinitätsgesetze führt die wachsende Komplexität der ersten Atome zur Bildung von Molekülen, die dann in der Folge immer kompliziertere Strukturen bilden. Auf dieser Stufe ereignet sich sowohl die Geburt des Gedächtnisses als auch seine Fixierung. Die Befestigung von Erinnerungen an großen Molekülen leitet einen Prozess ein, bei dem sich im Laufe der Zeit immer mehr Erinnerungen ansammeln.

So zeigten sich die ersten Anfänge des Gedächtnisses bereits in der Anfangsphase unseres Universums, als dieses nichts weiter als ein riesiger kosmischer Gasnebel war. Denn wie Stéphane Lupasco2 nachgewiesen hat, wirkte von Anfang an der ‘prinzipielle Antagonismus der Energie’, ohne den sich keinerlei Energieform, Bewegung oder Leben manifestieren könnte. Zu jedem energetischen Vorgang gehören nämlich zwei Aspekte,...