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Jesus war kein Europäer

Die Kultur des Nahen Ostens und die Lebenswelt der Evangelien

AutorKenneth E. Bailey
VerlagSCM R.Brockhaus im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl528 Seiten
ISBN9783417228694
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Jesus war kein Europäer, sondern lebte in einer Kultur, die uns fremd ist. Dieses faszinierende, leicht verständliche Sachbuch liefert Einblicke in die Denkwelt Jesu und des Neuen Testaments. Durch die Beschreibung des kulturellen Umfelds, in dem Jesus gelebt und gewirkt hat, bekommt man ein tieferes Verständnis seiner Aussagen. Der Autor Kenneth E. Bailey hat Jahrzehnte lang im Nahen Osten gelebt und gelehrt. Für seine Analysen zieht er noch weitere arabisch-christliche Bibelausleger des Mittelalters heran. So erfährt man zum Beispiel, warum Jesus in der Krippe, aber nicht im Stall geboren wurde, oder warum er in den Staub schrieb, als die Ehebrecherin vor ihm stand. Eine wertvolle Neu-Interpretation vieler biblischer Texte.

Kenneth E. Bailey ist Dozent und Autor mit dem Schwerpunkt Neues Testament und Kultur des Nahen Ostens. 40 Jahre lang hat er in Ägypten, Jerusalem, im Libanon und auf Zypern unterrichtet. In Beirut war er zwanzig Jahre lang Professor für Neues Testament. Bailey lebt in Pennsylvania, USA.

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Leseprobe

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1


Die Geschichte der Geburt Jesu


LUKAS 2,1-20


Die überlieferten Ereignisse der Weihnachtsgeschichte sind allen Christen hinlänglich bekannt. Zur Geburt Jesu gehören drei weise Männer mit Geschenken, Hirten auf dem Feld mitten im Winter, ein Baby, das in einem Stall geboren wird, und „kein Raum in der Herberge“. Diese Aspekte des Berichts sind in den Köpfen der Menschen fest verankert. Deswegen stellt sich die Frage, ob man zwischen dem Text und seinem traditionellen Verständnis eine kritische Unterscheidung vornehmen muss. Haben wir über Jahrhunderte hinweg etwas in den Text hineingelesen, das er eigentlich gar nicht enthält?21

Ein Diamantring wird bewundert und voller Stolz getragen, doch irgendwann sollte man ihn zum Reinigen zu einem Juwelier bringen, damit er wieder seine ursprüngliche Leuchtkraft erhält. Je öfter der Ring getragen wird, umso eher sollte er hin und wieder gereinigt werden. Je vertrauter wir mit einer biblischen Geschichte sind, umso schwieriger ist es, sie anders zu lesen, als sie schon immer verstanden wurde. Und je länger die Ungenauigkeit in der Überlieferung unkorrigiert bleibt, umso tiefer wird sie im christlichen Bewusstsein verankert. Jesu Geburt ist eine solche Geschichte.

Das traditionelle Verständnis des Berichts in Lukas 2,1-18 enthält mehrere entscheidende Schwächen:

1. Josef kehrte in den Ort zurück, aus dem er stammte. Im Nahen Osten besitzen die Menschen ein ausgeprägtes Gedächtnis für Geschichte. Für sie hat die Verwandtschaft und deren Verwurzelung in ihrem Herkunftsort eine große Bedeutung. In einer solchen Welt hätte ein Mann wie Josef in Bethlehem auftauchen können und sich den Einwohnern als „Josef, [Sohn] des Eli, des Mattat, des Levi“ (Lk 3,23 f) vorstellen können – und die meisten Häuser des Ortes hätten ihm offen gestanden.

2. Josef war ein „Adliger“, das heißt, er stammte aus der Familie des Königs David. Die Familie Davids war so berühmt in Bethlehem, dass die Einheimischen den Ort offenbar „Stadt Davids“ nannten, eine Gepflogenheit, der man oft begegnet. Der offizielle Name des Ortes war Bethlehem. Jeder wusste, dass die hebräischen Heiligen Schriften Jerusalem als die „Stadt Davids“ bezeichneten. Doch so bezeichneten in der Umgegend offenbar viele Menschen auch Bethlehem (Lk 2,4). Da Josef aus dieser berühmten Familie stammte, wäre er überall im Ort willkommen gewesen.

3. In jeder Kultur wird eine Frau, die kurz vor der Niederkunft steht, besonders umsorgt. Einfache ländliche Gemeinschaften überall auf der Welt helfen ihren eigenen Frauen bei der Geburt, ungeachtet der Umstände. Sollte Bethlehem eine Ausnahme gewesen sein? Hatten die Menschen in Bethlehem kein Ehrgefühl? Sicher hätte die Gemeinschaft die Verantwortung verspürt, Josef bei der Suche einer angemessenen Unterkunft für Maria zu helfen und ihr die Fürsorge zukommen zu lassen, die sie brauchte. Einen Nachkommen Davids in der „Stadt Davids“ abzuweisen, hätte unsägliche Schande über den ganzen Ort gebracht.

4. Maria hatte Verwandtschaft in einem nahe gelegenen Dorf. Einige Monate vor Jesu Geburt hatte Maria ihre Cousine Elisabeth im „Gebirge von Judäa“ besucht und wurde von ihr willkommen geheißen. Bethlehem lag im Zentrum von Judäa. Als Maria und Josef in Bethlehem eintrafen, waren sie also nicht weit von dort entfernt, wo Zacharias und Elisabeth wohnten. Wenn Josef tatsächlich keine Unterkunft in Bethlehem gefunden hätte, wäre er natürlich zu Zacharias und Elisabeth gegangen. Doch hatte er Zeit für diese wenigen zusätzlichen Kilometer?

5. Josef besaß genug Zeit, angemessene Vorkehrungen zu treffen. In Lukas 2,4 heißt es, Josef und Maria „gingen von Galiläa, aus der Stadt Nazareth, hinauf nach Judäa“, und in Vers 6, „als sie dort waren, wurden ihre Tage erfüllt, dass sie gebären sollte“ (Hervorhebung von mir).22 Die meisten Christen denken, dass Jesus in der gleichen Nacht geboren wurde, in der die Familie in Bethlehem eintraf – daher auch Josefs Eile und Bereitschaft, jede Unterkunft zu akzeptieren, selbst einen Stall. Traditionelle Krippenspiele zementieren diesen Gedanken jedes Jahr.

Im Text wird die Zeit, die das Paar vor der Geburt in Bethlehem verbrachte, nicht genau angegeben. Doch sicher reichte sie aus, um eine angemessene Unterkunft zu finden oder Marias Familie aufzusuchen. Der Mythos einer Ankunft mitten in der Nacht mit der unmittelbar bevorstehenden Geburt ist so tief im christlichen Gedankengut verwurzelt, dass es wichtig ist, nach seinem Ursprung zu fragen. Woher stammt diese Idee?

Ein christlicher Roman


Die Quelle dieser Fehlinterpretation stammt aus einer Zeit etwa zweihundert Jahre nach der Geburt Jesu, als ein anonymer Christ eine ausgeschmückte Erzählung über das große Ereignis schrieb. Dieses sogenannte Protevangelium des Jakobus23 ist erhalten geblieben. Der aus dem Neuen Testament bekannte Jakobus hatte damit nichts zu tun. Der Autor war auch kein Jude und hatte keine Ahnung von der Geografie Palästinas und von jüdischen Traditionen.24 In dieser Zeit schrieben viele Menschen Bücher, für die sie berühmte Personen als Autor angaben.

Dieser besondere „Roman“ enthält zahlreiche fantasievolle Details. Hieronymus, der berühmte lateinische Gelehrte, kritisierte das Werk, ebenso viele Päpste.25 Es wurde ursprünglich auf Griechisch verfasst und ins Lateinische, Syrische, Armenische, Georgische, Äthiopische, Koptische und Altslawische übersetzt. Zwar hatte der Verfasser eindeutig die Evangelienberichte gelesen, kannte jedoch, wie erwähnt, die Geografie des Heiligen Landes nicht. Zum Beispiel beschreibt der Autor in seinem Roman die Straße zwischen Jerusalem und Bethlehem als Wüste. Allerdings liegt sie nicht in einer Wüste, sondern ist von fruchtbarem Ackerland umgeben.26

In dem Roman sagt Maria kurz vor Bethlehem zu Josef: „Joseph, hebe mich vom Esel herunter, denn das (Kind) in mir bedrängt mich und will herauskommen.“27 Daraufhin lässt Josef Maria in einer Höhle zurück und eilt nach Bethlehem, um eine Hebamme zu suchen. Nachdem er auf dem Weg sonderbare Visionen empfangen hat, kehrt Josef mit der Hebamme (das Kind ist übrigens inzwischen geboren) zur Höhle zurück, die zuerst von einer dunklen Wolke und dann von einem hellen Licht umgeben ist. Eine Frau namens Salome taucht aus dem Nichts auf und die Hebamme erklärt ihr, eine Jungfrau habe ein Kind zur Welt gebracht, ohne ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Als Salome an diesem Wunder zweifelt, wird ihre Hand von Aussatz befallen. Eine Untersuchung bestätigt Marias Behauptung. Dann steht plötzlich ein Engel vor Salome und sagt ihr, sie solle das Kind berühren. Als diese der Aufforderung nachkommt, wird ihre kranke Hand geheilt …

Auf diese Weise spinnt der Roman seine Geschichte fort. Autoren, die beliebte Romane schreiben, haben meistens eine blühende Fantasie. Dass Jesus geboren wurde, noch bevor seine Eltern Bethlehem erreichen, bildete einen wichtigen Teil der Handlung. Die Vorstellung, dass Jesus in der Nacht geboren wurde, als Maria und Josef nach oder in die Nähe Bethlehems gelangten, begegnet uns in diesem Roman zum ersten Mal. Die meisten Christen sind, selbst wenn sie noch nie von diesem Roman gehört haben, dennoch von seinen Vorstellungen beeinflusst.28 Der Roman ist eine fantasievolle Ausschmückung des Evangelienberichts, unterscheidet sich jedoch von diesem.

Die Probleme in der traditionellen Interpretation von Lukas 2,1-7 kann man wie folgt zusammenfassen: Josef kehrte in seinen Heimatort zurück, wo er leicht eine Unterkunft gefunden hätte. Als Nachkomme König Davids hätten ihm fast alle Türen offen gestanden. Ferner hatte Maria Verwandte in der Nähe, die sie hätte aufsuchen können. Die Zeit hätte ausgereicht, eine angemessene Unterkunft zu organisieren. Warum hätte eine jüdische Stadt einer jungen jüdischen Mutter, die kurz vor der Niederkunft stand, nicht helfen sollen? – Wie sollen wir also im Licht dieser kulturellen Realitäten den Text verstehen? Diese Frage führt uns zu zwei weiteren: Wo stand die Futterkrippe? Was war die „Herberge“?

Verschiedene Beobachtungen verhelfen hier zu einer Antwort. Zunächst stellen wir fest, dass der Bericht im Lukasevangelium tatsächlich der Geografie und Geschichte des Heiligen Landes entspricht. Der Text berichtet, dass Maria und Josef von Nazareth nach Bethlehem „hinaufgingen“. Bethlehem ist auf einem Gebirgskamm erbaut und liegt wesentlich höher als Nazareth.29 Zweitens war die Bezeichnung „Stadt Davids“ wohl eher in der Gegend dort gebräuchlich, sodass Lukas für die nicht ortskundigen Leser den Zusatz „die Bethlehem heißt“ hinzufügt. Drittens informiert der Text den Leser darüber, dass Josef „aus dem Haus und Geschlecht Davids“ stammte. Im Nahen Osten ist „das Haus von XYZ“ gleichbedeutend mit „die Familie von XYZ“. Griechische Leser dieses Berichts hätten sich bei dieser Formulierung vielleicht ein Gebäude vorgestellt. Möglicherweise setzte Lukas den Begriff Geschlecht hinzu, um ganz sicherzugehen, dass seine Leser ihn verstanden. Er veränderte den offenbar schon ausgebildeten Text nicht, als er ihn erhielt (Lk 1,2). Doch besaß er die Freiheit, einige erläuternde Anmerkungen einzufügen. Viertens erwähnt Lukas, das Kind sei in Windeln gewickelt gewesen. Dieser alte Brauch wird schon in Hesekiel 16,4 erwähnt und wird von der ländlichen Bevölkerung Syriens und Palästinas immer noch praktiziert. Und schließlich...

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