Seit nunmehr fast 40 Jahren ist der verbundene Atem wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit – ähnlich wie die Psychosomatik von „Krankheit als Symbol“, Fasten, die „Peace Food“-Ernährung, die „Schicksalsgesetze“ und die Zen-Meditation. Von keiner Übung und keinem Exerzitium habe ich aber auch nur annähernd so viele positive Rückmeldungen erhalten wie vom verbundenen Atem. Dabei ist das Vorgehen so denkbar einfach – als einzigen Nachteil könnte man erachten, dass er anfangs nicht allein, sondern bevorzugt mit Betreuung zu erleben ist.
Der Atemvorgang spiegelt sich schon im Namen: Ein- und Ausatem verbinden sich zu einem ruhigen, gleichmäßigen Atemfluss, fließen also ohne Pause ineinander. Das Geheimnis dabei ist, ganz bewusst bei diesem Atem(fluss) zu bleiben, wo immer er auch hinführen mag. Insofern ähnelt das Wesen des verbundenen Atems dem der Zazen- und Vipassana-Meditation, bei denen es ebenfalls vor allem darum geht, den Atem bewusst zu beobachten und zu zählen. Man sitzt – bevorzugt im Meditationssitz auf dem Boden – und zählt die Atemzüge bis zehn, um anschließend wieder von vorn zu beginnen … Ein Unterschied: Bei der Zazen- und Vipassana-Meditation wird der Atem nicht verbunden. Er wird überhaupt nicht verändert, sondern soll möglichst natürlich erfolgen. Dies ist allerdings auch schon eine Herausforderung – jedenfalls für viele westliche Menschen, die gerne mit ihrer Macher-Mentalität dazu neigen, alles Beobachtete auch gleich zu verändern und zu beeinflussen.
Zazen- und Vipassana-Meditation
Sowohl Zazen als auch Vipassana sind seit Jahrhunderten, vermutlich sogar noch länger, bewährte Methoden der Atemmeditation. Ersterer kommt aus dem Zen-Buddhismus, Letztere aus der vedischen Tradition Indiens.
Meditieren auf den Atem mit offenen Augen (Zazen) fördert eher die Wachheit, das mit geschlossenen Augen (Vipassana) eher das Träumen und das Entwickeln von Visionen. Zen-Meditierende lassen sich daher kaum bei der Meditation irritieren, während Vipassana-Meditierende aufschrecken, wenn sie gestört werden. Persönlich habe ich mit beiden Atemmeditationen Erfahrung. Zazen mache ich seit über 40 Jahren, im Frühjahr und Herbst gebe ich jeweils neuntägige Fasten-Schweigen-Meditieren-Seminare im Sinne dieser Tradition. Dafür ist TamanGa (wie) gemacht: Es liegt ruhig inmitten der Natur, hat einen schönen Meditationssaal und auch ringsum im Freien finden sich weitere Meditationsplätze. Vipassana-Meditationskurse dagegen sind in TamanGa eher schwierig, weil Männer und Frauen dabei nicht nur getrennt im Saal sitzen müssen, sondern auch draußen verschiedene Wege benutzen sollen, um sich nicht zu begegnen. Das würde sie nämlich aus ihrer Achtsamkeit und Bewusstheit reißen. Ein Problem, das es bei Zazen mit seiner Betonung der Wachheit nicht gibt.
Hier scheinen natürlich auch die beiden verschiedenen Herkunftstraditionen durch: der sehr diesseitige Zen-Buddhismus und der eher weltabgewandte Hinduismus. Typischerweise neigen dann auch Manager, die in dieser Welt etwas bewegen wollen, zu Zen-Retreats, während sich religiös motivierte Sucher eher zu indischen Meditationen hingezogen fühlen, die rascher in spirituelle Erfahrungen münden. Aber beide Richtungen zeigen, wie zentral die Atembeobachtung beziehungsweise Meditation ist und wie sie verschiedene Traditionen verbindet.
Einatem- und Ausatemqualität
Mit dem Einatmen holen wir Sauerstoff beziehungsweise Luft oder eben auch Prana, Lebensenergie, in unseren Körper, füllen uns also mit Lebenskraft und Energie und werden damit wacher und aufgeweckter. Und Erwachen ist ja das große Ziel aller Meditationen, nicht umsonst nennen wir den historischen Gautama Buddha, den Erwachten.
Die Betonung des Einatems mit Bewusstheit führt zu einer vermehrten wachen Aufmerksamkeit und Energiefülle. Das können wir bei Meditationen wie Zazen oder Vipassana nutzen, indem wir auf den Einatem zählen. Auch beim Tai-Chi, Qigong und Yoga werden wir die Unterschiede zwischen beiden Atemphasen deutlich spüren.
Der Ausatem dagegen ist mit Loslassen und Leere verbunden, er hilft, zu entspannen und die Geisteshaltung des Akzeptierens und Geschehenlassens zu kultivieren beziehungsweise tiefer in sie zu sinken. Der Ausatem atmet Passivität – im Gegensatz zur Aktivität des Einatmens. Das wird besonders beim verbundenen Atem deutlich.
Aus- und Einatemseufzer zeigen uns die beiden unterschiedlichen Qualitäten des Atems am deutlichsten. Genauso stehen Begriffe wie „an-“ und „zupacken“ oder „das Leben in Angriff nehmen“ für den Einatem, solche wie „geschehen lassen“ und „loslassen“ für den Ausatem. Im Entwicklungskreis der zwölf Lebensprinzipien betrifft Anpacken die erste Lebensbühne und das Aggressionsprinzip. Völliges Loslassen und Sich-Ergeben gehört zur zwölften Lebensbühne der Mystik und Transzendenz. So führt uns der Einatem in die Fülle des Lebens, der Ausatem erlaubt es uns, uns von allem wieder zu lösen.
TIPP
TYPGERECHT ATMEN
Wenn du vom Typ her eher passiv und introvertiert oder gerade müde bist, könntest du bei Zazen oder Vipassana eher den Einatem zählen und damit auch etwas betonen, um diesen Pol in dir zu stärken.
Bist du eher ein überdrehter oder gar hyperaktiver Typ? Dann solltest du bei diesen Meditationsformen eher den Ausatem und das Loslassen betonen. Konzentriere dich deshalb mehr auf die Ausatemzüge und zähle diese.
Atemachtsamkeit im Alltag
Auf Retreats wird mit entsprechenden Unterbrechungen fast den ganzen Tag meditiert, was eine unglaubliche Erfahrung sein kann. Aber der Sinn ist natürlich, diese Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auch zwischen der alltäglichen Morgen- und Abend-Meditation aufrechtzuhalten, und vor allem: sie anschließend mit ins Alltagsleben zu nehmen. Dabei können Achtsamkeitsspaziergänge wundervoll helfen genauso wie spontan eingeschobene entsprechende Meditationen. Sie sind gerade dann hilfreich, wenn Stress und Ärger zwischendurch drohen, alle Achtsamkeit über den Haufen zu werfen.
Nachdem sie auch in den USA entdeckt, wissenschaftlich untersucht und für wirksam befunden wurde, ist Mindfulness ja inzwischen in aller Munde. Ihr eigentlicher Ursprung aber ist natürlich der Buddhismus und letztlich der Osten.
Wir haben den Atem als unseren besten Freund immer an unserer Seite, können uns immer und überall auf ihn stützen, brauchen keinerlei Hilfsmittel dazu. Statt uns in die Strudel der Hektik des modernen Lebens reißen zu lassen, können wir mit dem Zaubermittel der Achtsamkeit auf den Wellen des Atems surfen und es uns dabei bewusst gut gehen lassen. Nichts und niemand kann uns daran hindern, den eigenen Atem mit Achtsamkeit zu beobachten. Der einzige Nachteil: Es gibt nun keinerlei Ausreden mehr. Die Zeit der faulen Kompromisse weicht der der Selbstverantwortung. So gesehen kann man den vermeintlichen Nachteil auch als große Chance begreifen.
Anders als bei Zazen und Vipassana entfällt beim verbundenen Atem das Zählen der Atemzüge. Wir liegen ganz entspannt auf dem Rücken, die Beine nebeneinander, die Arme ruhen seitlich vom Körper mit nach oben offenen Händen als Symbol der Offenheit. In dieser Position sind alle Muskeln des Bewegungsapparats entspannt, nicht einmal der Kopf muss noch gehalten werden. Er liegt bewusst auf derselben Ebene und Höhe wie der Körper. Das ist symbolisch wichtig, denn der Kopf fungiert während der ganzen etwa zweistündigen Meditation nicht wie sonst so oft als Hauptsache, nach der sich alles zu drehen und auszurichten hat. Er ist stattdessen auch im übertragenen Sinn abgelegt – und was die linke intellektuelle, ansonsten immer dominante Gehirnhälfte angeht, auch (ein wenig) abgemeldet. Der häufige Wunsch, ihn mit Kissen und anderen dicken Unterlagen doch wieder hervor- und herauszuheben, lässt sich schnell als Versuch entlarven, seine gewohnte Dominanz zu retten. Dies sollten wir jedoch sanft und liebevoll oder auch bestimmt unterbinden.
Beim verbundenen Atem konzentrieren wir uns ausschließlich auf den Atemfluss, werden selbst immer mehr zu diesem Fluss und idealerweise schließlich zu unserem Selbst. Alles andere nehmen wir bestenfalls noch als Ufer des Flusses wahr, auch unseren Körper mit all seinen Empfindungen und Emotionen und unseren Kopf mit seinen Gedanken(bildern). Wenn wir verbunden atmen, nehmen wir all das zwar wahr, aber nicht mehr wichtig.
Sobald wir merken, dass wir nicht mehr beim Atemfluss selbst sind, sondern auf Bilderreisen abdriften, kehren wir einfach zum Atem zurück und bleiben bewusst bei ihm. Bleiben ihm, wie es einem besten Freund gebührt, die ganze (Atem-)Reise über treu verbunden. Lassen uns möglichst nicht einmal ablenken und einfangen, wenn im Körper oder Bewusstsein scheußliche Schattenerfahrungen oder -bilder auftauchen – genauso wenig wie von wundervollen Empfindungen beziehungsweise Erlebnissen und Visionen. Wir folgen weiter dem Atem. Wunderschöne Erfahrungen sind hier tatsächlich die größere Herausforderung.
So wird der verbundene Atem zu einer Art Mantram-Meditation. Der Atem selbst ist das Mantram, zu dem wir immer wieder bewusst und ohne Wertung oder gar Vorwurf...