Wie angedeutet, konzentriert sich diese Arbeit im Rahmen des vielfältigen Themengebiets mittelalterlicher Medizin auf wesentliche Abschnitte und relevante Informationen für die jüdische Geschichte. Eine umfassende Beschäftigung mit dem Themenbereich mittelalterlicher Heilkunde würde eine eigene Arbeit fordern und den gesetzten Rahmen der vorliegenden sprengen. Daher reduziert sich dieses Kapitel auf folgende Schwerpunkte bzw. Auseinandersetzung mit der Forschung:
Was waren die nachhaltigsten und wichtigsten Stationen in der Entwicklung der mittelalterlichen Medizin? Inwiefern beeinflusste diese Entwicklung, der wachsende Bedarf an Ärzten und die Regulierung des Medizinwesens nicht nur die christliche, sondern auch jüdische Ärzte? Wann und wodurch wurde Juden der Einstieg in das Tätigkeitsfeld des Arztes ermöglicht?
Fest steht, neben Geldverleih war der Beruf des Arztes die beliebteste Tätigkeit von Juden im Mittelalter. Dies korreliert mit der Tatsache, dass der Bedarf an Ärzten ab dem 13. Jahrhundert kontinuierlich anstieg. Es waren nicht nur Bischöfe, Fürsten und Könige, die sich den damaligen Luxus von verbesserter Lebensqualität leisten konnten, sondern auch das erstarkende Bürgertum der Städte sowie reiche Teile der Landbevölkerung. Shatzmiller spricht zudem vom Phänomen einer „Medikalisierung“ der mittelalterlichen Gesellschaft.[2] Um Motive und Rahmenbedingungen jüdischer Ärzte zu erhellen, muss also zunächst der historische Hintergrund genauer untersucht werden, um eine Vorstellung davon zu erhalten, was es bedeutete, im Mittelalter Arzt zu sein.
Peter Jankrift, der einen gelungenen aktuellen Überblick über den Forschungsstand der mittelalterlichen Medizin beiträgt, betont, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema bzw. „die Recherche in den Schriftquellen der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleicht.“[3] Dennoch liefert Jankrift in seinen Beiträgen Informationen von unschätzbarem Wert für die Darstellung des mittelalterlichen Medizinwesens. Während die theoretischen Grundlagen, welche auch in der spätmittelalterlichen Ausbildung von Heilkundigen Verwendung fanden, in Schriftwerken tradiert und übersetzt wurden, so bereitet es dagegen Schwierigkeiten, die praktischen und alltäglichen Tätigkeiten von Ärzten durch überlieferte Quellen zu beleuchten.[4]
Daher bleibt oftmals nur die Möglichkeit, anhand von Erwähnungen in Stadt- oder Steuerlisten, Herrscherannalen oder Rezept- bzw. Krankheitsbeschreibungen das Tätigkeitsfeld von Heilkünstlern zu rekonstruieren. Als ebenfalls bedeutsam erweisen sich Bildquellen und Abdrucke in Folianten und Büchern, welche Aufschluss über Handeln und Wirken von medici aller Art bieten. Daher werden solche auch hier in den Überlegungen mit einfließen, wenn sich in den anschließenden Kapiteln näher mit der Rolle des jüdischen Arztes als Wissenschaftler, „Magier“ und Kosmopolit beschäftigt wird. Bevor nun bedeutende Meilensteine der Medizin behandelt werden, gilt es jedoch eine Frage zu beantworten: Was wird unter dem Begriff ,mittelalterliche Medizin‘ überhaupt verstanden?
Dem mittelalterlichen Verständnis von Krankheit und Heilung liegt häufig die einschlägige These zugrunde, die sogenannte mittelalterliche Medizin nährte sich letzten Endes aus den Lehren und Konzepten der Antike. Es handelt sich folglich vielmehr um eine Tradierung und Bewahrung antiken Erbes, allen voran die weit verbreitete Viersäftelehre Galens. Sie war das richtungsweisende und bestimmende Element des zeitgenössischen Medizinwesens bis in die Renaissance.[5] Erst der Humanismus und die geduldete Weiterentwicklung der Chirurgie ermöglichten neue Erkenntnisse im Bereich der Anatomie.
Galens Lehre greift auf die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft zurück. Cassiador, der Kanzler Theoderichs des Großen, sah sich im Auftrag, jenes Antike Verständnis von Medizin zu bewahren und zu tradieren. Daher errichtete er um 550 n. Chr. das Kloster Vivarium und legte dort das Fundament für die septem artes liberales. Die sieben freien Künste stellten das maßgebende Grundkonzept der universitären Lehren des Mittelalters dar und unter Bischof Isidor von Sevilla wurde auch die Wissenschaft der Medizin zur secunda philosophia erhoben.[6]
Doch letztendlich greift Galen (129 bis 199 v. Chr.) in seinen Werken und Lehren lediglich auf den Arzt und Denker zurück, auf dessen Namen die Ärzteschaft noch heute einen Eid leistet: Hippokrates. Galens Viersäftelehre basiert nicht auf eigenen Überlegungen, sondern stellt vielmehr eine Weiterentwicklung des Corpus Hippocraticum dar, welcher die Arbeiten und Lehren des Hippokrates bündelt und uns im folgenden Auszug das antike Verständnis von Krankheit schildert:
„Der Körper des Menschen hat in sich Blut, Schleim und zweierlei Galle, die gelbe und die schwarze Diese Qualitäten sind die Natur seines Körpers, und durch sie wird er krank und gesund. Am gesündesten aber ist er, wenn diese Qualitäten in Bezug auf Mischung, Wirkung und Menge in einem angemessenen gegenseitigen Verhältnisse stehen[…], krank hingegen, wenn eines von diesen in geringerer oder grösserer Menge vorhanden ist oder sich im Körper absondert und nicht mit der Gesammtheit [sic!] der übrigen vermischt ist.“[7]
Jene vier Säfte sind im Körper folglich verantwortlich für gesundes oder krankes Befinden des Menschen. Herrscht ein Ungleichgewicht und ist die Balance zwischen den Säften gestört, tritt ein Krankheitsbild zutage, welches sich je nach vorherrschendem Saft artikuliert. Ein Überschuss an Blut (lat. sanguis) würde demnach zu Symptomen eines Sanguinikers führen. Anhand der Tatsache, dass die Säfte vier verschiedene Eigenschaften aufweisen, (warm, kalt, trocken, feucht) wird deutlich, wie sehr sich Hippokrates an die vier Elemente lehnte.[8]
Auf der Auffassung beruhend, dass andere Wissenschaften wie Physik oder Logik der Medizin dienlich seien, teilte Galen die entstandene Theorie der Medizin in drei tragende Säulen ein, die das sogenannte Haus der Heilkunde repräsentieren: Die Physiologie (res naturales), die Pathologie (res contra naturam), sowie die Therapie. Letztere, also die Behandlung von Krankheiten, teilt sich wiederum auf in Diätetik, Pharmazeutik und Chirurgie.[9]
Es ist also in Konsens mit der Forschung festzuhalten, dass eine mittelalterliche Medizin im eigentlichen Sinne nicht existierte. Sie war vielmehr die Manifestierung der alten römisch-griechischen Medizin und bezog sich mehr als 1000 Jahre im Wesentlichen auf die Erkenntnisse der Antike. Auch beispielsweise die Natur- und Arzneimittelkunde orientierte sich lange an den von Plinius dem Älteren verfassten Schriften, u.a. die Historia Naturalis. Eine überarbeitete Variante stellt im 4. Jahrhundert die Medicina Plinii dar, welche eine umfangreiche Abhandlung über Krankheiten und deren Behandlungen enthält.[10]
Neben der notwendig gewordenen differenzierten Betrachtung von ,mittelalterlicher‘ Medizin ist es nötig, einen alten Mythos zu widerlegen, der in der Forschung lange Gültigkeit fand: Die sogenannte ,arabische Medizin‘ hätte den Grundstock für das mittelalterliche und europäische Medizinwesen gelegt. Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts bewies der in mehreren Bänden erschienene Beitrag von Jean-Charles Sournia, dass auch die arabische Medizin nur das römisch-griechisches Medizinwissen konservierte und dass durch die Übersetzungsleistung von Persern, Juden und orthodoxen Griechen eine Art arabische Fachliteratur entstand. Auch wenn sich dadurch das Arabische zu einer Gelehrtensprache wandelte, so bot die arabische bzw. orientalische Medizin letztendlich keine neuen Erkenntnisse, sondert tradierte antikes Wissen in einer anderen Sprache fort.[11] Grundsätzlich ist sich die Forschung allerdings dahin gehend einig, dass die Vermittlung und die Verbreitung von griechisch-arabischen Medizinschriften vor allem der regen Tätigkeit von zahlreichen jüdischen und arabischen Übersetzern zu danken ist, deren großer Bedeutung unten ein eigenes Kapitel gewidmet ist.[12]
Des Weiteren darf nicht vergessen werden, dass weite Teile der mittelalterlichen Gesellschaft Europas unter dem großen Einfluss der christlichen Theologie stand, sodass auch die Medizin zunächst schlicht als „Werkzeug“ Gottes betrachtet wurde. Bis die Loslösung der Medizin von der christlichen Kirche gelang, wurde zunächst grundsätzlich angenommen, dass eine erlittene Krankheit das Resultat einer Strafe Gottes an einem Sünder wäre. Von dieser Strafe können nicht nur Einzelpersonen, sondern auch ganze Gruppen und Ethnien betroffen werden, was beispielsweise im Zeitalter der Pest – neben der obligatorischen Brunnenvergiftungs-beschuldigung – häufig als Ursache angenommen...