Katharina Prager
Adelheid Popps (fest-)geschriebenes Leben
Schreiben
Ist »Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin« eher eine Agitationsschrift oder eine Autobiografie? Diese Frage ist wahrscheinlich nie ganz zu klären und doch nicht aus dem Kopf zu verlieren. Adelheid Popp schrieb selbst, es gehe ihr darum, »zahlreichen Arbeiterinnen, die mit einem Herz voll Sehnsucht nach Betätigung lechzen, aber immer wieder zurückschrecken, weil sie sich die Fähigkeit nicht zutrauen etwas leisten zu können, Mut zu machen«. (133) Ihr Leben an sich sei dabei keineswegs etwas »individuell Bedeutsames«, erklärte sie in ihren Vorworten, im Gegenteil, es sei »das von hunderttausend Frauen und Mädchen des Proletariats«. Wenn Adelheid Popp sich selbst zum Fallbeispiel erklärte, dürfte sie kaum Wert darauf gelegt haben, ihre Geschichte faktisch korrekt zu erzählen, oder doch? Sie legte selbst offen, dass sie in der ersten Ausgabe der »Jugendgeschichte einer Arbeiterin« um ihrer Anonymität willen Spuren verwischte. Nun sind aber die Unterschiede zwischen der ersten und den späteren Ausgaben nicht sehr groß. War also tatsächlich gar nicht so viel falsch dargestellt worden oder war es ihr sogar recht, wenn eine gewisse Unklarheit darüber bestehen blieb? War sie sich bewusst, dass sie die späteren Darstellungen ihres Lebens durch diese Jugendgeschichte entscheidend mitbestimmen würde? Bis heute wird die Jugendgeschichte der Adelheid Popp fast ausschließlich in Berufung auf ihre eigenen Worte erzählt und so festgeschrieben – nicht zuletzt sicher auch deshalb, weil ihr Nachlass fast gänzlich zerstört wurde. Die Forschung konzentrierte sich naheliegenderweise vorerst auf Popps Karriere, die aus anderen Quellen gut erschlossen werden konnte. Gerade bei Frauen stehen Herkunft und Familie oft allzu zentral und es war insofern sehr legitim, diese nicht wieder in den Mittelpunkt zu stellen. All das führte allerdings dazu, dass die biografischen Daten der Frau, die als erste im österreichischen Parlament das Wort ergriff, nach wie vor meist unvollständig bis falsch vorliegen. Namen und Daten ihrer Eltern und ihrer beiden Söhne fehlen in den meisten biografischen Darstellungen, während ohne Überprüfung von fünfzehn Geschwistern ausgegangen wurde und ihr lange fälschlicherweise ein dritter Sohn (ein Politiker) zugeordnet wurde.
Auch über die Hintergründe von Popps Arbeit an ihrer Jugendgeschichte wurde bisher wenig nachgedacht. Es sei nicht einmal ihre Idee gewesen, die Geschichte aufzuschreiben, schrieb sie 1922. Ihr Kollege Adolf Braun, der 1907 als Redakteur der Arbeiter-Zeitung in Wien war, habe sie dazu angeregt, ja, habe sie geradezu überzeugen müssen. Sonst gibt es wenige Hinweise, aber tatsächlich spricht vieles dafür, dass sie den Text relativ rasch in den Jahren 1907/08 niederschrieb. Der Jänner dieses Jahres hatte mit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Männer einen Höhepunkt der sozialdemokratischen Erfolge gebracht. Es war aber kein ungetrübter Erfolg für Adelheid Popp, die seit den 1890ern und als Erste auch öffentlich für das Frauenwahlrecht eingetreten war. Erst 1905 hatte sie sich der Parteidisziplin untergeordnet und diese Forderung zugunsten der Durchsetzung des Männerwahlrechts zurückgestellt. Das war nun also erreicht und vielleicht reizte die Idee, autobiografisch zu schreiben, Popp gerade jetzt, weil sie hoffte, dass ihre geteilten Erfahrungen erneut agitatorisch auf die Arbeiterinnen wirken würden. 1907 dürfte zugleich eine etwas ruhigere Phase in Popps Leben begonnen haben. Sie lebte als »Redakteurin und Witwe«1 mit ihren beiden Söhnen, die sieben und elf Jahre alt waren, in einer Wohnung in der Döblinger Hauptstraße 70.2 Seit fünf Jahren war sie alleinerziehend und dabei ebenso selbstverständlich wie notwendigerweise berufstätig. Einige Jahre zuvor hatte noch ihre Mutter, Anna Dwořak, bei ihr gewohnt, doch 1907 war sie bereits tot3 und das war für Popp womöglich eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt autobiografisch schreiben zu können. Diese Mutter war im Leben ihrer Tochter dauerhaft und auf durchaus ambivalente Weise präsent gewesen, und so wurde sie zu einer der wichtigsten Figuren der Jugendgeschichte. Interessant ist auch, sich zu vergegenwärtigen, dass Popps Söhne Julius und Felix um 1907 noch die Schule besuchten und damit eine ganz andere »Kindheit« erlebten als ihre Mutter, in deren Welt man mit spätestens sieben Jahren aufhörte Kind zu sein und zur Arbeitskraft wurde.
Sich vor diesem Hintergrund auf die Spurensuche zu machen und Popps autobiografische Erzählung quellenkritisch zu lesen, ihre blinden Flecken, Auslassungen und Erinnerungslücken zu finden, hat nicht zum Ziel, Adelheid Popp vorzuführen. Es geht vielmehr darum zu verstehen, wie sie auf ihre Kindheit und Jugend in Niederösterreich zurückschaute, was sie erinnerte und was nicht, was ihr selbstverständlich war und was bedeutsam. Außerdem wird dabei deutlich, wie schwer es ist, die Geschichte einer nach wie vor als »unbedeutend« geltenden Arbeiterfamilie in den Tauf-, Sterbe- und Heiratsbüchern nachzuvollziehen. Während in Inzersdorf, wo Adelheid Popp im Februar 1869 geboren wurde, heute noch Straßennamen, Denkmäler sowie das Bezirksmuseum ausführlich auf Fabriksherren wie Heinrich Drasche verweisen, blieben die Spuren der Familie Dwořak (auch Dworschak oder Dvorak) quasi unsichtbar.4 Die folgende Skizze ist ein Versuch, auf Basis der inzwischen digital zugänglichen Pfarrbücher sowie wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Arbeiten ein neues Bild als Ergänzung zum (fest-)geschriebenen Leben der Adelheid Popp zu gewinnen. Nicht alle Funde waren überraschend, nicht alle Fragen konnten letztgültig geklärt werden. Doch diese Daten führen uns – auf einem anderen Weg als der Text – auf eine Zeitreise in die sich industrialisierende Gegend um den Wienerberg.
Leben
Am Montag, dem 15. Februar 1869 wurde ausnahmsweise nur ein Kind in der Pfarrkirche St. Nikolaus, im Zentrum von Inzersdorf, getauft. Normalerweise taufte der Pfarrprovisor Jacob Prigl, der seit drei Monaten den Pfarrer vertrat, drei bis vier Kinder an einem Tag. Dieses war das fünfte Kind, das der damals dreiundfünfzigjährige Webergeselle Adalbert Dwořak und seine fünfundvierzigjährige Frau Anna zur Taufe in die Inzersdorfer Pfarrkirche trugen, seit sie – wahrscheinlich um 1858 – nach Inzersdorf gezogen waren. Taufpatin war Magdalena Pavlik, eine »Webersehegattin« aus Inzersdorf Nr. 141. Sie hatte bereits im Februar 1867 die Patenschaft für die erste Tochter des Paares, die nunmehr zweijährige Magdalena, übernommen. Wie die meisten anderen Patinnen im Taufbuch konnte Frau Pavlik nicht schreiben. Sie setzte drei Kreuze neben ihren Namen im Taufbuch, den der Lehrer Karl Wurst als »Namensfertiger« hineingeschrieben hatte. Karl Wurst war vermutlich ein Sohn des in Inzersdorf bekannten und sehr aktiven siebenundsechzigjährigen Oberlehrers Franz Wurst, der – wie auch sein Nachfolger Georg Freund – die Bildungsangelegenheiten der Gemeinde verwaltete. Nur wenige Wochen nach dieser Taufe sollte das neue, fortschrittliche Reichsvolksschulgesetz in Kraft treten, das die achtjährige Schulpflicht und die Abschaffung des Schulgelds brachte. Die Aufgabe der Oberlehrer war es auch, dafür zu sorgen, dass die Arbeiterkinder in die Schule und nicht in die Arbeit gingen – und das führte zu Konflikten.
Doch bleiben wir vorerst bei der Taufgesellschaft. Das erst vier Tage alte Mädchen wurde auf den Namen Adelheid getauft – ein Name, den vorher noch niemand in ihrer Familie getragen hatte, obgleich es durchaus üblich war, Namen mehrfach zu vergeben und durch Namen zu bekannten Personen in Beziehung gesetzt zu werden. Die Eltern und die Patin hatten – wahrscheinlich ohne die fünf Geschwister des Säuglings, die zwischen zwei und zwölf Jahren alt waren – die etwa eineinhalb Kilometer von ihren Häusern an der heutigen Triester Straße ins dörfliche Zentrum von Inzersdorf in der Winterkälte zurückgelegt. Inzersdorf war in den vergangenen zwei Jahrzehnten rasch angewachsen – die Hausnummern über 100 verwiesen auf die Arbeiterwohnungen, die in großer Anzahl »an der Straße« zu den Wienerberger Ziegelwerken gebaut worden waren. Die Bewohnerinnen und Bewohner des nach wie vor ländlich idyllischen »Dorfes« grenzten sich nicht nur sprachlich von dem dort wie auf einer Insel lebenden Industrieproletariat, den sogenannten »Straßlern« oder »Ziegelböhm«, nach Kräften ab. Man klagte, dass der Adel aufgrund der verpesteten Luft nicht mehr auf Sommerfrische komme, man hatte Vorurteile: Diebisch seien die dort, moralisch verkommen und nicht zuletzt in Bezug auf Sanität ließen »diese Massenquartiere freilich noch manches zu wünschen übrig«. Machen könne man aber wenig gegen diese Missstände, aufgrund der »besonderen Eigenschaften der...