1 Jungengesundheit im epidemiologischen Zusammenhang
1.1 Die Gesundheit von Jungen und männlichen Jugendlichen in historischer Perspektive (1780–1980)
Martin Dinges
1 Epidemiologie
In dem hier gegebenen knappen Rahmen können nur wenige Aspekte des Themas dargestellt werden. Dabei kommen vorrangig Gesundheitsressourcen in den Blick, die anhand von Gesundheitsempfehlungen dargestellt werden. Passend zum Schwerpunkt des Bandes werden dann das Verhältnis zum eigenen Körper und Prägungen des Inanspruchnahmeverhaltens analysiert1. Dabei können die besonderen Problemlagen von Jungen nicht vertieft werden, die durch Armut, Illegitimität, Kindesaussetzung, als Ziehkind, nach Kindesmisshandlung, oder für behinderte Kinder, als Psychiatrieinsassen – immerhin fast 10 % Kinder und Jugendliche im 19. Jh. (Nissen 2005, S. 124) –, in der Jugendfürsorge oder bei anderen Anstaltsinsassen entstanden. Ebenso wurde die Kriegspsychiatrie, die ja oft noch sehr junge Männer betraf, ausgeklammert. Die genannten Problemlagen sind aber häufig gesundheitlich sehr belastend und würden besonders hinsichtlich ihrer geschlechterspezifischen Ausprägung grundlegender Forschung bedürfen. Dies gilt auch für spezifische Belastungen durch die Entdeckung der eigenen Homosexualität.
2 Gesundheitsdiskurse und -empfehlungen
Erst seit Kurzem gelten Jungen innerhalb des Gesundheitsdiskurses als Problemgruppe. Das war früher ganz anders: Jungen galten generell eher als stark und gesund – Mädchen als schwach oder gar kränklich. Die Aufklärungsanthropologie hatte solche Gegensätze zwischen Mann und Frau sehr akzentuiert und biologisch fundiert, indem sie den Frauen eine größere Naturnähe, Abhängigkeit vom Körper, damit aber auch Schwäche, den Männern dagegen eine größere Vernunftbegabung zuschrieb. Während des 19. Jahrhunderts arbeiteten die Mediziner dieses Bild weiter aus und erweiterten es um 1900 noch um passende psychische Komponenten. Allerdings gehörte zum Bild des Mannes als negativer Zug auch, dass er triebbedingt unbeherrscht sei und sich deshalb disziplinieren müsse (Kucklick 2008, S. 35–133). Zum Mann zu werden bedeutete eine doppelte Entwicklungsaufgabe, nämlich der zugeschriebenen Körperlichkeit und Vernünftigkeit gerecht zu werden.
Den Jungen legte man dazu nahe, ihre Fähigkeiten durch viel Bewegung zu entwickeln. Man empfahl ihnen seit 1800 Leibesübungen und später die Ertüchtigung durch den Sport. So heißt es in einem Gesundheitsratgeber 1892: »Die nützlichste Körperbewegung ist das Schwimmen, und darum sollte, wo es möglich ist, jeder gesunde Knabe zum Erlernen des Schwimmens veranlasst werden.« Ganz selbstverständlich ist hier nicht von Mädchen die Rede (Sepp 1892, S. 11). Der Bedarf des Staates und der Wirtschaft stand im Vordergrund dieses Diskurses. Die Jungen sollten leistungsfähige Soldaten, allenfalls auch kräftige Arbeiter werden (Frevert 1996, S. 147–154).
Immerhin kamen dabei besondere Gesundheitsgefährdungen in den Blick: Jungen galten als waghalsig. Schon 1792 meinte der Autor eines mehrbändigen Buches zur »medicinischen Policey«, des Vorläufers der Sozialhygiene, Johann Peter Frank (1745–1821), Jungen würden von Brücken in zu flaches Gewässer springen, beim Schwimmen ertrinken, zu brutal fechten, von der Baumschaukel fallen oder sich beim Klettern verletzen (Frank 1784, S. 627f., 661, 672). Er meinte also, die »kleinen Wagehälse« spielten insgesamt zu risikoreich. Damit zeigt sich bereits eine gewisse Zwiespältigkeit, mit der über Jungen geredet wurde: Einerseits sollten sie sich viel bewegen und dadurch ertüchtigen, andererseits warnte man sie aber auch stets vor Gefahren und vor ihrer Neigung zum Leichtsinn. Zu erlernen hatten sie also die Balance zwischen Mut und Übermut. Individuelle Gesundheit stand jedenfalls nicht im Vordergrund der Überlegungen. Nach der Jahrhundertwende wanderten in der Jugendbewegung dann fast ausschließlich Jungen durch die Wälder, in der bündischen Jugend verstärkte sich dieser Zusammenhang von Körperertüchtigung und Männerbund weiter (Speitkamp 1998, S. 145, 185).
Den Mädchen traute man weniger zu: Ärzte betonten immer wieder, dass junge Frauen durch die Menstruation regelmäßig geschwächt seien. Ihnen empfahl man allenfalls Spaziergänge. Erst ab ca. 1900 wurden auch ihnen einige Leibesübungen und leichtere, in der Zwischenkriegszeit dann weitere, Sportarten empfohlen. Die Nationalsozialisten setzten gezielt auf die Ertüchtigung mit dem Ziel, die Gesundheit der späteren Mütter zu fördern, die kräftige Kinder für einen starken »Volkskörper« gewährleisten sollten. Insgesamt ist das ein natalistischer Diskurs, der seit ca. 1800 im Staatsinteresse die Gebärfähigkeit der Frauen einseitig in den Vordergrund rückte. Bei den Jungen erreichte die geforderte Bereitschaft zum Soldatischen ebenfalls in der NS-Zeit den Höhepunkt (Werner 2008).
Diesem Ziel entsprach ein Leitbild von Männlichkeit, das schon bei Jungen eine vorrangige Festlegung auf Härte gegenüber sich selbst und anderen verlangte. Das Ausmaß an notwendiger »Abhärtung« von Kindern wurde zwar auch kritisch diskutiert, in einer ärztlichen Schrift von 1903 aber selbstverständlich fast ausschließlich mit dem Blick auf Jungen thematisiert (Hecker 1903, S. 8, 20–27; vgl. Rutschky 1988, S. 260). Bezeichnenderweise drängten im Zeitalter des Nationalismus besonders die Väter auf Abhärtung, später imitierten die Jüngeren dieses Modell (Reulecke 2001). Schmerzverdrängung, Distanz zum eigenen Körper, Abwehr von Schwäche, die als weiblich galt, gehörten zu diesem Syndrom. Traurigkeit oder schlechte Stimmungen sollten nicht artikuliert werden – ein Junge sollte funktionieren. Außerdem beobachten Forscher in der Gegenwart, dass in Erziehung und Alltag von Jungen ein höheres Maß an Toleranz gegenüber widerfahrener Gewalt als selbstverständlich vorausgesetzt wird (Jungnitz et al. 2007, S. 4, 64).
Der Onaniediskurs behinderte lange ein positives Verhältnis zum eigenen Körper (Eder 2002, S. 91 ff.). Seit dem 17. Jahrhundert bläuten Kleriker, Ärzte und Pädagogen den Jungen in einer Vielfalt von Schriften und Predigten ein, dass die Selbstbefriedigung eine höchst gesundheitsschädliche Praxis sei: Sie schwäche die örtliche Muskulatur, verbrauche die Kraft des männlichen Samens, den man sich als eine begrenzte Quantität vorstellte, ruiniere die Nerven, zerstöre das Rückenmark und generell die körperliche Leistungs- und spätere Zeugungsfähigkeit. Masturbation sei deshalb auch moralisch höchst verwerflich (Kucklick 2008, S. 288 ff.). Mit unterschiedlichen Akzentsetzungen wurde dieser medizinische Unsinn bis in die 1950er Jahre verbreitet und machte vielen Jungen und männlichen Jugendlichen erhebliche Schwierigkeiten, wie wir anhand von Selbstzeugnissen seit dem 18. Jahrhundert beobachten können (Piller 2007, S. 190f.). Ärzte empfahlen häufig, als Lösung des Problems eine Ehe einzugehen (Dinges 2002, S. 117; Schönenberger 1907, S. 21). So hieß es 1907: Junge Männer erholen sich bei sonst verständiger Lebensweise in der Ehe meist rasch« – gemeint war von Scham, Reue und Nervenzerrüttung.
Parallel zur wachsenden Körperfeindlichkeit während des 19. Jahrhunderts sollte der Bordellbesuch immer häufiger als Initiation in das Geschlechtsleben dienen. Wurde das vom Vater organisiert, konnte es als Enteignung einer eigenständigen Sexualität empfunden werden, in der Peergroup allerdings als kollektive Stärkung von Männlichkeit. Geschlechtskrankheiten waren jedenfalls besonders im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein viel diskutiertes Gesundheitsproblem. Etwa 5 % der Rekruten in Preußen und Bayern waren in den 1860er Jahren betroffen, bis 1900 sank der Anteil auf 2 % – wegen Soldkürzungen und stärkerer Disziplinierung (Sauerteig 1999, S. 75–80). Bei der Kaiserlichen Marine gingen in den 1870er Jahren durch energische Maßnahmen gegen Hafenbordelle die Geschlechtskrankheiten auf 12 % aller Krankheitsfälle zurück. (Bennink 2008, S. 42).
Die Kontrolle der Einberufenen bzgl. Geschlechtskrankheiten im Rahmen der sog. »Schwengelparade« dürften manche jungen Männer als belastend empfunden haben (Jütte 1998, S. 24–26). In der Gesamtbevölkerung waren um 1900 Männer dreimal so häufig von Geschlechtskrankheiten betroffen wie Frauen, 1919 nur noch doppelt so häufig. Während der Weimarer Zeit gingen diese Erkrankungen weiter zurück. Trotzdem diskutierte man weiter über Ehegesundheitszeugnisse, die auch SPD und Zentrum befürworteten, aber nicht durchsetzen konnten. Diese wurden erst 1935 durch die Nationalsozialisten verbindlich vorgeschrieben und betrafen neben den Geschlechtskrankheiten nun auch Erb- und Geisteskrankheiten. In den Folgejahren wurde etwa jedem 25. Paar die Eheeignung abgesprochen, allerdings mehr Frauen als Männern (bis 1943: 43 000 : 34 000) (Sauerteig 1999, S. 379). Geschlechtskrankheiten im Jugendalter verlieren bis in die 1980er Jahre weiter an Bedeutung (Biener 1991, S. 109f.).
Positive Impulse für ein gesundheitsförderliches Verhalten bieten allenfalls eine Reihe von Regeln: Ernährungsempfehlungen sind zwar oft geschlechterneutral formuliert, beziehen sich aber implizit doch auf männliche Jugendliche. In der Tradition solcher Werke seit der Antike orientieren sie darauf, Maß zu halten: »Der Jüngling weiß es nicht, wie sehr er sich durch Ausschweifungen mancherlei Art – durch einen Trunk in die [sic!] Hitze, durch Unmäßigkeit im Speisegenuß, verdirbt. Noch widerstehen seine muntern Kräfte ...« (Struve 1804, S. 49). Es wird also auf die langfristigen Folgen hingewiesen. Studierende werden besonders ermahnt, das rechte Maß zwischen...