Gib einem Mann einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre ihn fischen, und du ernährst ihn ein Leben lang.
ALTES SPRICHWORT
Wenn ich hier meine lausige Vergangenheit ausbreite, dann nur, weil ich hoffe, dass ihr Wie und Warum vielleicht ein paar Leute dazu bringt, andere Wege zu gehen. Und wenn’s nur einer ist, wäre ich schon zufrieden. Also, los geht’s.
Nachdem ich klassischen Kontrabass und Englische Literatur an der Indiana University in Bloomington, USA, studiert hatte, tat ich, was jeder verantwortungsbewusste Akademiker tun sollte: Ich ging auf Tour mit einer Rockband. Wir waren die Staaten rauf und runter unterwegs und traten mit großen Shows an fantastischen Orten auf. Das Leben auf Tour war aber kein Zuckerschlecken. Unsere Nerven lagen oft blank, und die zunehmende Ungeduld kündigte schon das nahe Ende unserer Gruppe an. Ich war pleite, deprimiert und verwirrt. Ich fühlte mich von der Welt im Stich gelassen. Ich sah das Leben aus meinem Apartmentgefängnis heraus an mir vorbeiziehen, wie ein Hündchen im Schaufenster der Tierhandlung, das darauf wartet, gekauft zu werden. Dann, eines Tages, kam mir die Idee: Ich könnte zurückkehren in den warmen, bequemen Schoß der akademischen Welt und einen Abschluss als Musikmanager machen. Wenn du deinen Gegner schon nicht besiegen kannst, dann mache ihn dir verdammt noch mal zum Freund. Ich würde der verflucht beste Agent werden, den Hollywood je gesehen hatte. Aber wie konnte ich mich gegen all die anderen Überflieger durchsetzen? Als Agent musst du dein Image verkaufen. Du bist der coolste, stylishste, geschmackssicherste Kerl auf diesem Planeten. Alle Starköche kennst du persönlich und kriegst mit einem einzigen Anruf am Samstagabend einen Tisch. Und an dem ist dann das Menü perfekt und die Weine … ach, die Weine sind ein Traum … Genau. Da wusste ich plötzlich, dass die beste Vorbereitung für mich, um in die heiligen akademischen Hallen zurückzukehren, direkt mit Essen und Wein zu tun haben würde. Deshalb würde ich auch nicht zurück nach Indiana gehen. Und das war mit das Beste, was mir jemals passiert ist.
Die Band warf zwar genug Geld für die Miete und ein paar Basics ab (eine Packung Nudeln, ein Stück Butter und ein Liter Milch pro Woche. Davon lebte ich tatsächlich eine ganze Zeitlang), aber bis ich anfing, bei Potbelly Sandwiches zu verkaufen, hatte ich praktisch keinen eigenen Cent in der Tasche. Es waren mehr „Erbärmlichkeits-“ als Bagatelldiebstähle, die ich beging, wenn ich den Bandmitgliedern Kleingeld aus den Nachtkästchen klaute, um die Fahrkarten nach Chicago zu bezahlen, wo ich ganze Tage in der Bücherei verbrachte. Weil ich zu dieser Zeit einen Truck besaß, war ich als Fahrer für die Roadshows gesetzt, was hieß, dass ich Spritgeld bekam. Dass da nicht jeder Dollar seinen Weg in den Tank fand, dürfte klar sein. Nach ein paar Etappen auf der Tour konnte ich mir hier und da eine billige Flasche leisten, womit die praktische Seite meiner Studien begann. Kurz darauf veränderte ein Weinladen mein Leben für immer. Dort entdeckte ich einen einfachen Coteaux du Languedoc von Pierre Clavel namens „Le Mas“ für 5,99 Dollar.
Ich brachte den Wein nach Hause, um mein übliches Abendessen aus Pasta mit Butter und ein bisschen geliehenem Parmesan aufzupeppen. Aber schon beim ersten Duft dieses im Glas gefangenen Sonnenlichts Südfrankreichs erstarrte ich. Das war mehr als einfaches Traubensaftaroma. Ich war völlig verwirrt. Frisch umgegrabene Erde und sonnendurchflutete wilde Brombeeren, scharfe Tapenade aus schwarzen Oliven mit frisch eingeöltem Sattelleder, Grillfleisch, Schweiß, Blut zogen durch meine Nasenlöcher … Blut? Das ist Traubensaft! Wie kann das möglich sein????! Kann mir jemand sagen, was zum Teufel hier vor sich geht?! Wie ein Wissenschaftler, der über eine nobelpreiswürdige Entdeckung gestolpert ist, stürmte ich rüber ins Zimmer eines anderen Bandmitglieds und hielt ihm das Glas unter die Nase. „Riechst du das?? Weißt du, was das ist??? Es fängt als Traubensaft an, aber am Ende riecht es wie FLEISCH?!“ Er starrte mich ungläubig an, überzeugt, dass ich vor lauter Armut und Tütennudeln endgültig übergeschnappt war. Aber für mich es war ein Augenblick der Offenbarung. Ich musste diese Sache mit dem Wein unbedingt herauskriegen und dem Kult des „Terroir“ beitreten.
Bewaffnet mit dem Mindestlohn und freien Abenden, machte ich mich daran, den Fibonacci-Code des Weins zu entschlüsseln. Ich kochte im Stil der Region, die ich gerade studierte. Es war der Versuch, die Kultur hinter dem Wein und die Art, wie die Einheimischen ihn genießen, zu verstehen. Ich war entschlossen, der geschmackvollste Agent in der ansonsten so geschmacklosen Stadt Los Angeles zu werden – und dann kam meine Freundin übers Wochenende zu Besuch. Das wollte ich ganz besonders romantisch feiern, und dafür musste das mit dem Wein noch ein Stück besser werden. Ich ging in die Stadt, ausgerüstet mit einem gefälschten Ausweis, aber ohne einen Schimmer, wo ich anfangen sollte. Ich strich um die Weinregale herum wie eine eingesperrte Maus auf der Suche nach Käse. Bis Meredith auftauchte, die Geschäftsführerin des Ladens. Mit engelsgleicher Geduld hörte sie sich mein hilfloses Geplapper und meine unbeholfenen Beschreibungsversuche an, bis ich schließlich die beste Flasche Wein auf Gottes schöner Erde für 20 Dollar und irgendwas in Händen hielt. Damit würde ich die Welt meiner Ballerina aus den Angeln heben. Aber nicht nur ihre. Die Erschütterung über dieses unglaubliche Verkaufserlebnis hielt auch bei mir in den darauffolgenden Tagen an. Ich war fasziniert von Merediths Professionalität, Geduld und Sanftheit, von der Art, wie sie den Unsinn, den ich von mir gab, deuten und ein solches Vertrauen in einer so ungeheuer fremdartigen Welt herstellen konnte. Ich musste ihr Handwerk lernen. Ich musste auch anderen die Schönheit zeigen, die ich an diesem Tag empfunden hatte. Ich musste Sommelier werden.
Nach ein paar Tagen kam ich wieder, diesmal mit meinem richtigen Ausweis, und bat Meredith um einen Job. Egal was, es war mir gleich. Ich wollte nur von ihr lernen. Sie nahm meinen Ausweis, lächelte über mein wahres Alter und bot mir einen Job am Empfang an mit einem Versprechen: Wenn ich so lange durchhielt, bis ich alt genug war, könnte ich zum Weinverkauf wechseln. Also stellte ich mich jeden Tag an den Empfang mit einem Weinbuch unter der Theke und beobachtete sehnsüchtig die Vorbereitungen des Sommelierteams. Wie sie zu Platten mit Blauschimmelkäse alte deutsche Auslesen einschenkten und für Lammkeulen teuren Syrah dekantierten. Ich lernte Tag und Nacht und gab noch mein letztes Geld für Weine, Bücher, Lebensmittel und gelegentliche Restauranterfahrungen aus. Der endgültige Auslöser aber war ein Gastro-Artikel des Journalisten David Lynch: der Bericht über seine ersten Wochen bei der New Yorker Restaurantinstitution „Babbo“. Der Artikel war zum Brüllen – das voll aus dem Leben gegriffene Bild des hektischen, verrückten und romantischen Daseins eines Topsommeliers in der Stadt, die niemals schläft. Und dann das Foto: der vollendet modellierte Kopf mit in der Sonne leuchtendem Haar, der perfekte, bis ins kleinste Detail makellose Maßanzug, das Glänzen seines Laguiole-Kellnermessers, während er im vorbildlich gepflegten Grün eines Gartens eine Parade alter Barolos öffnet. Der Stil, die Klasse, die Eleganz, das Prestige, die Romantik … Ich wollte wie er sein. Daran erinnere ich mich bis heute.
Ich machte es auf die Old-School-Art. Das war um 2002, also noch bevor das Internet seine heutige Bedeutung hatte (Mann, ich klinge schon wie ein Oldie) und bevor es den Coravin gab (mehr dazu später). Ich kaufte Kiste um Kiste Wein, so wie ein Jurastudent seine Bibliothek aufbaut. Ich wusste, dass ich mit Burgunder anfangen musste, weil sogar die Profis über diese Weine immer mit gesenkter Stimme sprachen; entweder aus zu großer Ehrfurcht oder aus Angst, das Thema direkt anzugehen. Irgendwie schien niemand wirklich etwas davon zu verstehen. Es war mehr ein Mythos als etwas, womit man sich beschäftigte. Aber wenn es sonst keiner tat, musste ich eben derjenige sein, der das Schwert aus dem Stein zieht. So kam ich zwischen meinem frühmorgendlichen Job als Kellerratte und meiner Abendschicht in einem lebhaften Bistro in der Innenstadt nach Hause, machte mir etwas zu essen und vergrub mich in die Bücher. Umgeben von Landkarten, Büchern, Grafiken und Notizen öffnete ich drei bis fünf Burgunder gleichzeitig, um mich den feinen Nuancen verschiedener Volnay-Erzeuger, winziger Wetterunterschiede bei den Jahrgängen dieser Erzeuger und allen möglichen anderen Details, die es zu sezieren gab, zu widmen. Ich schrieb Hefte über Hefte mit Verkostungsnotizen voll, löste immer das Etikett ab und klebte es auf die linke Seite; notierte wo, wie, wann, mit wem und zu welcher Speise ich den Wein geöffnet hatte ... und schrieb seitenweise meine Eindrücke nieder. Alles, was ich roch, schmeckte oder fühlte, wurde festgehalten. Natürlich bemerkte ich, wie sich Muster herausbildeten. Ich stellte fest, dass ich bestimmte Beschreibungen wiederverwendete, wenn ich bestimmte Weinstile probierte, und daraus wurden die Bausteine meines eigenen Weinvokabulars. Und ich bemerkte auch, als jemand mit musikalischem Hintergrund und einem Faible für Literatur, dass meine Beschreibungen anders waren als das, was in meinen Referenzbüchern stand. Das war richtig erfrischend. Und je älter ich wurde, je mehr Erfahrung ich sammelte und Interessen entwickelte, umso farbiger und komplexer wurden meine Gedanken. Und nun, fast zwei Jahrzehnte, drei Kontinente und eine Handvoll Kerben mit Michelin-Sternen auf meinem...