Eine Welt der Bücher und der Musik
«Vielleicht könnten Sie auch von Ihrem Vater sprechen, von seinem Arbeitszimmer, seinen Büchern. Das alles hat Sie ja tief beeindruckt während Ihrer Kindheit.» Als Franz Kreuzer in einem langen Gespräch 1979 Popper auch über sein Elternhaus befragte, blieb dessen Antwort zurückhaltend. Ja, das ist etwas schwierig, wenn ich darauf zurückgehen soll … Mein Vater hat viel gearbeitet, sowohl in seinem Beruf wie auch außerhalb. Er hat auch sehr viel gelesen, hauptsächlich Geschichte. Er hat eine große Bibliothek gehabt, die auf mich, schon bevor ich lesen konnte, großen Eindruck gemacht hat – mit einer Stiege mit Geländer, die zu den höheren Regalen der Bibliothek geführt hat.
Dr. Simon Siegmund Carl Popper hatte, wie seine beiden Brüder, an der Wiener Universität Jura studiert und arbeitete als Rechtsanwalt. In einer geräumigen bürgerlichen Wohnung im Herzen Wiens (bis etwa 1920 Freisingergasse 4, später Bauernmarkt 1), mit Blick auf das Riesentor des Stephansdoms, befand sich seine Kanzlei. Er hatte sie übernommen vom letzten liberalen Wiener Bürgermeister, Dr. Carl Grübl, dessen Mitarbeiter und Freund er gewesen war. Angestrengt und erfolgreich arbeitete er in seinem Beruf und beeindruckte den Sohn mit seinem juristisch geschulten logischen Denkvermögen und seiner klaren, einfachen und gradlinigen Rednergabe. Er gehörte, in einer (seit 1897) von der Christlich-Sozialen Partei regierten Stadt, zu jenen kritischen intellektuell-freisinnigen Persönlichkeiten, deren patriarchalische Verkehrsformen aufgeschlossen waren für neue kulturelle, soziale und politische Entwicklungen.
Auch wenn es ihm widerstrebte, seine unbestrittene Autorität als Familienvater für die politische Erziehung seines Sohnes einzusetzen, so vermittelte er ihm doch eine aufgeklärt-liberale Grundhaltung, die sich durch den autokratischen Pomp der habsburgischen Hausmacht nicht blenden ließ. Er war sicher kein Anhänger der damaligen Regierung, sondern ein Verfechter des radikalen Liberalismus eines John Stuart Mill. Der klerikale Konservatismus der kaiserlichen und königlichen Doppelmonarchie, mit dem das zunehmende gesellschaftspolitische Chaos des Vielvölkerreichs nur notdürftig bewältigt werden konnte, provozierte seine ausgeprägt satirische Spottlust. Eine glänzende politische Satire, «Anno Neunzehnhundertdrei. In Freilichtmalerei», die mein Vater unter dem Namen Siegmund Karl Pflug geschrieben hatte, wurde beim Erscheinen beschlagnahmt und blieb bis 1918 auf dem Index der verbotenen Bücher.
Deutlicher als in seinem Beruf zeigte sich diese väterliche Haltung außerhalb: Als Mitglied einer illegalen Freimaurer-Loge, der «Humanitas», deren «Meister vom Stuhl» er jahrelang war, engagierte er sich besonders für Obdachlose und elternlose Kinder. Erst viele Jahre später hat sein Sohn davon erfahren. Aber es ist zu vermuten, dass ihm schon früh durch seinen Vater der Blick geschärft wurde für das fürchterliche Elend in Wien, diese düstere Kehrseite der industriellen Expansion und der angehäuften großen Vermögen während der Gründerzeit. Dieses Problem beschäftigte mich so stark, daß ich fast nie ganz davon loskam. Nur wenige Menschen, die heute in einer der westlichen Demokratien leben, wissen, was Armut zu Beginn dieses Jahrhunderts bedeutete. Männer, Frauen und Kinder hungerten und litten unter Kälte, Obdachlosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Aber wir Kinder konnten nicht helfen. Wir konnten nicht mehr tun, als ein paar Kreuzer zu erbitten, um sie den Armen geben zu können.
Noch stärker aber scheinen den jungen Karl die unzähligen Bücher der väterlichen Bibliothek beeindruckt zu haben. Sie waren bereits ein wesentlicher Teil seines Lebens, lange bevor er sie lesen konnte. Überall in der Wohnung gab es Bücher (mit Ausnahme des Speisezimmers, in dem ein Konzertflügel stand), ein noch unbegriffener und unzugänglicher Schatz, über den die Erwachsenen wie Zauberer verfügen konnten. Geheimnisvoll war hier alles aufbewahrt, was es über die Welt zu wissen gab. Der kindliche Wunsch, lesen zu können, muss mächtig gewesen sein; und es überrascht nicht, dass Popper zurückblickend verallgemeinernd feststellt: Lesen zu lernen, und, in einem geringeren Grad, schreiben zu lernen, sind natürlich die wichtigsten Ereignisse in unserer intellektuellen Entwicklung. Es gibt nichts, was damit zu vergleichen wäre. Immer wird er seiner ersten Lehrerin, Emma Goldberger, dankbar sein, weil sie ihm den Zugang in eine Welt der Bücher öffnete.
Für jeden Menschen gibt es Dinge, die dauerhaftere Gewohnheiten in ihm entfalten als alle anderen. Poppers Erinnerungen an den Einfluss seines Elternhauses beginnen nicht zufällig mit einem Bild, das wie eine Kostbarkeit im Rückblick auf die Tatsachen seines frühen Lebens aufbewahrt ist: die große Bibliothek des Vaters. Sie bezeichnet den Ort, an dem er zuerst sich seiner selbst als geistiges Wesen bewusst wurde. Während es ihm schwerfällt, für seine subjektiven Erinnerungen an die Eltern einen persönlichen Ausdruck zu finden, kann er sich mühelos in den väterlichen Büchern zurechtfinden, die seiner kindlichen Neugier einen faszinierenden Stoff lieferten und für sein ganzes Leben eine überwältigende Rolle spielten. Ich besitze noch seinen Platon, Bacon, Descartes, Spinoza, Locke, Kant, Schopenhauer und Eduard von Hartmann. Diese Bücherwelt wurde der unerschöpfliche Fundus, aus dem sein Denken Anregung und Energie beziehen konnte. In seinem Spätwerk wird er ihr ein großartiges Denkmal errichten: Geschriebenes ist dem Gesprochenen vorzuziehen, und Gedrucktes ist noch besser. Denn nirgendwo anders sind jene «objektiven Gedanken und Probleme» besser greifbar, über die es kritisch zu argumentieren gilt, Objekte einer eigenständigen Welt 3, die die physikalische Welt 1 und die psychische Welt 2 transzendiert.
Auch Poppers Mutter gewinnt ihre Kontur zuallererst durch das Medium eines Buches. Das erste Buch, das einen großen und bleibenden Eindruck auf mich machte, wurde meinen beiden Schwestern und mir (ich war das jüngste von drei Kindern) von meiner Mutter vorgelesen. Popper war fünf Jahre alt, als er, zusammen mit Dora und Annie, durch die Stimme seiner Mutter jenes Buch kennenlernte, das meinen Charakter entscheidend beeinflußte. Es war die «Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen» der schwedischen Dichterin Selma Lagerlöf. Viele, viele Jahre lang las ich das Buch mindestens einmal im Jahr; und im Lauf der Zeit las ich mehrere Male wahrscheinlich alles, was Selma Lagerlöf geschrieben hat. Noch im Alter von achtzig Jahren bedankte er sich für diese frühe Leseerfahrung mit einem späten Liebesgeständnis. Ich verliebte mich in die Selma Lagerlöf und in ihre Bücher.
Der Vater war Hüter der Bibliothek. Die Mutter dagegen war ursprünglich Stimme. Sie las ihren Kindern Geschichten vor und öffnete das kindliche Gemüt für den verführerischen Zauber der Literatur. Eine noch größere Rolle aber spielte sie für ein anderes dominierendes Thema in Poppers Leben: die Musik. Denn sie war es, die ihn hören lehrte auf jene Welt musikalischer Schöpfungen, die mir so wunderbar und übermenschlich erscheint und mehr als Literatur und bildende Kunst sein Innerstes berührt. Besonders die Musik von Bach, Haydn, Mozart und Schubert evozierte seine grenzenlose Bewunderung. Mögen ihm Bücher kulturell auch als viel wichtiger erscheinen, so geht ihm doch nichts so nahe wie die großen Werke der klassischen Musik. Und so kennzeichnend für seine Autobiographie es ist, dass die Bücher in der elterlichen Wohnung ihm den Anlass boten, über den Vater zu schreiben, so charakteristisch ist, dass auch die Mutter in Poppers Erinnerungen erst Profil gewinnen konnte, als er auf die Musik zu sprechen kam.
Jenny Popper, geborene Schiff, deren Eltern Gründungsmitglieder der berühmten «Gesellschaft der Musikfreunde in Wien» gewesen waren, war sehr musikalisch. Sie spielte wunderschön Klavier auf dem Bösendorfer Konzertflügel im bücherleeren Speisezimmer. Musikalität scheint bei den Schiffs familiär verankert gewesen zu sein. Die Mutter der Mutter (eine geborene Schlesinger, zu deren Familie Bruno Walter gehörte); die Mutter Jenny; zwei ihrer Schwestern, die sehr gut Klavier spielten; einer ihrer Brüder, der ein ausgezeichneter Geiger war; zahlreiche Cousins und Cousinen Poppers: sie alle waren musikalisch sehr begabt. Es scheint, daß die Musik eines der Dinge ist, die in der Familie liegen; aber es ist rätselhaft, warum das so ist. Angeregt durch diese hervorstechende Familienähnlichkeit, nahm auch der junge Karl einige Violinstunden und lernte, Klavier zu spielen.
Später, etwa achtzehn Jahre alt, spielte er ernsthaft mit dem Gedanken, Musiker zu werden, und trat dem von Arnold Schönberg präsidierten «Verein für musikalische Privataufführungen» bei. Doch die moderne, zeitgenössische Musik von Schönberg, Berg, von Webern, Bartók und Strawinsky fand bei ihm nicht jenen beglückenden Widerhall, der ihn beim Hören der großen klassischen Musikwerke durchströmte. Das Hauptziel des wahren Künstlers ist die Vollkommenheit des Werkes, nicht der subjektive Ausdruck seiner Stimmungen oder das formalistische Experiment im Bemühen, modern und originell zu sein. Auf dem...