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E-Book

Keine Angst vor Anakondas

Die unglaublichsten Begegnungen in der Wildnis

AutorLutz Dirksen
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl301 Seiten
ISBN9783838725031
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR

Tierforscher Lutz Dirksen nimmt uns mit auf eine Expedition: Zu den Stachelrochen in Australien, den Grizzlys in Alaska, den Quastenflossern in der Tiefe vor der afrikanischen Küste, den Anakondas in Südamerika bis hin zu den Vielfraßen in der finnischen Tundra. Für ihn geht das Abenteuer erst los, wenn einem die Wildnis so richtig auf den Pelz rückt. Dirksen erzählt Geschichten mit Gänsehautfaktor, die die Anmut, die Geheimnisse und die Gefahren der Wildnis spürbar machen.

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Leseprobe

1


Nachtwache mit Anakonda


03:04 Uhr

Sie hat endlich Ruhe gegeben. Der vor mir liegende massige Leib atmet tief ein und aus. Ich denke, der mit schwarzen Punkten versehene, überdimensioniert wirkende Feuerwehrschlauch sammelt neue Kräfte. Das ist gut so, das ermöglicht es mir, mich in Ruhe auf meine Nachtwache vorzubereiten. Ich kippe viel zu viel Kaffeepulver und etwas Zucker in meinen Becher, gieße kaltes Wasser darüber und rühre um. Ich habe noch eine lange Nacht vor mir, in der ich es mir niemals verzeihen würde, einzuschlafen. Neben den dreibeinigen Campinghocker lege ich den neuen Roman von Frank Schätzing, nehme meinen Laptop auf den Schoß und klappe ihn auf.

Erst vor wenigen Minuten hat mich mein Kollege Jörg geweckt, damit ich die letzte Nachtwache übernehme. Mit einem Baumwollsack über ihrem Kopf liegt die Anakonda nun friedlich zusammengerollt vor mir. Am Abend war sie noch sehr unruhig und versuchte immer wieder, sich aus dem Staub zu machen. Es war nervenaufreibend für uns und kostete viel Kraft, diesen Koloss ein ums andere Mal in die Mitte unseres Camps zurückzuverfrachten.

Während ich mich einrichte, erzählt Jörg von den drei Stunden seiner Nachtwache. Die Riesenschlange wollte trotz des Baumwollbeutels mehrfach wegkriechen. Ich sinniere kurz darüber, wie geschlaucht der Schlauch vor mir wohl ist, und frage Jörg, wie er sie daran hindern konnte, ganz auf sich allein gestellt.

Er gähnt herzhaft und sagt: »Indem ich ihr die Hand auf den Kopf gelegt habe!«

Das Koffein wirkt noch nicht. Ich bin noch zu verschlafen, um einen möglichen Scherz zu erkennen, und plappere ihm verständnislos nach: »Du hast ihr also die Hand aufgelegt?«

»Ja!«

»Und sie ist einfach liegen geblieben?«

»Ja.«

Ich schaue ihn an und kann immer noch keinen Witz ausmachen. Endlich lässt er sich zu einer Erklärung herab: »Die Anakonda spürte dann, dass ich noch da war, und hat es aufgegeben, sich verdrücken zu wollen.«

So einfach soll es sein, die riesige Schlange zum Bleiben zu bewegen? Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob Jörg sich einen Scherz mit mir erlaubt: »Mach das mal vor, ich will das sehen!«

»So!«, sagt Jörg und legt seine Hand auf den Kopf der Schlange.

Die Schlange bewegt sich etwas, bleibt aber liegen. Das überzeugt mich – vorläufig.

»Und sie hat dabei nicht versucht zu beißen?«, frage ich.

»Nein.«

Ich bin erstaunt, aber nicht über die spärliche Reaktion der Schlange, sondern darüber, dass sich Jörg so kurzfasst. Derart wortkarg habe ich ihn noch nie erlebt. Allerdings habe ich auch noch nie um drei Uhr nachts mit ihm gesprochen. Es ist bestimmt die Müdigkeit, die ihn so einsilbig werden lässt. Das ist vielleicht auch gut so, denke ich. Er wird sich gleich schlafen legen, und ich kann in Ruhe aufschreiben, was wir gestern alles erlebt haben. Nach Tagesanbruch werde ich ohnehin nicht dazu kommen, denn Hektik ist vorprogrammiert. Ich werde die Anakonda vermessen und wissenschaftlich untersuchen, während die Kameras auf uns gerichtet sind.

Ich spüle mehr von der etwas zähflüssigen Brühe in meinem Becher hinunter, um die Wirkung des Koffeins zu beschleunigen.

»Schmeckt’s?«, fragt Jörg grinsend. Ich nicke, obwohl es nicht stimmt. Das war vielleicht ein Fehler, ich hätte besser den Kopf schütteln sollen, denn nun öffnet er die Dose und lässt Kaffeepulver in seine Tasse rieseln. Es ist eine fließende Bewegung, mit der er Wasser darüberkippt und umrührt. Er setzt sich neben mich auf einen Holzstamm. Das wird wohl nichts mit dem Schreiben, denke ich und behalte recht, denn nun werden seine Sätze länger.

»Du bist echt ziemlich verrückt, ausgerechnet mit diesen grottigen Ungeheuern wissenschaftlich zu kuscheln. Wenn mich meine Vögel mal zwacken, umarmen sie mich nicht gleich so heftig wie deine Anakondas.« Am Tag zuvor hatte er eine Ahnung davon bekommen, was passieren kann, wenn man einer großen Anakonda zu nahe kommt. Jörg spielt darauf an, dass Riesenschlangen ihre Beute umschlingen und erwürgen.

»Welcher Teufel hat dich bloß geritten, dich auf diese Viecher einzulassen? Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, als du gestern zu der Anakonda ins Wasser gesprungen bist?«

»Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, es ging alles viel zu schnell«, antworte ich ausweichend.

»Wenn ich mir unsere Aktion von gestern durch den Kopf gehen lasse, hm, das war nicht nur leichtsinnig, das war ein atemberaubender Irrsinn! Was wäre passiert, wenn die Anakonda uns ernsthaft angegriffen hätte?«

Ich staune, Jörg wird nachträglich vom Wenn und Aber eines bestandenen Abenteuers geplagt. Darum geht es also, denke ich. Er will Absolution für seine ausgestandene Angst. Oder steht er unter Schock? »Das kann ich dir auch nicht sagen. Sicher, der Kampf hätte für uns weit schlimmer ausgehen können, wenn sie einen von uns gebissen und umschlungen hätte. Hat sie aber nicht. Darüber zermartere ich mir lieber nicht das Hirn.«

Wir schweigen jetzt beide und brüten vor uns hin.

Irgendwie hat Jörg mich angesteckt, denn nun beginne ich mich selber zu fragen, ob es zu verantworten war, dass wir uns gestern Hals über Kopf in ein gefährliches Abenteuer gestürzt haben. Und ich weiß, dass die Eindrücke des vergangenen Tages – so wie vergleichbare frühere – noch oft auf der Leinwand meines Kopfkinos abgespult werden …

Von Anakondas gepackt

»Mit denen stimmt etwas nicht!« Es war Frühling 1995, als Professor Wolfgang Böhme diesen Satz zu mir sprach. Er ist Herpetologe und hat im Zoologischen Forschungsinstitut und Museum Alexander Koenig in Bonn eine der bedeutendsten Amphibien- und Reptiliensammlungen Deutschlands aufgebaut. Wenn mir jemand bei meinem Problem würde helfen können, dann er, zumal er der Betreuer meiner Diplomarbeit über die Reptilien Boliviens war.

Er hatte bereits eine scheinbar endlos lange Zeit auf die Fotos gestarrt, die ich ihm unter die Nase hielt. Seinen Kopf hielt er ein wenig schief, während sein viel gerühmtes fotografisches Gedächtnis arbeitete, wie immer schnell und präzise. Dass er diesen Satz von sich gab, war schon einmal gut. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Ich hatte befürchtet, mich gnadenlos zu blamieren. Tief in den Eingeweiden des Museums hatte ich mich tagelang mit einem Problem herumgeschlagen: Ich brütete über den Fotos zweier Anakondas. Es war zum Mäusemelken, ich hatte die gesamte Fachliteratur aus der Bücherei des Museums durchgearbeitet, um immer wieder an denselben Punkt zu kommen: Es war mir einfach nicht möglich, die Anakondas zu bestimmen. Ich hatte die Fotos im Herbst 1994 für meine zoogeografische Diplomarbeit in Bolivien gemacht, mich dort aber nicht weiter mit den Riesenschlangen befasst. Woher hätte ich wissen sollen, was man alles nicht weiß? Ich hätte es nicht für möglich gehalten, welch immense Wissenslücken es bei diesen spektakulären Großreptilien bislang noch gab. Die Anakonda ist immerhin die größte Schlange der Erde!

Die beiden Exemplare hatten meinen Weg rein zufällig gekreuzt. Meine erste Anakonda lag mehrfach überrollt, blutig und zerquetscht im Straßenstaub. Ein überaus trauriger Augenblick im Leben eines angehenden Reptilienforschers. Ich hatte sie zunächst nicht einmal als Schlange wahrgenommen, als ich mit dem Jeep eine Vollbremsung machte, um nicht auch noch über den großen, langen Gegenstand auf der Piste zu brettern. Sie war etwas über drei Meter lang. Ich wusch ihr dann den Schmutz vom Kopf, legte sie schlangenförmig neben die Straße und schoss einige Fotos.

Ein paar Tage später bremste ich erneut abrupt ab. Emsige Tätigkeiten folgten: Ich riss die Tür des Jeeps auf und streifte mir im Hinauslaufen meinen Fanghandschuh für größere Schlangen über die Hand. Eine knapp zwei Meter lange Anakonda überquerte gerade die Piste. Fast hätte ich sie überfahren, beherzt griff ich nun zu. Natürlich wusste ich, dass Anakondas nicht giftig sind. Ich umfasste ihren Nacken, ihre Beißversuche blieben erfolglos. Stattdessen wickelte sie sich um meinen Arm und übte kräftig Druck darauf aus. Sie dankte mir mein Interesse, indem sie ein äußerst übel riechendes weißes Analsekret abließ. Noch lange nachdem ich die Anakonda wieder freigelassen hatte, hielt ich deshalb den Arm aus dem Fenster des Jeeps.

Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese zwei anscheinend gewöhnlichen Anakondas die Initialzündung zu meiner Doktorarbeit sein würden: Das Thema Anakondas hatte mich gepackt! Erst konnte ich es nicht fassen, dass weder die Verbreitung der einzelnen Arten annähernd erforscht war, noch, wie viele Arten überhaupt existieren. Die beiden Anakondas aus Bolivien stellten sich sogar als neue Art heraus.

Grundlagenforschung findet zum größten Teil in den Forschungseinrichtungen dieser Welt statt. Viele Fragestellungen in Bezug auf die Anakondas ließen sich jedoch nur beantworten, indem ich zu ihnen nach Südamerika reiste. Es ist, jenseits von Fachbüchern und Computern, immer diese unmittelbare Nähe zu ihnen in schlammigen Flüssen und Seen gewesen, die für mich den besonderen Reiz meiner Forschungsprojekte ausgemacht hat: Ich bin dann mitten unter ihnen im wilden Amazonien, hinterlasse meine Fußabdrücke in ihren schlangenförmigen Spuren, trinke das Wasser, in dem sie leben.

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