WIE SICH KIEFERPROBLEME AUF DEN KÖRPER AUSWIRKEN KÖNNEN
Die craniomandibuläre Dysfunktion, kurz CMD, ist ein sehr vielschichtiges und komplexes Geschehen mit einer Vielzahl spürbarer Beschwerden, die weit über Zähneknirschen oder Kieferknacken hinausgehen. Letztlich können Symptome in Körperregionen auftreten, die vom Kauapparat weit entfernt liegen. Das folgende Kapitel gibt Ihnen einen Überblick, welche Symptome bei einer CMD auftreten können.
Wer ist betroffen?
CMD steht für craniomandibuläre Dysfunktion. Wie relativ üblich in der Medizin, werden Beschwerden, bei denen nicht 100 Prozent klar ist, was sich wirklich ursächlich dahinter verbirgt, als »Dysfunktion« einer Struktur beschrieben oder als »Syndrom« zusammengefasst. So ist es auch hier. Insofern beschreibt die Bezeichnung streng genommen lediglich eine Funktionsstörung zwischen Cranium, dem lateinischen Wort für Schädel, und der Mandibula, dem Unterkiefer. Diese craniomandibulären Verbindungen sind also ganz einfach unsere Kiefergelenke. So erklärt, hört sich craniomandibuläre Dysfunktion fast schon nach einer lapidaren Problematik an, doch es wäre ein fataler Irrtum, dies so zu sehen.
Es ist zwar relativ schwierig, einheitliche Zahlen zur Häufigkeit der CMD in Deutschland zu finden, aber eines ist sicher: Von CMD betroffen zu sein ist ein vielfach geteiltes Schicksal. Vermutlich liegt die Zahl irgendwo zwischen 7 und 16 Millionen, wobei man von einer ziemlich hohen Dunkelziffer nicht diagnostizierter Personen ausgehen kann. Die Gesellschaft für Zahngesundheit, Funktion und Ästhetik (GZFA) geht davon aus, dass mittlerweile mindestens 20 Prozent der Bevölkerung von behandlungsbedürftigen CMD-Symptomen betroffen sind. Gut ein Drittel knirscht und presst nachts mit den Zähnen, was Funktionsstörungen im Kausystem auslösen oder sogar verstärken kann.
Beschwerdefreiheit als Ausnahme
Manche Erhebungen deuten darauf hin, dass in Deutschland bis zu knapp 80 Prozent der CMD-Patienten an schmerzhaften Beschwerden, wie beispielsweise Kopf- oder Schulterschmerzen, leiden. Diesen Zahlen nach ist es also sogar nur einem kleinen Anteil vergönnt, ohne unangenehme Folgen mit ihrer CMD zu leben.
Besonders oft trifft es Frauen
Auch wenn es eigentlich wenig tröstlich ist: Als Frau mit CMD befinden Sie sich zumindest in zahlreicher Gesellschaft. Denn wie in internationalen Studien gezeigt werden konnte, ist die Zahl der Frauen mit einer Fehlregulation im Kausystem signifikant höher als die der Männer. Die Floskel »geteiltes Leid ist halbes Leid« lässt sich in diesem Fall wohl leider schwer anwenden. Allerdings finden Frauen immerhin schneller eine weibliche Mitstreiterin, wenn sie nach einer gleichgeschlechtlichen Unterstützung für einen Maßnahmenplan in Sachen CMD suchen. Tatsächlich ist es enorm hilfreich, wenn Sie bei Übungen und gegebenenfalls bei Veränderungen im Lebensstil jemanden haben, um sich gegenseitig zu begleiten, zu unterstützen und zu motivieren.
Laut dem Statistikportal Statista gibt es bei Seniorinnen und Senioren ein überdurchschnittliches Auftreten von Kiefergelenkreiben und Druckschmerzen im Kiefergelenk bei Berührung. Auch Einschränkungen in der Unterkieferbeweglichkeit sind ein häufigeres Problem älterer Menschen. Interessant ist allerdings, dass trotz der Zunahme der klinischen Befunde die subjektiven Beeinträchtigungen bei den Seniorinnen und Senioren nicht zunehmen. Man geht heute davon aus, dass mit zunehmendem Alter die Anpassungsfähigkeit des Kausystems ansteigt und die älteren Patientinnen und Patienten eine höhere Toleranz im Bereich der Muskel- oder Kiefergelenkfunktion aufweisen.
Wie entsteht eine CMD?
Tatsächlich gleicht die Ursachensuche bei der CMD einer Detektivarbeit, denn die Fehlregulation kann alle direkt oder indirekt am Kauapparat beteiligten Strukturen umfassen. Die Funktionsstörung kann in den Kiefergelenkstrukturen selbst, durch den Aufbiss der Zähne (Okklusion) oder – relativ häufig – in der Kaumuskulatur entstehen. Doch damit nicht genug. Auch Haltungsabweichungen weiter unten liegender Körperbereiche, wie der gesamten Wirbelsäule oder des Beckens, können verantwortlich sein. Letztlich umfasst der Bereich, in dem die Ursachen der CMD liegen können, den gesamten Körper bis hinunter zu den Füßen. Häufig ist auch ein Zusammenspiel unterschiedlicher Störfaktoren für die Beschwerden verantwortlich, wobei gerade dieses gegenseitige Anstacheln ein wahrer Teufelskreis ist, der letztendlich die wahre Ursache chamäleonartig verschleiert. Entsprechend dem ursächlichen Entstehungsort wird die Situation entweder als ab- oder aufsteigend bezeichnet.
Absteigend ist die Bezeichnung, wenn der Auslöser der Beschwerden oben im Kausystem, also den Kaumuskeln, den Kiefergelenken oder dem Aufbiss, liegt und sich auf untere Körperbereiche auswirkt. Interessant ist, dass sich das Leben dieser Menschen meist auch mehr im oberen Körperbereich, nämlich im Kopf, abspielt. Das heißt, sie sind eher Denker und Sprecher.
Aufsteigend ist die Bezeichnung, wenn der Ursprung aus anderen, oft tiefer liegenden Strukturen, wie beispielsweise einer Halswirbelsäulenblockade oder einem Beckenschiefstand, herrührt und diese folglich die Störung im Kausystem bedingt. Bei diesen Personen stehen meist auch eher die unteren Körperbereiche im Vordergrund, die Bewegung ins Leben bringen. Sie sind Macher.
Symptome und Spätfolgen der CMD
Aufgrund der weitreichenden Verknüpfungen bleibt eine CMD oft unerkannt. Oder schlimmer: Es werden zwar Kiefergelenkstörungen festgestellt, die jedoch unbeachtet bleiben, da sie nicht mit den Beschwerden in häufig auch entfernter liegenden Körperstrukturen in Zusammenhang gebracht werden. Eine Auswahl typischer CMD-Symptome finden Sie in der Abbildung.
Dies sind typische Symptome und Beschwerden, hinter denen sich ursächlich eine CMD verbergen kann.
Wenn in solchen Fällen eine CMD zugrunde liegt, diese aber übersehen, unzureichend behandelt oder sogar komplett ignoriert wird, so kann es über die Zeit zu Spätfolgen kommen. Diese können bis zu therapieresistenten, chronischen Multierkrankungen reichen, bei denen die Betroffenen dann eine jahrelange Ärzteodyssee durchlaufen, da keiner mehr eine Kauapparatsstörung als ursprünglichen Auslöser im Blick hat. Mögliche Spätfolgen und Langzeitauswirkungen sind beispielsweise:
Kiefergelenkarthrose mit Gelenksteifheit und eventuell Kiefergelenkarthritis
Zahnschäden durch starke Abnutzung des Zahnschmelzes (Abrasion)
Haltungsschäden wie Beckenschiefstand und Verkrümmungen der Wirbelsäule (Skoliose)
chronische Nacken-, Rücken- und Gelenkschmerzen bis hin zu Fibromyalgie
Bandscheibenvorfälle
Nervenreizungen (zum Beispiel Trigeminusneuralgie)
Karpaltunnelsyndrom
Organstörungen (zum Beispiel Verdauungs- und Herzfunktionsstörungen)
Abgeschlagenheit, Leistungs- und Konzentrationsabfall
Warum Betroffene selbst aktiv werden sollten
Grundsätzlich kann man sagen: Je länger ein gesundheitliches Problem besteht, desto länger wird die Lösung desgleichen dauern. Das können Sie sich wie in anderen Lebensbereichen vorstellen – schieben Sie ein Problem vor sich her, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es nach und nach zu mehr Verstrickungen kommt, das Problem immer größer wird und oft sogar noch weitere Probleme nach sich zieht. Nur selten hilft es, problematische Situationen im Leben einfach auszusitzen. Das gilt für die CMD umso mehr: Wer hier nicht bereit ist, auch eigenverantwortlich etwas an seiner Situation zu verändern, darf kaum mit Spontanheilungen rechnen. Vorbeugen beziehungsweise rechtzeitig handeln ist hier also ausgesprochen sinnvoll, um Langzeitauswirkungen auf die Gesundheit zu verhindern.
Glaubt man Untersuchungen, so sind 80 bis 90 Prozent der Beschwerden des Muskel-Skelett-Apparats durch Störungen der Schädel-Kreuzbein-Verbindung, des sogenannten craniosacralen Systems (Seite 14), verursacht. Und der Großteil dieser Störungen ist wiederum auf den Kauapparat zurückzuführen. Dies verdeutlicht den zunächst sicherlich unerwartet großen Einfluss dieses gemeinhin wenig beachteten Körperbereichs auf den gesamten Organismus und seine enorme Wichtigkeit.
Das craniosacrale System
Das craniosacrale System bezeichnet anatomisch die Verbindung vom Schädel (lateinisch Cranium) bis hinunter zum Kreuzbein (lateinisch Sacrum). Verbunden sind diese beiden knöcherigen Strukturen über einen faserigen Schlauch, die Rückenmarkshaut. Das ist eine das Rückenmark umgebende Verlängerung der Hirnhaut, die sowohl oben an der Schädelbasis als auch am oberen Halswirbel ansetzt, in der Wirbelsäule ohne weitere Verhaftungen nach unten verläuft und erst wieder am Kreuzbein befestigt ist. Innerhalb dieses Systems befindet sich die Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit, auch Liquor genannt, die das Nervengewebe mit wichtigen Botenstoffen zur Kommunikation des Körpers mit sich selbst umspült.
Der durch das sanfte Pulsieren dieser Flüssigkeit und die minimalen Bewegungen der 22 Schädelknochen entstehende Rhythmus wird in der Osteopathie »craniosacraler Rhythmus« genannt. Wie eine Welle breitet er sich im gesamten Organismus bis hin in jede Zelle des Körpers aus. Der craniosacrale Rhythmus ist bereits im Fötus vorhanden, weshalb er auch als primäre Atmung bezeichnet wird, im Vergleich zu unserer...